Gomorrha – Reise in das Reich der Camorra

Gomorrha – Reise in das Reich der Camorra
Filmdaten
Deutscher Titel: Gomorrha – Reise in das Reich der Camorra
Originaltitel: Gomorra
Produktionsland: Italien
Erscheinungsjahr: 2008
Länge: 135 Minuten
Originalsprache: Neapolitanisch, mit italienischen Untertiteln
Altersfreigabe: FSK ab 16
Stab
Regie: Matteo Garrone
Drehbuch: Matteo Garrone
Roberto Saviano
Maurizio Braucci
Ugo Chiti
Gianni Di Gregorio
Massimo Gaudioso
Produktion: Domenico Procacci
Kamera: Marco Onorato
Schnitt: Marco Spoletini
Besetzung
  • Salvatore Abruzzese: Totò
  • Salvatore Ruocco: Boxer
  • Gianfelice Imparato: Don Ciro
  • Maria Nazionale: Maria
  • Toni Servillo: Franco
  • Carmine Paternoster: Roberto
  • Italo Celoro: Contadino
  • Salvatore Cantalupo: Pasquale
  • Gigio Morra: Iavarone
  • Marco Macor: Marco
  • Ciro Petrone: Ciro
  • Bernardino Terracciano: Zio Bernardino

Gomorrha – Reise in das Reich der Camorra ist ein italienischer Spielfilm des Regisseurs Matteo Garrone aus dem Jahr 2008. Der Film setzt sich mit der Camorra in der italienischen Stadt Neapel auseinander und basiert auf der gleichnamigen Vorlage des Autors Roberto Saviano. Premiere feierte der Film bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes 2008. In den deutschen Kinos startete der Film am 11. September 2008.

Inhaltsverzeichnis

Handlung

Der Film spielt in der italienischen Stadt Neapel und der Region Kampanien, zu der die Provinzen Caserta und Neapel gehören. Das Leben der Menschen wird dominiert durch Macht, Geld und Blut, und ist in der festen Hand der Camorra.

Gomorrha besteht aus fünf Handlungssträngen, von denen zwei (Totò und Don Ciro) eng miteinander verwoben sind, während die anderen jeweils unabhängig voneinander sind.

Storia di Totò

Im sozialen Brennpunkt Scampìa liefern sich die Clans Scissionisti di Secondigliano und Clan Di Lauro eine Fehde. In diesem Umfeld wächst der dreizehnjährige Totò auf, ganz im Bann einer verheißungsvollen Zukunft in der Welt der organisierten Kriminalität. Da sein Vater im Gefängnis sitzt, wird der Lebensunterhalt von Totò und seiner Mutter durch den Clan Di Lauro finanziert: der Clan zahlt ihnen die so genannte 'mesata', eine Art Rente. Auch Totò entscheidet sich für den Clan Di Lauro zu arbeiten, während sein bester Freund Simone sich den Scissionisti anschließt. Um nicht zwischen die Fronten dieser Clans zu geraten, müssen die beiden ihre Freundschaft aufkündigen. Totò wird zunächst als Drogenkurier und Wachposten eingesetzt. Um zu beweisen, dass er wirklich für den Clan arbeiten will, soll er Simones Mutter Maria in einen Hinterhalt locken, nachdem er vergeblich versucht hatte, ihre Tötung zumindest aufzuschieben.

Storia di Don Ciro e Maria

Dieser Handlungsstrang thematisiert die so genannte Faida di Scampia, die Fehde zwischen den beiden rivalisierenden Clans. Dargestellt wird dieser Aspekt vor allem an Don Ciro und Maria.

