Faust als literarische Figur

Faust als literarische Figur

Der Fauststoff gehört zu den am meisten verbreiteten Stoffen in der europäischen Literatur seit dem 16. Jahrhundert. Das lückenhafte Wissen über den historischen Johann Faust und sein spektakuläres Ende begünstigten Legendenbildungen und ließ Schriftstellern, die sich mit seinem Leben befassten, einigen Spielraum. Eigenschaften des Fauststoffs, die in den unterschiedlichsten Versionen wiederkehren, sind Fausts Erkenntnis- oder Machtstreben, sein Teufelspakt und seine erotischen Ambitionen.

Während sich in der Populärkultur ältere Vorstellungen von Faust als Narr und Scharlatan hielten, geschah seit dem 18. Jahrhundert eine literarische Aufwertung des Fauststoffs. Der menschliche Zwiespalt zwischen der Kraft des Glaubens und der Sicherheit wissenschaftlicher Erkenntnis wurde zu einem Hauptthema. Faust ist der über seine Grenzen hinaus strebende Mensch, der im Konflikt zwischen egozentrischer Selbstverwirklichung und sozialer Anerkennung steht.

Inhaltsverzeichnis

Faust als literarische Figur

Vorbilder

Unter dem Namen des historischen Johann Faust verbinden sich mehrere antike, mittelalterliche und neuzeitliche Figuren: Prometheus (der den Göttern Konkurrenz macht), Pygmalion (der Künstler, der sein Kunstwerk lebendig machen will), Allegorien der Todsünde Hochmut (die im mittelalterlichen Theater zu sehen waren, vgl. Vice), Don Juan (der überhebliche Frauenheld) oder die Figur des Dottore aus der Commedia dell'Arte (der gelehrte Schwätzer). Auch der biblische Ijob mag zu den Vorbildern gehören.

Renaissance und Barock

Titelseite des Volksbuchs
Fassung von 1695
Bearbeitung des „Faust“-Stoffes aus dem Jahre 1726 von einem „Christlich-Meynenden“

Zauberbücher (Grimoires) enthielten seit 1500 sogenannte Höllenzwänge (Zaubersprüche), die einem Johann Faust zugeschrieben wurden. Da der Wunderglaube abnahm, wurde das Interesse gegenüber Faust ein literarisches. Als Sinnbild eines Menschen, der sich aus mittelalterlicher Demut befreit, dessen Selbstbewusstsein aber in Hybris umschlägt, wurde er zu einem beliebten Vanitas-Symbol. In aller Regel blieb er dabei ein Narr oder Bösewicht.

Ein erstes umfassendes Werk, das sich mit dem Leben Johann Fausts befasste, erschien im Jahre 1587. Der Buchdrucker Johann Spies veröffentlichte die Historia von D. Johann Fausten, auch bekannt als Volksbuch. Es enthält eine Vielzahl von Geschichten und Anekdoten, viele mit legendenhaften Elementen. Spies berichtet von Fausts Theologie- und Medizinstudium, seiner Beschäftigung mit der Zauberei und von seinem Bündnis mit dem Teufel, der Faust schließlich mit in die Hölle nimmt. Deutlich ist die christliche Einstellung des Autors zu erkennen. Das Buch vermittelt ein negatives Faustbild und eine Ermahnung zu gottesfürchtigem Leben. Es erlangte große Bekanntheit. Zwischen 1588 und 1611 wurde es ins Englische, Niederländische, Französische und Tschechische übersetzt. Der Fauststoff gelangte so auch ins Ausland.

1589 schuf der Engländer Christopher Marlowe eine dramatisierte Version der „Historia“. Die tragische Historie vom Doktor Faustus enthält all ihre wesentlichen Stoffelemente. Die Faustfigur trägt aber deutliche Züge einer Renaissancegestalt. Faust verlangt anmaßend die Macht über die Welt und verachtet die Theologie und ihre Jenseitsorientierung. Er verschreibt sich der Magie und dem Teufel, was auch hier zu seinem bösen Ende führt. Trotzdem ist bei Marlowe deutlich die Sympathie für seinen Protagonisten erkennbar. Es ist die erste Faustbearbeitung, die der Figur des Faust positive Aspekte abgewinnt.

Marlowes Drama wurde um 1600 von englischen Schauspielergruppen nach Deutschland gebracht und von deutschen Wanderbühnen übernommen. In der folgenden Zeit wurde es allerdings zerspielt und auf komische Elemente reduziert. Faust wurde zu einer komischen Figur, vergleichbar mit dem Kasperl der Stegreifkomödie.

Zwischen Witzfigur und dämonischem Ungetüm bewegen sich die Faust-Figuren der zahlreichen Bühnenfassungen des Stoffs. Oft dienen sie als Vorwand zu einem Zirkus-Spektakel zwischen Puppenspiel, Dressur, Ballett und Feuerwerk.

