Flugzeugabsturz von Ustica

Flugzeugabsturz von Ustica
Itavia-Flug 870

I-TIGI im Jahre 1972
Zusammenfassung
Datum 27. Juni 1980
Typ vermutlich Abschuss durch Luft-Luft-Rakete
Ort 80 km nördlich der Insel Ustica
Getötete 81
Verletzte 0
Flugzeug
Flugzeugtyp DC-9
Fluggesellschaft Itavia
Kennzeichen I-TIGI
Passagiere 77
Besatzung 4
Überlebende 0

Am Abend des 27. Juni 1980 stürzte Itavia-Flug 870, eine Douglas DC-9 der italienischen Gesellschaft Itavia, nördlich der italienischen Insel Ustica auf dem Wege von Bologna nach Palermo aufgrund eines Treffers durch eine Luft-Luft-Rakete ins tyrrhenische Meer. Alle 81 Insassen starben bei diesem Flugzeugunglück, das als „strage di Ustica“ (das Ustica-Blutbad) in Italien bekannt wurde. Durch die sich seit nunmehr 28 Jahren dahinziehenden Ermittlungen und deren jahrelange massive Behinderung durch italienische Militärs und Geheimdienste ist Ustica bis heute ein sehr präsentes und emotionales Thema in Italien.

Inhaltsverzeichnis

Die Geschehnisse

Das Flugzeug war mit Flugnummer IH870 auf dem Wege von Bologna nach Palermo. Der Start verspätete sich um zwei Stunden. Um 20:59 Uhr wurde das letzte Transpondersignal der Maschine aufgezeichnet, Radarechos verschwanden innerhalb von zwei Minuten.

Zuerst wurde davon ausgegangen, das Flugzeug sei aufgrund von Materialermüdung in der Luft auseinander gebrochen oder von einer Bombe im Rumpf zerrissen worden. Der Rumpf des Flugzeuges wurde 1987 von dem bemannten Unterseeboot Nautile des französischen halbstaatlichen Unternehmens Ifremer aus 3500 Meter Tiefe gehoben und die Überreste wurden untersucht. Die „black-box“ wurde erst 1991 gefunden und geborgen. An den Überresten des Flugzeuges wurden später Spuren des militärischen Sprengstoffs T4 gefunden.

Trümmer des Flugzeugs

Auch viele Jahre nach dem Unglück konnte der genaue Hergang des Absturzes nicht rekonstruiert werden. Verschiedene Gutachten schlossen in der Folge ein Auseinanderbrechen der Maschine durch Alterung aus. Ein erstes Gutachten kam im März 1989 zum Schluss, dass das Flugzeug irrtümlich durch eine Luft-Luft-Rakete abgeschossen wurde. Diese Ansicht wurde durch eine staatliche Untersuchungskommission im gleichen Jahr bestätigt. 1990 kam eine Minderheit der Gutachter zu dem Ergebnis, dass es zu einer Explosion durch eine Bombe im Inneren der Maschine gekommen sei. Die Untersuchungskommission „commissione stragi“ des italienischen Parlamentes beklagte in diesem Zusammenhang auch Falschaussagen und das Zurückhalten von Informationen durch staatliche Stellen.

1994 kam ein zweites Gutachten mehrheitlich zu dem Ergebnis, dass es sich um eine Bombenexplosion im Inneren des Flugzeuges gehandelt habe; eine Minderheit der Gutachter sah hingegen weiterhin eine Rakete als Ursache an. Im Rahmen der zweiten Untersuchung konnte zweifelsfrei nachgewiesen werden, dass sich, anders als zuvor behauptet worden war, militärische Flugzeuge im Absturzgebiet aufhielten. Zum Zeitpunkt des Absturzes gab es offenbar Einsätze von NATO-Flugzeugen und französischen Flugzeugen über dem tyrrhenischen Meer. Radardaten lassen auf neun Jagdflugzeuge schließen.

Im 1999 veröffentlichten Untersuchungsbericht zog der Untersuchungsrichter Rosario Priore folgendes Fazit der Ermittlungen: „L’incidente al DC9 è occorso a seguito di azione militare di intercettamento, il DC9 è stato abbattuto,“ („Der Absturz der DC9 erfolgte nach einer militärischen Abfangaktion, die DC9 wurde abgeschossen,“) Unklar bleibt die Nationalität des Flugzeuges, welches die Rakete abgefeuert hat. In der Folge leitete Priore mehrere Prozesse gegen neun Offiziere – darunter vier Generäle – der italienischen Luftwaffe und des italienischen Geheimdienstes SIOS-Aeronautica ein, denen nachgewiesen werden konnte, dass sie wichtige Informationen zurückgehalten oder falsche Angaben gemacht hatten. Die Anklage lautete unter anderem auf Hochverrat, da Priore das Geschehen des 27. Juni 1980 als „atto di guerra“ also Kriegsakt gegen die Republik Italien wertete.