Don Ciro ist ein Buchhalter der Mafia. Er zahlt den Angehörigen toter oder inhaftierter Mitglieder des Familien-Clans Geld zum Lebensunterhalt, die sogenannte semmana, aus und muss in dieser Funktion von Haus zu Haus des Viertels gehen. Nach der Eskalation der Gewalt und der Verschlimmerung der Situation im Viertel werden die Zahlungen knapper und Abtrünnige erhalten kein Geld mehr. Aufgrund der immer schärfer werdenden Rivalität zwischen den Clans gerät auch Don Ciro zwischen die Fronten, er wird überfallen und schließlich Zeuge eines Mordes, sodass er sich zuletzt nur noch mit einer Schutzweste auf die Straße traut und von seinem Boss lieber eine andere Aufgabe bekommen würde. Schließlich verrät Don Ciro nach mehreren Drohungen seinen Clan an die rivalisierende Seite. Als Gegenleistung wird er verschont, als man Mitglieder des Clans Di Lauro hinrichtet.

Maria, die auch die monatlichen Zahlungen des Clans Di Lauro erhält, wird, nachdem sie zunächst als Warnung kein Geld mehr bekommt, umgebracht, weil ihr Sohn Simone zum Clan der Scissionisti übergewechselt ist.

Storia di Franco e Roberto

Franco ist als Vermittler (so genannter Stakeholder) unternehmerisch auf dem Gebiet der Entsorgung von giftigen Abfällen tätig. Einem norditalienischen Konzern bietet er die Entsorgung ihrer Abfälle zu halbierten Kosten und mit allen offiziellen Zertifizierungen an. Die Unternehmer akzeptieren, wohl wissend, dass die Entsorgung in illegalen Deponien in Kampanien stattfinden wird. Franco und dessen technisch versierter Handlanger Roberto versuchen einen geeigneten Ort für die Entsorgung ausfindig zu machen. Die Wahl fällt schließlich auf einen Steinbruch.

Während eines Unfalls mit den Giftfässern in diesem Steinbruch verletzen sich mehrere Arbeiter an ätzender Säure. Die verbliebenen LKW-Fahrer protestieren und es kommt zu einem Tumult. An eine Wiederaufnahme der Arbeit ist nicht zu denken. Kurzerhand engagiert Franco Kinder im Alter von acht bis zehn Jahren[1], die die LKWs mit ihrer Ladung zum Bestimmungsort bringen und dort abkippen.

Eine Familie kleiner Grundbesitzer in wirtschaftlichen Schwierigkeiten bietet Franco ihr Land an. Dort sollen Giftmüllfässer deponiert werden. Die Familie bekommt für jede LKW-Ladung Fässer hundert Euro. Nach einem Besuch dort schenkt die alte Bäuerin Roberto eine Kiste mit Pfirsichen. Während der Rückfahrt weist Franco Roberto an, diese wegzuwerfen, da die Pfirsiche angeblich stinken würden, es jedoch klar ist, dass diese vom Giftmüll verseucht sind. Angewidert von der Situation wendet sich Roberto von Franco ab und steigt aus, obwohl Franco ihn überzeugen will, dass ihre Arbeit für den wirtschaftlichen Aufschwung Kampaniens nötig sei, und darüber hinaus auch im übrigen Italien Arbeitsplätze sichern würde. Roberto geht eine einsame Straße entlang, während Franco zum Auto zurückkehrt.

Storia di Pasquale

Pasquale ist von Beruf Schneider für die Haute Couture in einer kleinen Fabrik und gilt als kreativer Kopf des Unternehmens, für das er dennoch nur für einen Hungerlohn schwarz arbeitet, während sein Arbeitgeber unter dem Druck der Camorra steht. Er wird von einem chinesischen Unternehmer angeworben, der ihm für die heimliche Ausbildung von chinesischen Arbeitern zweitausend Euro pro Unterrichtsstunde zahlen will. Diese Arbeiter überschütten ihn mit Beifall und Ehrungen. Da sich dieses Unternehmen in Konkurrenz zur Mafia befindet, muss Pasquale im Kofferraum eines Autos zu der chinesischen Fabrik transportiert werden. Trotzdem erfährt die Camorra von Pasquales „Verrat“ und verübt zur Warnung einen Anschlag auf das Auto, in dem Pasquale transportiert wird. Aufgrund seiner jahrelangen treuen Dienste darf er überleben, gibt aber das Schneiderhandwerk auf und verdingt sich stattdessen für den Clan als LKW-Fahrer. Auf einer Raststätte sieht er im Fernsehen die Schauspielerin Scarlett Johansson auf dem roten Teppich des Filmfestivals in Venedig, die ein Kleid trägt, welches er zuvor entworfen hatte.

