Güllen

Güllen

Der Besuch der alten Dame ist eine tragische Komödie in drei Akten des Schweizer Schriftstellers Friedrich Dürrenmatt. Die Uraufführung mit Therese Giehse in der weiblichen Hauptrolle fand am 29. Januar 1956 in Zürich statt. Das Stück wurde zu einem Welterfolg und brachte Dürrenmatt die finanzielle Unabhängigkeit.

Die Idee zu Der Besuch der alten Dame kam dem Dramatiker bei einem Aufenthalt in der Berner Gemeinde Ins im Seeland. In der Reihe „Theater am Tatort“ wurde das Stück auch in Ins auf einer Freilichtbühne aufgeführt.

Inhaltsverzeichnis

Personen

Die Besucher

  • Claire Zachanassian, geb. Klara Wäscher (Multimillionärin; Armenian-Oil)
  • Ihre Gatten Ⅶ–Ⅸ
  • Der Butler
  • Toby (kaugummikauend)
  • Roby (kaugummikauend)
  • Koby (blind)
  • Loby (blind)

Die Besuchten

  • Ill
  • Seine Frau
  • Seine Tochter
  • Sein Sohn
  • Der Bürgermeister
  • Der Pfarrer
  • Der Lehrer
  • Der Arzt
  • Der Polizist
  • Der Erste (Bürger)
  • Der Zweite (Bürger)
  • Der Dritte (Bürger)
  • Der Vierte (Bürger)
  • Der Maler
  • Erste Frau
  • Zweite Frau
  • Fräulein Luise

Die Sonstigen

  • Bahnhofsvorstand
  • Zugführer
  • Kondukteur
  • Pfändungsbeamter

Die Lästigen

  • Pressemann Ⅰ
  • Pressemann Ⅱ
  • Radioreporter
  • Kameramann

Inhalt

Die Milliardärin Claire Zachanassian, die „alte Dame“ aus dem Titel, besucht die verarmte Kleinstadt Güllen, in der sie ihre Jugendzeit als Klara („Kläri“) Wäscher verbracht hat. Während die Einwohner auf finanzielle Zuwendungen hoffen, sucht Claire Rache für ein altes Unrecht. Als sie in ihrer Jugend von dem Güllener Alfred Ill ein Kind erwartete, bestritt dieser die Vaterschaft und gewann mit Hilfe bestochener Zeugen den von Klara gegen ihn angestrengten Prozess. Klara Wäscher musste ihre Heimat arm, wehrlos und entehrt verlassen, gelangte jedoch danach durch Heirat mit einem Ölquellenbesitzer, der noch zahlreiche weitere Ehen folgten, zu riesigem Vermögen.

Die nun hochangesehene „alte Dame“ unterbreitet den Güllenern ein unmoralisches Angebot: Sie würde ihnen eine Milliarde schenken, wenn sie Ill umbrächten. Diese Forderung lehnen die Bewohner zunächst entrüstet ab, doch seltsamerweise beginnen sie, Geld auszugeben, die Kaufleute gewähren Kredite, so als ob alle mit einem größeren Vermögenszuwachs rechnen könnten. Als Ill sich schließlich von Schuld und Angst zermürbt seinen Mitbürgern ausliefern will, lässt der Bürgermeister in der Presse verkünden, dass Frau Zachanassian durch Vermittlung ihres Jugendfreundes Ill eine Milliardenstiftung gewähre. Die Bürger bilden eine Gasse und Ill geht auf sie zu. Als die Bürger den Blick freigeben, liegt Ill tot am Boden. „Herzschlag“ und „aus Freude“ sind die Kommentare von Stadtarzt und Presse. Claire lässt den Toten in einen mitgebrachten Sarg legen („Ich habe meinen Geliebten gefunden“). Der Bürgermeister bekommt den Milliardenscheck.

Interpretation

Die Gattung

Dürrenmatt verknüpft in seinem Drama Motive der Tragödie mit denen der Komödie und macht es so zur klassischen Tragischen Komödie. Ein wichtiges Kennzeichen dieser eigenen Theaterkonzeption, die Dürrenmatt entwarf, ist das Stilmittel der Groteske. Besonders charakteristisch dafür ist die Figur der Claire Zachanassian. Außerdem zieht Dürrenmatt zahlreiche Parallelen zur griechischen Tragödie, in der Themen wie „Verhängnis und Gericht“, „Schuld und Sühne“, „Rache und Opfer“ immer wieder zusammenlaufen.