Der Augsburger Schausteller Rudolf Lang zog mit einer Hundenummer zum Thema Faust 1717–21 durch Österreich und Deutschland und musste sich einmal ernsthaft gegen den Vorwurf der Hexerei verteidigen. (Die Rede von „des Pudels Kern“ in Goethes Faust I bezog sich noch auf ein erfolgreiches Bühnenstück mit einem dressierten Hund, dessen Aufführung in Weimar von Goethe verhindert wurde.)

Berühmt sind die beiden englischen Faust-Pantomimen zu Beginn des 18. Jahrhunderts: Necromancer von John Rich und Doctor Faustus von John Thurmond (beide London 1723). Sie sind eine Sammlung von Vanitas-Motiven: Verträge, Prognosen, Musik, Tanz, Geldverleih, Prostitution, heidnische Antike werden unter dem Motto der Nichtigkeit und Vermessenheit bunt zusammengestellt.

Josef Anton Stranitzky setzte in seiner Dramatisierung von 1725 der Faust-Figur den Wiener Hanswurst gegenüber.

Seit 1750

An der Verwendung des Fauststoffs lässt sich eine zunehmende Scheidung zwischen Hochkultur und Populärkultur ablesen. Im Zeitalter der Aufklärung begannen die Versuche, die Faust-Figur zu rechtfertigen und grundsätzlich aufzuwerten. Gotthold Ephraim Lessing veröffentlichte 1759 in seinem 17. Literaturbrief einige Szenen eines von ihm geplanten Faust-Dramas. Faust wird hier als ein nach Erkenntnis strebender Renaissancemensch dargestellt. Aufgrund eben dieses Strebens nach Wissen wird er vor dem Teufelspakt bewahrt. Der aufgeklärte Künstler und Wissenschaftler, den Faust zunehmend symbolisierte, sollte keine grundsätzlich negative Figur mehr sein. Lessing vollendete dieses Werk nie. Ein anderes Schwergewicht hatten die Aufwertungsversuche seit 1775 in der Epoche des „Sturm und Drang“. Viele junge Dichter befassten sich mit der Thematik. Faust verkörperte bei ihnen den Willen zum geistig-sinnlichen Abenteuer in einer eintönigen, überzivilisierten und naturfremden Welt. Paul Weidmann verfasste ein allegorisches Drama, in dem Faust von seinen Eltern besucht wird und umkehrt. In J. M. R. Lenz’ Werk Höllenrichter schildert er Fausts Leben ohne Liebe als höllische Qual.

In der Populärkultur gibt es parallel dazu immer noch die alte, durchwegs negativ gemeinte Faust-Figur: In Hamburg etwa führt ein Pyrotechniker namens Girandolini 1785 ein musikalisch-physikalisches Freilichtspektakel Doctor Fausts Höllenfarth auf. Ebenso wurde diese ältere Bedeutung des Fauststoffes für aufklärerische Satiren benutzt. Friedrich Maximilian Klingers Roman Fausts Leben, Thaten und Höllenfahrt (1791) ist eine Mischung aus Aufklärungssatire und Sturm-und-Drang-Novelle.

Ary Scheffer: Faust et Marguerite. – Die französischen Versionen des Fauststoffs seit Gounods Oper legen ihr Schwergewicht meist auf die Gretchentragödie.

Bruchlos geht diese Tradition ins Bühnenmelodram des 19. Jahrhunderts über. Erwähnenswert in diesem Zusammenhang sind Ferdinand Kringsteiners Johann Faust (1811) und Ernst August Klingemanns Faust (1815)[1] als populäre Schauerdramen. Noch Louis Spohr suchte im Stoff für seine Oper Faust (1818) eher einen reißerischen Aufhänger für seine Musik als einen bedeutenden Inhalt. Dass man die Vanitas-Symbolik im 19. Jahrhundert nicht mehr ernst nehmen konnte, zeigt sich in Travestien wie derjenigen von Franz Xaver Gewey 1815: Die Gegenstände in Fausts Studierstube, Totenköpfe, Skelette, Folianten, Waffen, Himmelskugeln, Landkarten beginnen sich dort wie in einem Disney-Film zu bewegen und im Chor zu singen.

In der neueren Rezeptionsgeschichte hat allerdings die Nobilitierung der Faustfigur ihre ältere Bedeutung verdrängt, obwohl sie in der Populärkultur unverändert präsent war. 1808 erschien Goethes Faust. Der Tragödie erster Teil. Goethe versuchte, dem Stoff seinen Pessimismus zu nehmen. Er gab seinem Faust ein zaghaft hoffnungsvolles Ende, ohne sich dem Religiösen unterzuordnen. Dieses Werk wurde zum wichtigsten der gesamten Faustdichtung. Der 1832 veröffentlichte zweite Teil ist eher ein kulturkritischer Essay als ein Bühnenstück. Goethe beschäftigte sich insgesamt fast 60 Jahre lang mit dem Fauststoff. Er stellte Faust als Renaissancemenschen und Humanisten dar, als einen modernen Intellektuellen, der sich aus kirchlicher Bevormundung befreit hat. Seine Faustbearbeitungen konzentrieren sich auf Fausts Wunsch nach Erkenntnis und Erfahrungsvielfalt („Daß ich erkenne, was die Welt/ im Innersten zusammenhält.“ Faust I, V. 382/383). Die Gelehrtentragödie gelangt zu einem Höhepunkt, als Faust sich eingestehen muss, die von ihm gewünschte Welterkenntnis aus eigener Kraft nicht erlangen zu können. Goethe rechtfertigte damit den Teufelspakt durch eine nicht grundsätzlich verwerfliche Gesinnung. Schon Lessing bezeichnete die Wissbegier als den edelsten Trieb des Menschen. Außerdem verband Goethe Fausts Suche nach Erkenntnis mit der Gretchentragödie. Gretchen, die von Faust Verführte, wird zur Personifizierung der ihm gegenübergestellten reinen Unschuld („Über die hab ich keine Gewalt“, V. 2626).