Anhand dieses Handlungsstranges zeigt der Film zum einen den gnadenlosen und von der Camorra kontrollierten Konkurrenzkampf der Schneiderwerkstätten um die Aufträge der berühmten Modehäuser, zum anderen den Versuch chinesischer illegaler Einwanderer mit gefälschter Markenkleidung auf dem Markt Fuß zu fassen.

Storia di Marco e Ciro

Marco und Ciro sind zwei junge Straftäter aus dem Umfeld des Clan dei Casalesi. Sie träumen davon einmal mächtige Gangster zu sein und spielen Szenen aus dem Film Scarface nach. Als sie auf eigene Rechnung bei einem Raubüberfall Drogen erbeuten, bekommen sie von den mächtigen Mafiabossen eine Warnung. Diese wird von den beiden allerdings in den Wind geschlagen. Im Anschluss daran heben sie ein verstecktes Waffenarsenal der Camorra aus. Kurz darauf bekommen sie eine zweite Warnung: Sie sollen die Waffen zurückgeben. Sie bringen aber weder die Waffen zurück, noch beenden sie ihre Raubzüge. Von einem der Mitglieder des Clans werden sie schließlich in eine Falle gelockt und hingerichtet.

Realisierung

Die filmische Umsetzung von Teilen der Buchvorlage will nichts beschönigen, sondern schonungslos die alltägliche Realität im Einflussbereich der Camorra abbilden. Dennoch enthält sich der Film einer Interpretation oder Kommentierung und einer moralischen Wertung oder gar Anklage, sondern stellt anhand der fünf einzelnen Episoden schlaglichtartig verschiedene Aspekte des Systems „Camorra“ und seines Einflusses auf das Leben der Menschen dar. Hierbei entsteht auch kein idealisiertes oder verklärendes Bild der Paten und ihrer kriminellen Organisation; vielmehr steht die Lebenswirklichkeit ärmerer Gesellschaftsschichten und der unteren hierarchischen Ebenen der Camorra im Mittelpunkt, die nahezu dokumentarisch nüchtern beobachtet werden.

Dreharbeiten

Allgemeines

Der Film wurde zu einem großen Teil an authentischen Orten gedreht, so z.B. in Neapels Vorort Scampia, wo die heruntergekommene Hochhaussiedlung Le Vele (so genannt wegen ihrer an Segel erinnernden Silhouette) steht, oder in der Peripherie der Stadt. Wie der Regisseur Matteo Garrone erklärt, habe man für die Dreharbeiten an Originalschauplätzen kein Geld gezahlt.[2] Aus Sicherheitsgründen wurde jedoch während der Aufnahmen nicht der richtige Titel genannt, sondern es wurde unter dem Decknamen Sei storie brevi (dt.: Sechs kurze Geschichten) gefilmt[3] und es hieß, dass der Film von Tagesereignissen aus den Nachrichten inspiriert worden sei. Trotz dieser Vorsichtsmaßnahme ist es bekannt gewesen, dass es sich um Gomorrha handelte. Anfangs wollten die Clans zwar das Drehbuch lesen und ihr Veto einlegen,[4] es kam aber nie zu irgendwelchen Zwischenfällen.[5] Die Camorra hat die Dreharbeiten sozusagen 'abgesegnet', denn nach vielen Negativschlagzeilen kam ihr wahrscheinlich ein positives Medienecho gelegen. Außerdem übt das Kino eine große Anziehungskraft auf die Menschen aus, so dass sie davon begeistert waren, an der Realisierung beteiligt zu werden.[6] Sie wurden als Statisten eingesetzt oder übernahmen (Neben-)Rollen, gaben dem Filmteam Tipps oder beurteilten die gedrehten Szenen am Monitor der Kamera hinsichtlich ihrer Authentizität.

