- Folterskandal von Abu Ghuraib
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Der Abu-Ghuraib-Folterskandal (auch: Abu Graib oder Abu Ghraib) war eine Folteraffäre während der Besetzung des Irak durch die Streitkräfte der Vereinigten Staaten, die weltweite Resonanz erfuhr. Inhalt war die Aufdeckung der Tatsache, dass irakische Insassen des Abu-Ghuraib-Gefängnisses vom Wachpersonal gefoltert worden waren. Aufgedeckt wurde der Skandal durch die Veröffentlichung von Beweisfotos und -videos.
Inhaltsverzeichnis
Vorgeschichte
Debatte um die Zulässigkeit der Folter
Nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 wurde in den USA verstärkt darüber diskutiert, ob unter gegebenen Umständen Folter erlaubt sein sollte. So wurde z.B. in der äußerst erfolgreichen Fernsehserie 24 Folter als legitimes Mittel zur Terrorismusbekämpfung dargestellt. Auch die Bush-Regierung beschäftigte sich damit. In einem geheimen Memorandum erklärte der spätere Justizminister Alberto R. Gonzales, dass die Gesetze zum Verbot von Folter nicht für so genannte „feindliche Kämpfer“ gelten. Außerdem erklärte er, dass Verhörpraktiken wie das Waterboarding nicht als Folter einzustufen seien. Schon bald nach den Anschlägen wurde berichtet, dass die USA Gefangene zum Foltern an andere Staaten übergeben [1]. Seit dem Krieg in Afghanistan werden Gefangene in einem Internierungslager in der Guantánamo-Bucht sowie auf Diego Garcia festgehalten; ihnen wurde sowohl ein gerichtliches Verfahren als auch der Schutz der Genfer Konventionen verwehrt. Auch von dort gab es Berichte über Misshandlungen und Folter.
Entwicklung nach dem Irak-Krieg
Nach dem Ende der offiziellen Kampfhandlungen des dritten Golfkriegs übernahmen US-Truppen Abu-Ghuraib und nutzten sie sowohl als Militärbasis, als auch als Gefängnis. Auch die Sicherheitskräfte der neuen irakischen Regierung inhaftierten in einem separaten Abschnitt Häftlinge in eigener Verantwortung.
Im April 2004 geriet die Anlage erneut in die Schlagzeilen, als der Fernsehsender CBS in einer Folge seines Fernsehmagazins „60 Minutes“ über Folter, Missbrauch und Erniedrigungen von Gefangenen durch US-amerikanische Soldaten berichtete. Die dabei ausgestrahlten Bilder sollen im November oder Dezember 2003 aufgenommen worden sein und auch schon Gegenstand von Untersuchungen der US Army gewesen sein.
Publikmachung
Bereits im Mai 2004 gelangten Berichte und Fotos in die Medien, die belegen, dass US-amerikanische Mitarbeiter von Militär- und Geheimdiensten sowie von privaten Militärunternehmen Gefangene im Abu-Ghuraib-Gefängnis nahe Bagdad gefoltert haben. Anfang 2006 tauchten hunderte weiterer Fotos mit Bildern und Videos bislang ungeahnter Brutalität auf[2]. Auf den Fotos werden Menschen während Misshandlungen beziehungsweise in entwürdigenden Haltungen gezeigt.
Auch sind im Mai 2004 Aussagen und Bilder von Vergewaltigungen an irakischen Gefangenen im Abu Ghuraib durch US Soldaten in die Medien gelangt (CBS News, ZNet[3]).
Hinzu kommen nach übereinstimmenden Medienberichten ca. 100 Todesfälle. Dabei handelt es sich nicht um schlichte Unfälle, als welche die Fälle zunächst dargestellt wurden, sondern um systematische Folter bis zum Tod. Damit geht es bei dem Skandal auch um Mord, was bei der bisherigen juristischen Aufarbeitung (s.u.) keine Rolle gespielt hat.
Weltweite Reaktionen auf Foltervorwürfe
Dies rief weltweit bei Regierungen und in den Medien große Empörung gegen das Verhalten der US-amerikanischen Beteiligten und Verantwortlichen hervor.
Die Schweizer Außenministerin Micheline Calmy-Rey bestellte die Botschafter der USA und Großbritanniens zu sich, um gegen die Misshandlung von irakischen Gefangenen zu protestieren.