Tragödie

Zahlreiche Bezüge lassen sich zur antiken Tragödie herstellen; ein Interpretationsansatz, den der Autor selbst in seinem Nachwort nahelegte. An erster Stelle sei hier die Darstellung der Titelheldin genannt. 45 Jahre wartet Claire Zachanassian auf ihre Rache. Dieser Unerbittlichkeit wegen hat Dürrenmatt sie mit Medea verglichen. Möglich wird ihr diese Rache durch den Reichtum, mit dessen Hilfe sie die Bürger der Stadt für ihre Zwecke instrumentalisiert. Sie ist die „reichste[n] Frau der Welt“. Ihr Vermögen versetzt sie in die Lage, „wie eine Heldin der griechischen Tragödie zu handeln, absolut, grausam, wie Medea etwa.“[1] Doch sie ist nicht nur mit der griechischen Heldin vergleichbar, sondern wird zur Rachegöttin selbst. Ihr wird so viel Macht zugesprochen, dass sie in ihrem Heimatort über Schicksale bestimmen kann. Verstärkt wird der Eindruck einer Göttin dadurch, dass Dürrenmatt sie mit einer Pseudo-Unsterblichkeit ausgestattet hat: Als einzige Überlebende eines Flugzeugabsturzes umgibt sie die Aura des Wunderbaren und Übermächtigen. Von der Stadt zunächst als fernes Götzenbild verehrt, gewinnt sie jedoch zunehmend an Einfluss, bis sie zur Herrin über Leben und Tod wird.

Zu einem tragischen Helden wird der Krämer Alfred Ill als der anfangs eigentliche Schuldige, der mit der Zeit ein sittliches Bewusstsein entwickelt. Er ist der einzelne Mensch, der seinem unausweichlichen Schicksal in Form von Claires Rache, die durch ihren Reichtum schließlich seinen Tod bewirkt, gegenübersteht. Durch seine Haltung und Einsicht gewinnt er tragische Größe.

Formal wird ein Vergleich mit der antiken Tragödienform vor allem durch den Chor evoziert, den Dürrenmatt am Schluss einen zynischen Kommentar abgeben lässt, indem er das „heilige Gut des Wohlstandes“ preist. So verknüpft er in Der Besuch der alten Dame das Motiv „Geld ist Macht“ – und somit eine für Dürrenmattsche Stücke typische „Kritik an der westlichen Wohlstandsgesellschaft“ – mit Topoi der griechischen Tragödie: „Verhängnis und Gericht, Schuld und Sühne, Rache und Opfer.“[2]

Komödie

Das Stück ist mit seinem Thema der Käuflichkeit einer ganzen Stadt eine „lächerliche Groteske“. Die Bürger werden zunächst als „ehrliche Bürger“ gezeigt, dann jedoch bald als lächerliche Figuren vorgeführt, indem sie der Verführung des Geldes unterliegen. Lügner, geldgierige Betrüger und hohle Phrasendrescher gehören zum klassischen Personal einer Komödie. Demgegenüber steht das Schicksal des Einzelnen, der seine Schuld erkennt und in der Lage ist, ernsthaft mit ihr umzugehen. Alfred Ill erweist sich im Kontrast zur geistlosen Masse als der einzige ernst zu nehmende moralische Mensch der Stadt.

Auffällig ist Dürrenmatts Verwendung sprechender Namen im Stück. Nicht umsonst heißt die Stadt „Güllen“ (vgl. Gülle), denn sie erweist sich als ein Sumpf der Unmenschlichkeit, ein Morast voll Unmoral. Weitere Beispiele hierfür sind etwa der Name „Zachanassian“, der sich aus den Namen der zur Zeit Dürrenmatts sehr bekannten Milliardäre Zaharoff, Onassis und Gulbenkian zusammensetzt.

Bearbeitungen und Verfilmungen

Die erste deutschsprachige Verfilmung wurde am 19. Februar 1959 in der ARD gezeigt. Regisseur war Ludwig Cremer, die Hauptrolle spielte Elisabeth Flickenschildt. Die Einschaltquote lag bei 81 Prozent.

Der Besuch ist eine stark veränderte Verfilmung unter der Regie Bernhard Wickis aus dem Jahre 1963 mit Ingrid Bergman und Anthony Quinn.

Das Stück wurde von Dürrenmatt für eine Oper umgeschrieben; die Musik stammt von Gottfried von Einem. Die Uraufführung fand 1971 statt.

1973 wurde in Hasle bei Burgdorf eine berndeutsche Mundartfassung von der Emmentaler Liebhaberbühne aufgeführt.