Gestalterische Aspekte

Neben dem Kameramann Marco Onorato hat der Regisseur Matteo Garrone oft auch selbst gefilmt. Durch die Verwendung einer Handkamera in vielen Szenen konnte er dicht am Geschehen bleiben, was – besonders in turbulenten Sequenzen – dem Zuschauer Nähe vermittelt. Diese Wirkung wird auch durch viele Nahaufnahmen erzielt. Garrone wollte durch die Bilder das Empfinden der Charaktere widerspiegeln, so soll z.B. die Verwendung vieler Totalen in den Szenen mit Marco und Ciro ein Gefühl der Freiheit suggerieren und ihre fehlende Unterordnungsbereitschaft symbolisieren.

Bei Außenaufnahmen wurde das Set nie zusätzlich ausgeleuchtet. Fahle Farben verstärken das Gefühl von Trostlosigkeit, das bereits durch die Wahl der Drehorte entsteht. Bevorzugt wurden lange Sequenzen mit möglichst wenigen Schnitten. Die verschachtelte Montage soll auf die in ähnlicher Weise organisierte Struktur der Camorra hinweisen. Diese Bruchstückhaftigkeit der Erzählweise bewirkt, dass der Zuschauer die einzelnen Handlungsstränge nicht ganz einfach verfolgen kann: auch dies ist eine Analogie zur Realität, in der der Mikrokosmos des organisierten Verbrechens für Außenstehende undurchsichtig erscheint.

Die Regie Garrones ist sehr nüchtern und lässt den Akteuren viel Spielraum bei der Gestaltung der Rolle, was die Glaubwürdigkeit der Szenen erhöht. Besonders die Laiendarsteller mussten nicht mimen, sondern durften einfach sie selbst sein.

Schauspieler

Neben professionellen Schauspielern sind viele Rollen des Films mit Laiendarstellern aus der Gegend besetzt worden, so z.B. der Junge Totò oder die Jugendlichen Marco und Ciro. Manche von ihnen hatten bereits in Amateurtheaterprojekten u.ä. mitgewirkt, für andere war es aber die erste schauspielerische Erfahrung. Ein Teil dieser Darsteller steht sogar in mehr oder weniger enger Beziehung zur Camorra, einer von ihnen verbüßt deswegen seit Juli 2008 eine zweijährige Haftstrafe[7], ein anderer ist am 11. Oktober 2008 festgenommen worden[8].[9] Ihnen allen ist gemein, dass sie zumeist am Drehort gecastet wurden und mit dem Milieu vertraut sind, was der möglichst realitätsnahen Darstellung zugute gekommen ist. Zur Authentizität trägt ebenfalls bei, dass alle Darsteller auch im Film so sprechen, wie sie im wirklichen Leben reden (soziolinguistischer Aspekt).

Sprache

In der italienischen Originalfassung wurde sehr auf eine authentische Sprache geachtet. Überwiegend wird in neapolitanischem Dialekt gesprochen, aber auch dessen regionale Varianten kommen vor. Marco und Ciro machen sich darüber lustig, dass der Boss, der sie bedroht, den Dialekt von Casal di Principe spricht. Darüber hinaus werden viele Ausdrücke und Redewendungen aus dem Jargon des lokalen organisierten Verbrechens benutzt. In Italien läuft der Film mit hochsprachlichen Untertiteln.

Filmmusik

Bei der in Gomorrha verwendeten Musik handelt es sich um so genannte On-Musik, also Musik, die in der Handlung von den Personen gehört wird, so beispielsweise im Autoradio. Dies sind vorwiegend neomelodische Canzoni neapolitanischer Interpreten, wie u.a. Raffaello, Alessio und Rosario Miraggio. Dadurch, dass nur Geräusche und Musik der Umgebung verwendet wurden, wird beim Zuschauer das Gefühl erzeugt, näher am Ort der Handlung zu sein. An manchen Stellen steht die Italo-Popmusik im krassen Gegensatz zu brutalen Szenen, die dadurch alltäglich und banal wirken und so dem Zuschauer noch eindringlicher die menschenverachtende Gewalt vor Augen führen.