Der deutsche Außenminister Joschka Fischer verurteilte die Folter irakischer Gefangener durch US-Soldaten im Gefängnis Abu Ghuraib, ebenso sprachen die Vereinten Nationen schärfste Kritik an den Handlungen aus.
In größter Besorgnis äußerte sich auch der Heilige Stuhl: Der Skandal heize den Hass der Araber gegen den Westen und vor allem gegen die Christenheit an, sagte der Außenminister des Vatikans, Erzbischof Giovanni Lajolo der Tageszeitung La Repubblica. „Die Misshandlungen? Sie sind ein größerer Schlag für die USA als der 11. September. Der Punkt ist, dass dies nicht von Terroristen herbeigeführt wurde, sondern von Amerikanern gegen sich selbst“, sagte der Erzbischof.
Unter anderem musste der US-amerikanische Verteidigungsminister sich einem öffentlichen Ausschuss des US-Kongresses stellen. Mitglieder der US-amerikanischen Opposition forderten seinen Rücktritt.
Reaktionen Großbritanniens und der USA auf die Foltervorwürfe
- Inzwischen haben sich der amerikanische Präsident Bush und Donald Rumsfeld öffentlich für diese Vorfälle entschuldigt.
- Widersprüchliche Aussagen: Sowohl die USA als auch ihr engster Verbündeter Großbritannien denken erstmals über einen Abzug aus dem Irak nach. Wenn die Irakische Übergangsregierung nach der Machtübernahme am 30. Juni dies wünsche, werde sich die US-Army zurückziehen, sagten der Statthalter Paul Bremer, US-Außenminister Colin Powell und sein britischer Amtskollege Jack Straw. Dem hat aber anschließend Präsident Bush widersprochen: Die US-Streitkräfte werden auch nach der für Ende Juni geplanten Machtübergabe an eine Übergangsregierung im Irak bleiben.
- US-Soldaten dürfen bei ihren Verhören in Gefängnissen in Irak keinen Zwang mehr ausüben. Der oberste Kommandeur der US-Truppen in Irak, Ricardo S. Sánchez, verbot bisher gebilligte Maßnahmen wie Schlafentzug oder stundenlanges Ausharren in der Hocke.
- Der stellvertretende US-Verteidigungsminister Paul Wolfowitz hat eingeräumt, dass die Verhörmethoden amerikanischer Soldaten in irakischen Gefängnissen gegen die Genfer Konvention verstoßen. Er widersprach damit seinem Vorgesetzten Donald Rumsfeld, der diese Praktiken zuvor noch verteidigt hatte.
- Am 19. Mai 2004 wurde Jeremy Sivits - der einige der Folterfotos gemacht hatte - als erster Soldat von einem Militärgericht zu einem Jahr Haft verurteilt. Außerdem wurde er unehrenhaft aus der Armee ausgeschlossen und degradiert.
- Präsident Bush sagte der Bagdader Tageszeitung Assaman, dass der Skandal um die Misshandlung irakischer Gefangene durch US-Soldaten rückhaltlos aufgeklärt werde.
Einzelaspekte
Die Bilder zeigen unter anderem nackte Gefangene, die zu Oralsex gezwungen worden sein sollen, sowie einen Gefangenen, der an Elektrokabel angeschlossen ist, als werde er mit einer Hinrichtung durch Elektrizität bedroht. Darüber hinaus gibt es ein Bild, das einen Gefangenen zeigt, der tot zu sein scheint. Nach Auskunft von CBS hat die US Army noch wesentlich mehr Fotos dieser Art, einschließlich einem, das einen Gefangenen zeigt, der von einem Hund angefallen wird.
Ein Gefangener trägt Beschuldigungen vor, unter der Aufsicht von US-Soldaten vergewaltigt worden zu sein. Dokumentiert ist ebenfalls, wie US-Soldaten Gefangene mit Kot beschmieren.
Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) hat die US-Behörden nach eigenen Angaben bereits vor Monaten dazu angehalten, gegen die Misshandlungen irakischer Häftlinge einzuschreiten: „Unsere Erkenntnisse wurden bei unterschiedlichen Gelegenheiten zwischen März und November 2003 erörtert, entweder in direkten Gesprächen oder in schriftlichen Eingaben“, gab Pierre Krähenbühl vom IKRK am 7. Mai 2004 in Genf bekannt.