Die Goethe-Parodie von Friedrich Theodor Vischer Faust. Der Tragödie dritter Teil (1862) konnte sich nicht durchsetzen. Der Fauststoff blieb dennoch auf der Ballett- und Opernbühne in zahlreichen Versionen präsent. Am berühmtesten wurde Charles Gounods schwärmerisch-empfindsamer Faust von 1859. Aus Pietät gegenüber Goethe nannte man die Oper im deutschen Sprachgebiet Margarethe. Noch das „erste“ US-amerikanische Musical The Black Crook (1866) nimmt den Fauststoff als Aufhänger zu einem unterhaltenden Bühnenspektakel.

20. Jahrhundert

Die Verschärfung der Faust-Figur ins „Faustische“, wie sie seit dem Fin de siècle vor allem mit nationalistischem Unterton üblich wurde, lässt sich nicht auf Goethe zurückführen. In diesem Zusammenhang stehen Oswald Spenglers unheilvolle Aussagen über die „faustische Kultur“ in Der Mensch und die Technik (1931). Geglückte und misslungene deutsche Vergangenheitsbewältigung begegnen sich bei der Behandlung des Fauststoffs auf irritierende Weise, wie die germanistische Karriere von Hans Ernst Schneider gezeigt hat, der sich nach seinem Identitätswechsel über Faust habilitierte.

Im 20. Jahrhundert prägte der endgültige Untergang des Ancien Régime und die Erfahrung der Weltkriege die Beschäftigung mit dem Fauststoff. Heinrich Mann schuf in Professor Unrat (1905) wiederum eine negative, anmaßende und lächerliche Faust-Figur. Sein Bruder Thomas Mann knüpft mit seinem 1947 erschienenen Roman Doktor Faustus an die „Historia“ von 1587 an. Er verlegt die Handlung in die Zeit ab 1900 und übt mit der Figur des Faust Kritik an der bürgerlichen Klasse Deutschlands. Michail Bulgakows Satire Der Meister und Margarita parodiert das Leben im Sowjetreich. In Hanns Eislers unvertont gebliebenem Opernlibretto Johann Faustus von 1952 vertritt Faust die Rechte der Unterdrückten in den Bauernkriegen um 1525.

Ebenfalls im 20. Jahrhundert erlebte die Faustfigur im Puppenspiel eine Wiederbelebung, nachdem das Puppentheater durch die Hohnsteiner Puppenbühne unter Max Jacob von einer Jahrmarktsunterhaltung zur anerkannten Theaterform aufgestiegen war. Prominente Autoren und Spieler von Faust-Puppenspielen waren neben Max Jacob Friedrich Arndt (Hohnsteiner Kasper), Walter Büttner (Der Heidekasper) und Otto Schulz-Heising (Ulenspeegel Puppentheater). Heute noch zeigen traditionsbewusste Puppenspieler ein Faust-Spiel, zum Beispiel Gerd J. Pohl (Piccolo Puppenspiele), Andreas Blaschke (Figurentheater Köln), Harald Sperlich (Hohenloher Figurentheater), Dr. Johannes Minuth (Freiburger Puppenbühne) und Stefan Kügel.

Werke mit Bezug zu Faust

Schriften, Erzählungen

Siehe auch: Höllenzwang, Liste magischer Schriften

Dramen

Musik

Film

Bilder und Illustrationen

Literatur

  • Horst Jesse: ‚Faust‘ in der bildenden Kunst. München: Utz 2005, ISBN 3-8316-1202-1
  • Andreas Meier: Faustlibretti. Geschichte des Fauststoffs auf der europäischen Musikbühne […]. Frankfurt am Main: Lang 1990. ISBN 3-631-42874-X
  • Carl Kiesewetter: Faust in der Geschichte und Tradition. Leipzig: Spohr 1893. Nachdruck Hildesheim: Olms 1963
  • Karl Theens: Faust auf dem Puppentheater. Knittlingen 1957.
  • Karl Theens: Geschichte der Faustgestalt vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Meisenheim 1948.
  • Fritz Brukner, Franz Hadamowsky: Die Wiener Faust-Dichtungen von Stranitzky bis zu Goethes Tod. Wien 1932.

Weblinks

Quellen

  1. Elisabeth Frenzel, Stoffe der Weltliteratur,S.262

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