Um den Zuschauer nicht in der Interpretation der Handlung zu beeinflussen, wurde bewusst keine Filmmusik im engeren Sinne benutzt, die Handlung und Dialoge kommentiert oder deutet.[10] Matteo Garrone berichtet in einem Interview, dass der Versuch, den Film mit einem Soundtrack (d.h. Off-Musik) zu unterlegen dazu geführt hätte, ihn „in eine Komödie“[11] zu verwandeln, da die emotionale Beeinflussung des Zuschauers widersprüchlich zur Aussage der Bilder gewesen wäre. Die einzige Ausnahme stellt der Instrumentaltrack Herculaneum dar, der eigens für den Abspann des Films von Robert Del Naja und Neil Davidge („Massive Attack“) komponiert worden ist.

Kritiken

„Die völlig unreißerisch, gleichzeitig auf unprätentiöse Art einfallsreich inszenierte Darstellung einer alles durchdringenden Struktur, die mit Erpressung, Gewalt und oft schlicht als Ersatz für Sozial- und Pensionsversicherung kaum einen Ausweg aus ihren Fängen lässt, bewegte die Gemüter. [...] Gerade bei einem so schwierigen Thema, bei dem Zeugenaussagen vor laufender Kamera so schwer zu bekommen sind, birgt ein Spielfilm wie Gomorra die Möglichkeit, sich realen Sachverhalten möglicherweise besser anzunähern, als jede reißerische Doku. Was für ein Film.“

Julia Pühringer: Kurier [12]

„Das Buch, akribisch recherchierte Enthüllungsgeschichten über die Macht der Camorra - wie Kinder in den Drogenhandel geraten, die Mafia die Abfallwirtschaft und die Textilindustrie übernahm -, war ein Bestseller in Italien, traf auf Wut und Empörung, aber ein Film hat nicht draus werden wollen. Vielleicht ist man, hat man diese Skandalgeschichten einmal gehört, schon genug empört. Garrone erzählt sie nach, ineinander verwoben, aber er hat ihnen nichts hinzuzufügen.“

Susan Vahabzadeh: Süddeutsche Zeitung [13]

„‚Gomorrha‘ ist kein Film der lauten Empörung, sondern des kalten Registrierens.“

Cristina Nord: die tageszeitung [1]

„Garrone und Saviano, der auch das Drehbuch konzipiert hat, durchdringen das wuchernde System anhand von Fallbeispielen, bleiben dabei aber ganz auf Augenhöhe mit der Wirklichkeit. Romantisiert wird nichts, im Gegenteil: Zwei Jugendliche, die beherzt Szenen aus Brian de Palmas Scarface nachstellen, werden am härtesten mit realen Vorbildern zusammenprallen. Die sprechen zwar manchmal auch mit krächzender Stimme wie im Paten, doch ihre Taten sind effizient, brutal und tödlich. Garrone geht es allerdings nicht so sehr um übermäßig Dramatik. Die einzelnen Episoden reißen wie Fäden immer wieder ab, bis sich das Bild der Camorra über etliche gesellschaftliche Schichten erstreckt. In visuell oft verblüffenden Einstellungen, die den Sozialrealismus des Films auf fast surreale Weise erweitern, geraten die Figuren in Gomorrha in Zwickmühlen, aus denen sie sich nicht mehr befreien können.“

Dominik Kamalzadeh: Der Standard [14]

Die italienische Wochenzeitschrift L'Espresso schrieb in ihrer Ausgabe vom 22. Mai 2008:

Gomorrha, ein prächtiger Film, ist das Gegenteil des Buches. [...] Während das Buch informiert und aufdeckt, anklagt und protestiert, ist der Film eine anthropologische Studie, [...] eine Analyse der Kriminalität als Existenzform und Lebensweise.