Verstrickung von Ärzten
An den Folterungen im irakischen Gefängnis Abu Ghuraib sollen nach Angaben eines US-Wissenschaftlers auch Ärzte beteiligt gewesen sein. Diese hätten mit ihrem Verhalten ethische Werte der Medizin gebrochen und Menschenrechte verletzt, schreibt der amerikanische Bioethiker Steven Miles im Fachmagazin The Lancet. Der Doktor der Medizin und Professor an der Universität von Minnesota verlangte eine offizielle Untersuchung über die Rolle der Ärzte beim Folterskandal.
Miles wertete Protokolle des US-Kongresses aus, Aussagen von Inhaftierten und Soldaten, ärztliche Berichte und Pressemeldungen. Ein Militärsprecher bestätigte, die meisten der in dem Artikel beschriebenen Vorfälle und Anschuldigungen seien von den Streitkräften selbst dokumentiert worden.
Miles schreibt, laut Aussagen von Verantwortlichen der US Army hätten ein Psychiater und ein weiterer Arzt die Befragungsmethoden in Abu Ghuraib entworfen und genehmigt sowie die Verhöre überwacht. Er schildert einen Fall, der von einem Häftling beeidet worden sei: Ein Gefangener sei nach Schlägen bewusstlos zusammengebrochen und von Pflegekräften wiederbelebt worden. Diese seien dann gegangen, danach sei der Mann erneut misshandelt worden. Außerdem gebe es Berichte, dass selbst Ärzte Gefangene misshandelt hätten.
Miles zitiert ferner einen Offizier der Militärpolizei: Ein Arzt habe einem unter Folter gestorbenen Inhaftierten eine Infusion in die Vene gelegt, damit es so aussehe, als habe der Mann im Krankenhaus noch gelebt. Totenscheine von Gefangenen in Afghanistan und im Irak seien gefälscht worden. «Die Ärzte bestätigten routinemäßig den Tod durch Herzinfarkt, Hitzeschlag oder andere natürliche Todesursachen», schreibt Miles. Nur wenige Einheiten im Irak und in Afghanistan hätten den Gefangenen die von den Genfer Konventionen geforderten monatlichen Untersuchungen ermöglicht, Ärzte hätten nicht für eine regelmäßige medizinische Betreuung gesorgt.
Am 24. Mai 2004 kündigte US-Präsident Bush in einer Ansprache an das amerikanische Volk den Abriss des Abu-Ghuraib-Gefängnisses an. Es werde auf Kosten der USA durch ein modernes Hochsicherheitsgefängnis ersetzt werden.
Weitere Aufarbeitung
Am 15. Februar 2006 veröffentlicht der australische Sender SBS weitere Bilder, die das Pentagon trotz eines Gerichtsurteils unter Verschluss halten wollte. Der Moderator der Sendung „Dateline” erklärte den Zuschauern, dass die bisher unveröffentlichten Bild-Dokumente aus jener Sammlung stammen, die im Jahr 2004 weltweit Empörung hervorgerufen hatte. Der Sender begründete die Ausstrahlung der Bilder mit seiner Informationspflicht und Pressefreiheit. Sie würden enthüllen, dass die Misshandlungen – sexuelle Erniedrigung, Verstümmelung und Folter bis hin zum Tod – „verbreiteter und viel schlimmer” gewesen seien, als bisher angenommen. Weitere Fotos wurden von der australischen Zeitung „Sydney Morning Herald” ins Internet gestellt. Dort sind unter anderen auch Leichen sowie Körperteile mit Brandwunden und anderen Verletzungen zu sehen.
Am 9. März 2006 kündigten die USA an, die Kontrolle über das Gefängnis komplett an die irakischen Sicherheitsbehörden übergeben zu wollen, die das Gefängnis als Lagerhaus für das Justizministerium nutzen möchten, und die Gefangenen zu verlegen. Stattdessen will die US-Regierung den Neubau eines Hochsicherheitsgefängnisses finanzieren.
Am 15. März 2006 veröffentlichte das US-Internetmagazin Salon.com 280 Fotografien und 19 Videos, die zum Teil bisher unbekannt waren. Die Sprecherin des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) Dorothea Krimitsas äußerte sich „schockiert“ über die neu veröffentlichten Folterbilder. „Wir sind bestürzt über die Misshandlungen“, sagte sie der Schweizer Nachrichtenagentur SDA am 16. März 2006.