1982 wurde das Drama unter seinem Originalnamen als TV-Spielfilm in einer deutsch-schweizerischen Produktion verfilmt und ausgestrahlt. Regie führte Max Peter Ammann, Maria Schell und Günter Lamprecht sind in den Hauptrollen zu sehen.

1983 brachte Markus Zohner am Jaunais Riga Teatris die Erstaufführung in lettischer Sprache heraus.

Der sowjetische Regisseur Michail Kosakow verfilmte unter den Namen Der Besuch der Dame (Визит дамы) im Jahre 1989 das Drama mit Jekaterina Wassiljewa als Claire Zachanassian, Valentin Gaft, Igor Kaschinzew, Valentin Nikulin, Grigorij Ljampe, Viktor Borzow, Valentin Smirtinskij und Swetlana Nemoljajewa.

Der Regisseur Djibril Diop Mambéty verfilmte 1992 im Senegal eine Version des Besuchs der alten Dame in Wolof unter dem Titel Hyänen (Hyenas).

Der Regisseur Nikolaus Leytner verfilmte das Stück 2008 in Österreich, es wurde auf ORF 2 und in der ARD ausgestrahlt. In der Hauptrolle Christiane Hörbiger, weitere Darsteller waren Michael Mendl, Muriel Baumeister, Rolf Hoppe, Dietrich Mattausch und Hans von Borsody.

Verweise

Der Film Dogville von Lars von Trier weist viele Parallelen zu Dürrenmatts Werk auf. So gibt es auch hier ein verarmtes Dorf, in dessen Leben eine Frau von der Außenwelt dringt. Zudem werden auch hier im Verlauf der Geschichte immer größere moralische Abgründe aufgetan; ihnen müssen die humanistischen Prinzipien, die anfangs noch scheinbar herrschen, weichen. Dabei wird es in beiden Werken schleichend zur Selbstverständlichkeit, die Hauptfigur zu demütigen (Alfred Ill als Geschäftsmann, Grace als Frau). Der einzige moralisch feste Punkt sind in beiden Werken die männlichen Hauptpersonen (Alfred Ill – Thomas Edison), welche entsprechend auch am Ende der Werke sterben.

Literatur

Buchausgabe

Quellen

  • Artikel Der Besuch der alten Dame; in: KnLL, Bd. 4, Studienausgabe, S. 920 f.

Sekundärliteratur

  • Luis Bolliger, Ernst Buchmüller: Der Besuch der alten Dame; in: dieselben (Hrsg.): play Dürrenmatt. Ein Lese- und Bilderbuch; Zürich: Diogenes, 1996; S. 73–96
  • Hugo Dittberner: Dürrenmatt, der Geschichtenerzähler. Ein 50-Dollar-Missverständnis zum „Besuch der alten Dame“; in: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Friedrich Dürrenmatt I; München: Edition Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. Band 50/51 (1976); S. 86–92
  • Manfred Durzak: Gericht über eine Welt: Der Besuch der alten Dame; in: ders.: Dürrenmatt – Frisch – Weiss. Deutsches Drama der Gegenwart zwischen Kritik und Utopie; Stuttgart: Reclam, 1972; S. 91–102
  • Egon Ecker: Der Besuch der alten Dame; in: Analysen und Reflexionen, Band 16: Der Verdacht, Der Besuch der alten Dame. Interpretationen und unterrichtspraktische Hinweise; Hollfeld: Beyer, 2004, ISBN 3-88805-158-4
  • Wilhelm Große: Der Besuch der alten Dame; in: ders.: Friedrich Dürrenmatt. Literaturwissen; Stuttgart: Reclam, 1998; S. 67–79
  • Karl S. Guthke: Friedrich Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame; in: Manfred Brauneck (Hrsg.): Das deutsche Drama vom Expressionismus bis zur Gegenwart. Interpretationen; Bamberg: C.C. Buchners, 1972; S. 241–249
  • Urs Jenny: Der Besuch der alten Dame; in: ders.: Friedrich Dürrenmatt; München: dtv, 1973; S. 61–72
  • Bernd Matzkowski: Friedrich Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame. Königs Erläuterungen und Materialien Hollfeld: Bange, 2004
  • Annemarie und Wolfgang van Rinsum: Friedrich Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame; in: dies.: Interpretationen. Dramen; München: bsv, 1978; S. 183–193.
  • Karl H. Ruppel: Der Besuch der alten Dame; in: Reclams Schauspielführer; Stuttgart: Reclam, 1990

Fußnoten

  1. Dürrenmatt, Nachwort, Zürich 1956.
  2. Vgl. KNLL, Bd. 4, Studienausgabe, S. 926.

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