– L'Espresso [15]

Unterschied zwischen Buch und Film

Zwischen Buch und Film gibt es Unterschiede hinsichtlich Intention und Darstellungsweise. Beide Medien stehen aber nicht in Konkurrenz zueinander, sondern ergänzen sich gegenseitig.

Das Buch ist in erster Linie eine Dokumentation und will die wirtschaftlichen und organisatorischen Strukturen der Camorra offenlegen. Unternehmerische Verbindungen des Systems werden ebenso analysiert wie die soziale Dimension, d.h. die Unterwanderung der Gesellschaft durch die organisierte Kriminalität. Es will informieren, nennt Namen, klagt an. Die Mechanismen der organisierten Kriminalität werden vor allem unter dem Aspekt des Business betrachtet.

Der Film hingegen ist keine Reportage, aus diesem Grund gibt es – anders als im Buch – auch keinen Ich-Erzähler. Der Schwerpunkt liegt auf dem menschlichen Aspekt: auf den Menschen und ihren Emotionen, auf ihren Entscheidungen und den damit verbundenen Konsequenzen. Daraus entstehen Porträts von auf verschiedene Weise in das System involvierten oder darin verstrickten Charakteren. Die Realität wird anhand von Szenen dargestellt, die zwar fiktiv sind, aber sich genauso hätten ereignen können, weil das ihnen zugrunde liegende Prinzip wahr ist.[16] Die Schauspielerin Maria Nazionale sagt dazu, dass „alles, was man im Film sieht, aus Bruchstückchen der Wahrheit zusammengesetzt ist“.[17] Ziel war es, dieses „System von innen heraus dar[zu]stellen. "Gomorrha" ist kein Film gegen die Camorra, sondern ein Film über die Camorra.“[18] Die Darstellung der Menschen und ihrer Schicksale soll den Zuschauer auf emotionaler Ebene ansprechen, ihm die Inhalte des Buches anhand der Kraft der Bilder nahebringen. Das Buch klärt auf, 'macht wissend', der Film vertieft dieses Wissen, indem er es mit Gefühlen verknüpft.

Auszeichnungen

Gomorrha war im Jahr 2008 in Cannes nominiert für die Goldene Palme und gewann den Großen Preis der Jury, der von Roman Polanski überreicht wurde.

Beim Filmfest München 2008 wurde Gomorrha als bester internationaler Film mit dem Arri-Zeiss-Preis ausgezeichnet. Die Jury begründete ihr Urteil damit, dass der Film ein "beängstigendes Porträt einer Gemeinschaft in unserer heutigen Zeit"[19] zeichnet.

Außerdem gewann Gomorrha den „Premio città di Roma – Arcobaleno Latino“ 2008, ein Preis, der vom italienischen Regisseur Gillo Pontecorvo angeregt wurde und anspruchsvolle Spielfilme würdigen soll.[20] Die Auszeichnung wurde am 23. Mai 2008 in Cannes von Matteo Garrone entgegengenommen.

Darüber hinaus erhielt der Regisseur Matteo Garrone im Juli den italienischen Filmpreis „Premio Palmi 2008“ für seine Arbeit.

Die ANICA, der nationale Verband der italienischen Filmproduzenten, hat Gomorrha am 24. September 2008 einstimmig dazu bestimmt, Italien bei der nächsten Oscar-Verleihung in der Kategorie Bester ausländischer Film zu repräsentieren.

Im Rahmen der Frankfurter Buchmesse 2008 haben Roberto Saviano und Matteo Garrone den Preis für die beste internationale Literaturverfilmung erhalten. Die mit 10.000 Euro dotierte Auszeichnung wurde Saviano am 17. Oktober 2008 in der Alten Oper überreicht, wobei Volker Schlöndorff die Laudatio hielt.

Bei Bekanntgabe der Nominierungen für den Europäischen Filmpreis 2008 erhielt Garrones Film fünf Nominierungen und führte das Favoritenfeld gemeinsam mit seinem Landsmann Paolo Sorrentino (Il Divo) an. Bei der Verleihung am 6. Dezember 2008 konnte der Film alle seine Nominierungen in Siege umsetzen und Gomorrha erhielt den Preis für den besten europäischen Film des Jahres, Regie, Darsteller (Toni Servillo), Drehbuch und Kamera.