Der ehemalige US-Soldat Joshua Casteel, der in Abu-Ghuraib gedient hat, über seine dortigen Erlebnisse:
„Sie haben dort mit dem Einsatz der Spezialeinheiten die Insassen regelmäßig befragt. Es gab auch oft Folterungen. Beispielsweise wurden die Gefangenen nackt in eiskaltes Wasser gestellt und dann in einem Raum mit Klimaanlage, die auf extrem hohe Temperaturen gestellt wurde. Ihre Hände wurden mit Hämmern geschlagen. Auch Baseballschläger wurden benutzt.[4]“
Juristische Aufarbeitung
Als Rädelsführer galt Charles Graner. Er wurde in den USA von einem Militärgericht zu 10 Jahren Haft verurteilt. Die auf vielen Bildern posierende Lynndie England wurde zu drei Jahren Haft verurteilt. Es gab weitere Verurteilungen von niedrigen Dienstgraden. Der einzig angeklagte Offizier, Oberstleutnant Steven Jordan, wurde mit einem verwaltungsrechtlichen Verweis abgeurteilt. [5]
Anklage in Deutschland
Am 15. September 2005 wies das Oberlandesgericht Stuttgart den Klageerzwingungsantrag eines Mitglieds des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins im Auftrag von 17 Folteropfern und einer Menschenrechtsorganisation ab. Generalbundesanwalt Kay Nehm hatte nach der Anzeige von den 17 Opfern noch kein Ermittlungsverfahren gegen US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld eingeleitet.
Filme
Künstlerisch wurde der Folterskandal von Fernando Botero aufgearbeitet. Im Spielfilm "Tal der Wölfe – Irak" werden Folterszenen aus Abu-Ghuraib dargestellt.
Der Dokumentarfilm "Standard Operating Procedure" von Errol Morris beleuchtet eindrücklich die Geschichte hinter den Bildern und lässt Täter zu Wort kommen.
Siehe auch
Verweise
Quellenangaben
- ↑ Amnesty International: CIA-Flüge: USA entführen und lassen foltern
- ↑ Joan Walsh: The Abu Ghraib files auf http://salon.com/news/abu_ghraib/2006/03/14/introduction/ salon.com [14. März 2006]
- ↑ ZNet über Vergewaltigungen an irakischen Frauen
- ↑ Radio Vatikan: Irak: Ich war in Abu-Ghraib 31. Januar 2007
- ↑ http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,527965,00.html
Literatur
- Horst Müller und Medienstudenten der Hochschule Mittweida (FH): Folter frei: Abu Ghraib in den Medien; beobachtet, recherchiert und dokumentiert (PDF, 208 Seiten), 1. Aufl., Hochschulverlag Mittweida, 2004, ISBN 3-9809598-1-3
- "Amerikas Terrorkreuzzug - Kriege, Folter und Menschenrechtsverletzungen im 21. Jahrhundert" von Dennis Kirstein, Mai 2008. ISBN 978-3-8370-5986-1
- "Der Luzifer-Effekt: die Macht der Umstände und die Psychologie des Bösen" von Philip Zimbardo, 2007 Spektrum Verlag. ISBN 978-3-8274-1990-3
Weblinks
- Interview mit dem Islamwissenschaftler Bernard Haykel: Zorn, Ideologie und Realpolitik („Süddeutsche Zeitung“, 17. Februar 2006)
- Mark Benjamin, Salon exclusive: The Abu Ghraib files (Salon.com, 16. Februar 2006 – vgl. [1])
- Andreas Fischer-Lescano, Rechtsrealität versus Realpolitik (Thema: die Strafanzeige in Deutschland gegen Donald Rumsfeld wegen der Folterungen in Abu Ghuraib; HSFK-Standpunkt Nr. 1/2005)
- Rückkehr in die Barbarei: Die dunkle Welt der Folter (Spiegel Online, August 2004)
- Einige Überlegungen über Abu Ghraib und das Unbewusste in der Popkultur von Slavoj Zizek, Die Amerikaner kontrollieren gar nichts! Nicht mal sich selbst! Berliner Zeitung, 23. Juni 2004
- Bilder aus dem Abu-Ghuraib-Gefängnis bei salon.com
- Artikel in Spiegel.de zur künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Thema: Bilder von Fernado Botero
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