Theorien

Da es inzwischen erwiesen ist, dass die DC-9 von einer Luft-Luft-Rakete abgeschossen wurde und es erwiesenermaßen am Abend des 27. Juni zu einem Luftkampf über dem tyrrhenischem Meer zwischen zwei MiGs der libyschen Luftwaffe und einer Gruppe von NATO-Jägern kam, konzentrieren sich die Ermittlungen heute auf die Frage, welcher Nationalität die beteiligten NATO-Flugzeuge waren, wie es zu dem Luftkampf kam und welches Flugzeug die Luft-Luft-Rakete abfeuerte. Eine im kalabrischen Sila-Gebirge (des Aspromonte) zerschellte libysche MiG-23, welche am 18. Juli 1980 entdeckt und von der italienischen Luftwaffe geborgen wurde, gilt heute als eines der am Luftkampf beteiligten Flugzeuge. Insbesondere da laut Obduktionsbericht der Verwesungsgrad der Leiche des Piloten einen Todeszeitpunkt um den 27. Juni vermuten ließ.

Nach einer Theorie geriet die DC-9 in einen französischen oder amerikanischen Angriff auf das vermutlich baugleiche Flugzeug des libyschen Staatschefs Muammar al-Gaddafi. Gaddafi befand sich damals auf dem Weg zu einem Staatsbesuch in Polen. Es wird behauptet, dass von einem US-Flugzeugträger im Mittelmeer oder einer amerikanischen Basis mehrere Abfangjäger gestartet seien, um die Maschine Gaddafis bei der Überquerung des tyrrhenischen Meeres abzuschießen. Libyen habe jedoch über einen Kontaktmann in Rom von den Plänen erfahren und die Maschine nach Malta umgeleitet. Parallel seien einige MiG-23 zum Schutz Gaddafis in den italienischen Luftraum beordert worden. Bei einem Luftkampf zwischen den MiGs und den französischen oder amerikanischen Flugzeugen sei dann versehentlich der 2 Stunden verspätet gestartete Flug 870 abgeschossen worden, da die französischen oder amerikanischen Piloten annahmen, es handle sich um das Flugzeug Gaddafis.

Eine andere Theorie besagt, dass zwei libysche MiGs auf dem Weg zu einer Wartung in Kroatien waren. Um die Flugstrecke abzukürzen hätten sie unerlaubt versucht italienisches Gebiet zu überfliegen. Die MiGs erschienen dann sowohl auf den Radars der italienischen, französischen und amerikanischen Luftraumüberwachung, welche jeweils Abfangjäger starteten. Es sei ein Luftgefecht gefolgt, bei dem sich die libyschen Kampfflugzeuge dem Passagierjet angenähert hätten, um in dessen Radarschatten ihren Verfolgern zu entkommen. Dabei habe eine für eine der MiG bestimmte Luft-Luft-Rakete unbekannter Herkunft das Passagierflugzeug irrtümlich getroffen.

Eine dritte Theorie, wie es zu dem verhängnisvollen Luftkampf kam, besagt, dass zwei libysche bzw. für Libyen bestimmte MiG-23 von Kroatien nach Libyen unterwegs waren. Nachdem sie die Adria im Tiefflug überquert und dadurch das italienische Radarnetz unterflogen hatten, hätten die zwei MiGs versucht, im Radarschatten der DC9 unentdeckt von Bologna bis nach Palermo zu kommen. Als die DC9 über der Toskana den Weg von zwei F-104 Starfightern der Aeronautica Militare beim Landeanflug auf den Militärflugplatz Grosseto kreuzte, hätten die Ausbilder Nutarelli und Naldini, welche die zweisitzige Trainerversion des Starfighters TF-104G flogen, die zwei MiG entdeckt. Dies würde auch erklären, warum die beiden um 20:24 Uhr zweimal Luftalarm auslösten. Da Italien derartige Überflüge libyscher Flugzeuge jedoch stillschweigend duldete, landeten die Ausbilder und ihr Flugschüler wie geplant um 20:50 Uhr auf der Basis Grosseto. An jenem Abend befand sich nachweislich eine Boeing E-3 Sentry (AWACS-Luftaufklärer) der US-Airforce über dem tyrrhenischen Meer und unbestätigten Berichten zufolge kreuzte der französische Flugzeugträger Clemenceau mit seinen Begleitschiffen im tyrrhenischen Meer. Es wird vermutet, dass die Trägergruppen bzw. die E-3 Sentry die libyschen MiG entdeckten und daher Alarmrotten gestartet wurden. Unter anderem stiegen zwei Mirage Jäger der Armée de l’air von der Basis Solenzara in Korsika auf. Es wird angenommen, dass es diesen Alarmrotten gelang die libyschen MiGs zu stellen und im Verlaufe dieses Gefechts die DC-9 getroffen wurde.