Der Film erhielt bei der Golden-Globe-Verleihung 2009 eine Nominierung in der Kategorie Bester fremdsprachiger Film.

Hintergrund

Auch wenn der Film in das Genre Spielfilm eingeordnet ist, so basiert er doch ausschließlich auf realen Begebenheiten und den Recherchen des Autors Roberto Saviano. Beispielsweise liegt dem Mord an Maria die Ermordung von Carmela Attrice, der Mutter eines Abtrünnigen, zugrunde.[21] Die Episode um den Schneider Pasquale hat dieser Saviano selbst erzählt,[22] während die Storia di Franco e Roberto auf eigenen Erlebnissen des Autors beruht: zufällig hatte er den Stakeholder Franco kennengelernt und begleitete ihn einige Zeit, wobei Saviano detailreiche Einblicke in das Geschäft der illegalen Müllentsorgung machen konnte.[23]

Während im Film die Schauspielerin Scarlett Johansson auf dem roten Teppich des Filmfestivals in Venedig das von Pasquale entworfene Kleid trägt, ist es in der literarischen Vorlage Angelina Jolie bei der Oscar-Verleihung.

Während der Dreharbeiten sind mit einer Videokamera bzw. einem Videohandy verschiedene Szenen heimlich gefilmt und bei YouTube eingestellt worden. Durch fingierte Titel wurde dabei absichtlich der Eindruck erweckt, es handle sich um Aufnahmen von echten Verbrechen.[24]

Allgemeines

Am 20. November 2008 machte die Turiner Tageszeitung La Stampa bekannt, dass die Camorra Raubkopien des Films zu sechs Euro pro DVD einige Wochen vor dem offiziellen Marktverkauf anbietet. Allgemein lasse die Mafia in China Raubkopien herstellen, wo sie Geld aus kriminellen Geschäften investiere.[25]

Anfang Januar 2009 wurde bekannt, dass im Herbst 2008 die beiden Schauspieler Bernardino Terracciano und Salvatore Fabbricino sowie um die Weihnachtszeit der Schauspieler Giovanni Venosa (als Camorra-Boss) aus dem Film Gomorrha wegen Mitgliedschaft zur Camorra sowie verschiedener Straftaten verhaftet wurden. Bei den drei Verhafteten handelt es sich um bereits vorbestrafte Camorra-Mitglieder, die nach ihrer Filmerfahrung ihren gewohnten kriminellen Tätigkeiten nachgegangen sind, unter anderem Drogenhandel und dem Eintreiben von Schutzgeld.[26]

Dokumentarfilm

  • Mutiger Journalist: Filmpreise unterstützen Roberto Saviano. Fernseh-Reportage, Deutschland, 2008, 2:52 Min., Produktion: NDR, Zapp, Erstsendung: 10. Dezember 2008, Inhaltsangabe des NDR, online-Video
    Reportage anlässlich der Verleihung der Europäischen Filmpreise in Kopenhagen am 6. Dezember 2008

Verweise

Literatur

  • Roberto Saviano: Gomorrha, Carl Hanser Verlag, München 2007, ISBN 978-3-446-20949-7