Trotz der jahrelangen Ermittlungen und der inzwischen erfolgten Kooperation der NATO ist bis heute nur gesichert, dass:

  • sich am Abend des 27. Juni ein Luftkampf nahe Ustica abspielte
  • zwei libysche MiG-23 darin verwickelt waren, von denen eine in Kalabrien zerschellte
  • fünf NATO-Jagdflugzeuge zum fraglichen Zeitpunkt über dem tyrrhenischen Meer unterwegs waren
  • zwei davon französische Mirage-Jäger waren
  • auf Befehl höherer Stäbe alle Radaraufzeichnungen italienischer Radarstationen zum fraglichen Zeitpunkt vernichtet wurden.

[1]

Todesfälle im Umfeld des Absturzes

Eine Reihe von Todesfällen von Offizieren der italienischen Luftwaffe führte zu Gerüchten, dass eine Verschwörung versuche, Mitwisser und Tatbeteiligte zu beseitigen.

  • am 8. August 1980 stirbt Oberst Giorgio Teodoldi bei einem Verkehrsunfall. Teodoldi war als Nachfolger des Kommandeurs der Luftwaffenbasis von Grosseto, Oberst Nicola Tacchio, nominiert, hatte sein Kommando aber zum Zeitpunkt seines Todes noch nicht angetreten. Auf dieser Basis landete am Abend des 27. Juni der Abfangjäger mit den Piloten Nutarelli und Naldini, nachdem sie zuvor bei Florenz den Weg der DC-9 gekreuzt hatten.
  • am 9. Mai 1981 stirbt Hauptmann Maurizio Gari an Herzversagen. Er war 37 Jahre alt und Kommandeur der Radarstation von Poggio Ballone bei Grosseto und in der Nacht des 27. Juni einer der drei anwesenden Offiziere.
  • am 30. März 1987 erhängt sich Feldwebel Alberto Dettori. Er war in der Nacht des 27. auf den 28. Juni einer der wachhabenden Offiziere in der Radarstation von Poggio Ballone.
  • am 28. August 1988 sterben die oben erwähnten Piloten Ivo Nutarelli und Mario Naldini beim Flugtagunglück von Ramstein. Die beiden Piloten waren für eine Aussage vor dem Untersuchungsausschuss zu dem Itavia-Flug 870 geladen, sie hätten etwa eine Woche nach dem Ramstein-Unglück aussagen sollen.[2][3]
  • am 1. Februar 1991 wird Luftwaffenfeldwebel Antonio Muzio erschossen. Er war 1980 in der Radaranlage von Lamezia Terme beschäftigt.
  • am 2. Februar 1992 stirbt der Luftwaffenfeldwebel Antonio Pagliara bei einem Autounfall. Er war 1980 in der Radaranlage von Otranto beschäftigt.

Eine inzwischen unüberschaubare Anzahl weiterer ungewöhnlicher Todesfälle in den Reihen der Aeronautica Militare wurde im Laufe der Zeit mit den Geschehnissen vom 27. Juni 1980 in Verbindung gebracht; meist mit der Begründung, die Verstorbenen seien kurz zuvor an geheime Informationen zum Fall Ustica gekommen. In den meisten Fällen lässt sich jedoch eine konkrete Verbindung zu Ustica nur mit Mühe konstruieren (siehe Oberst Giorgio Teodoldi).

Literatur

  • Regine Igel: Terrorjahre. Die dunkle Seite der CIA in Italien. Herbig, München 2006, ISBN 978-3-7766-2465-6
  • Luigi Di Stefano: Il Buco. Scenari di guerra nel cielo di Ustica. Vallecchi, 2005
  • Vincenzo Ruggiero Manca: Ustica, assoluzione dovuta, giustizia negata. Edizioni Koinè, 2007

Einzelnachweise

  1. The Mystery of Flight 870, The Guardian, July 21, 2006
  2. J. Bauszus: War Ramstein ein Mordkomplott? Focus online, 27.08.08
  3. Hartmut Jatzko: Nachsorgegruppe der Opfer und Hinterbliebenen der Flugtagskatastrophe von Ramstein, ab Unterpunkt "Hoffnungsschimmer", eingesehen am 5. Mai 2009

Weblinks


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