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b Filmkritik: „Pfützen aus Blut“, die tageszeitung, 19. Mai 2008
  2. Peter von Becker: „Eine Saison in der Hölle“, Tagesspiegel, 9. September 2008
  3. Es war geplant, sechs einzelne Geschichten zu verfilmen, die sechste ist jedoch nicht realisiert worden. Diese Episode sollte von Christian und Serena handeln, hätte jedoch den zeitlichen Rahmen des Films gesprengt. Quelle: „Matteo Garrone racconta il suo 'Gomorra'“, www.robertosaviano.com
  4. Interview mit Roberto Saviano im Magazine des Corriere della Sera vom 13. Mai 2008
  5. „Produzioni: Gomorra“, La Repubblica, 6. Oktober 2007, (italienisch)
  6. Interview „ancora su Gomorra“ mit Maurizio Braucci und Matteo Garrone (in italienischer Sprache)
  7. Corriere della Sera vom 4. Juni 2008: „Gomorra, arrestato il boss che interpretava se stesso“
  8. La Repubblica, 11. Oktober 2008: „Nuovo blitz contro i casalesi - arrestato un attore di Gomorra“.
  9. „Manikürte Leichen“, Der Spiegel, Nr. 37, 8. September 2008, S. 158, von Alexander Smoltczyk - liefert viele Informationen zu den Dreharbeiten.
  10. Zu diesem Zweck werden in vielen Fällen speziell für den Film komponierte Stücke als so genannte Off-Musik eingesetzt.
  11. Interview mit Matteo Garrone, filmering.at, 7. August 2008
  12. Filmkritik: „Gomorra – Mafiöses aus Cannes“, Kurier, 19. Mai 2008
  13. Filmkritik: „Das Quäntchen Magie“, sueddeutsche.de, vom 21. Mai 2008
  14. Filmkritik: „Eigensinnige Blicke auf die Wirklichkeit“, Der Standard, 19. Mai 2008
  15. Lietta Tornabuoni: Vivere e morire a Gomorra, in: L'Espresso dal 22 maggio 2008; „Gomorra è il contrario del libro [...] Se il libro informa e rivela, denuncia e protesta, il film è un lavoro antropologico [...], un'analisi della criminalità come modo di essere e di vivere [...].“
  16. Siehe „Colloquio tra Maurizio Braucci e Matteo Garrone“, lineadombra.wordpress.com, 6. Juni 2008, (italienisch). Eine gekürzte deutschsprachige Version des Interviews findet sich hier: Interview mit Matteo Garrone, filmering.at, 7. August 2008
  17. Interview: „Napoli non è tutta così“: „Tutto quello che vediamo nel film è composto da frammenti di verità.“
  18. Interview mit Matteo Garrone: "Ich wollte erzählen, dass in Wirklichkeit eine Grauzone existiert." kinofenster.de, 26. August 2008
  19. "Filmfest München: Julie Christie ausgezeichnet", auf http://www.paz-online.de vom 27.06.2008, Zugriff am 25.09.2008
  20. "Il Premio è un riconoscimento [...] per valorizzare un cinema che privilegi la dimensione culturale, l'intelligenza del pubblico,l'intrattenimento qualitativo, le personalità degli autori, la diversità degli stili e dei linguaggi della cultura latina.", zitiert nach: http://www.persinsala.it/article456.html
  21. „Napoli, agguato a Scampia, la faida uccide un'altra donna“, La Repubblica, 15. Januar 2005 (italienisch)
  22. Vgl.: Saviano, Roberto: Gomorrha. Reise in das Reich der Camorra, Carl Hanser Verlag, München 2007, S. 41-55, ISBN 978-3-446-20949-7
  23. Vgl.: Saviano, Roberto: Gomorrha. Reise in das Reich der Camorra. Carl Hanser Verlag, München 2007, S. 349-355, ISBN 978-3-446-20949-7
  24. „Filmato killer in azione su Youtube“, tgcom.mediaset.it, 1. Juni 2007 und „Altri tre spezzoni di Gomorra finiscono in rete su YouTube“, La Repubblica, 4. Juni 2007
  25. „Mafia verdient an Anti-Mafia-Film mit“, Tagesspiegel, 20. November 2008
  26. „Camorra, così sono stati arrestati tre attori del cast di "Gomorra"“, Il Giornale, 4. Januar 2009 und
       „Darsteller von "Gomorrha" verhaftet. Filmreife Mafiosi“, Süddeutsche Zeitung, 5. Januar 2009 und
       Annette Langer: „Mafia-Darsteller wegen Camorra-Connection hinter Gittern“, Spiegel online, 13. Januar 2009

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