Alphabetschriften

Alphabetschriften
Das phönizische Alphabet (mittlere Säule) ist die Mutter verschiedener heutiger Alphabete

Als alphabetische Schrift oder Buchstabenschrift bezeichnet man ein Schriftsystem, dem die Phoneme (Laute) einer Sprache als diskrete Zeicheneinheiten zugrunde liegen. Diese Einheiten - meist handelt es sich um etwa 20 bis 40 verschiedene Zeichen - werden als Buchstaben bezeichnet. Sie haben keine semantische Bedeutung und lassen sich in ihrer Gesamtheit in einem Alphabet zusammenfassen.

Jede alphabetische Schrift ist eine phonographische Schrift, deren Prinzip besonders streng von der Lautschrift vertreten wird: ein Zeichen bezeichnet einen Sprachlaut. Den Gegensatz dazu bilden die Silbenschriften, die auf visualisierten Silben (Lautkombinationen) basieren, und die logographischen Schriften, die Zeichen für semantische Einheiten (Begriffe, "Ideen") kennen.

Um etwa 1500 v. Chr. entwickelten im östlichen Mittelmeerraum die Phönizier das Alphabet, von dem alle späteren Alphabetschriften und mithin alle modernen europäischen Alphabete, einschließlich des griechischen, lateinischen und des kyrillischen, abstammen.

Inhaltsverzeichnis

Geschichte und Entwicklung

Die frühesten Einritzungen, hinter denen nach Gimbutas und Haarmann eine Schrift im eigentlichen Sinne zu vermuten sein könnte, stammen aus der alteuropäischen Vinca-Kultur im Raum des heutigen Serbien. Die Interpretation dieser Funde aus dem 6. bis 5. Jahrtausend v. Chr. als Schrift ist jedoch zweifelhaft (siehe Vinča-Schrift) .

Die ältesten nachweislichen Schriftfunde stammen aus den Tälern von Euphrat und Tigris (Mesopotamien); dabei handelt es sich zunächst um eine Bilderschrift (ab etwa 3500 v. Chr.) sowie eine Keilschrift, die auf Tontafeln festgehalten wurde:

„Die ältesten Texte enthalten jeweils nur als Zahlzeichen erkannte Symbole, auf die immer nur wenige Zeichen folgen. Diese zeigen noch einen stark bildhaften Charakter: Jedes Zeichen repräsentiert eine vereinfachte Darstellung eines gegebenen Gegenstandes, wobei komplizierte Bilder, wie etwa Menschen in bestimmten Haltungen, bewusst vermieden werden“ (Burkhard Kienast).

Etwas später, um 3200 v. Chr., entstanden die ägyptischen Hieroglyphen, dann um 2300 bis 2000 v. Chr. die akkadische Silbenschrift sowie um 1700 v. Chr. schließlich die phönizische Buchstabenschrift; hier wurden erstmals alle Einzelkonsonanten mit rund 30 Zeichen visualisiert.

Die alphabetische Schrift wurde zwischen 1500 und 1200 v. Chr. von den Phöniziern aus der ägyptischen hieratischen Schrift entwickelt; dabei entstand zunächst eine reine Konsonantenschrift. Die Struktur der semitischen Sprachen (Wort-Radikale aus drei Konsonanten) dürfte diesen Vorgang begünstigt haben.

Ab etwa 900 v. Chr. wurde die alphabetische Schrift von den Aramäern weiterentwickelt. Die Moabiter und palästinischen Phönizier fügten einige Vokalbuchstaben hinzu. Die Schrift der Hebräer leitet sich ebenfalls von der der Phönizier ab.

Spätestens um 800 v. Chr. übernahmen die Griechen das Alphabet von den Phöniziern. Sie fügten Buchstaben für alle Vokale hinzu, d. h., in Griechenland entstand das erste vollständige phonetische Alphabet, das alle Konsonanten und Vokale visualisierte:

„Die Griechen steuerten nicht die Vokale bei (ein verbreiteter Irrtum: Vokalzeichen waren bereits in Erscheinung getreten, etwa in der mesopotamischen Keilschrift und in der minoisch-mykenischen Linearschrift B), sondern erfanden den (reinen) Konsonanten. Und damit stellten sie der Menschheit zum ersten Mal eine visuelle Wiedergabe von Sprechgeräuschen zur Verfügung, die ebenso ökonomisch wie erschöpfend war: eine Elemententafel, deren Elemente sich zu unendlich vielfältigen Kombinationen gruppieren lassen, dass mit ziemlicher Genauigkeit jeder nur denkbare Sprachlaut repräsentiert werden kann“ (Als die Muse schreiben lernte).

Um 700 v. Chr. wuchs auch die Verbreitung von Münzen:

„Die beiden größten Erfindungen des menschlichen Geistes sind die Schrift und das Geld – die Universalsprache des Verstandes und die des Eigennutzes“ (Mirabeau).

Die Öffnung der ägyptischen Häfen für die Griechen im Jahre 670 v. Chr. und die Gründung Naukratis 650 v. Chr. hatten den Zugang für Papyrus erleichtert, was zu einem explosionsartigen Anstieg von lyrischer Dichtung führte (Innis); nach Havelock blieb die Produktion von Texten dagegen bis zum 5. Jahrhundert bescheiden (Als die Muse schreiben lernte).

Zwischen 404 und 403 v. Chr. wurde in Athen das ionische Alphabet übernommen. Durch ein vereinfachtes, flexibles Alphabet und die Zunahme an Schreib- und Lesekundigen rückte logisches Denken und somit allgemeine Übereinkunft in den Vordergrund (Innis).

Eric A. Havelock:

„Zweifellos hat unter allen Kommunikationssystemen des Menschen das griechische Alphabet eine beispiellose Effektivität bewiesen und eine einzigartige Ausbreitung erfahren“ (Als die Muse schreiben lernte).

Goody merkt dazu an:

„Die Ursache für den Erfolg des Alphabets [...] hängt damit zusammen, dass seine graphischen Zeichen – und darin unterscheidet es sich von allen anderen Schriftsystemen – Repräsentationen des extremsten und universalsten Beispiels kultureller Selektion sind – des elementaren phonemischen Systems. Die menschlichen Sprechwerkzeuge können zwar eine riesige Zahl von Lauten erzeugen, doch beruhen fast alle Sprachen auf dem formalen Wiedererkennen von nur ungefähr vierzig dieser Laute durch die Mitglieder einer Gesellschaft. Der Erfolg des Alphabets (das gleiche gilt für einige seiner gelegentlichen Schwierigkeiten) gründet darin, dass sein System der graphischen Repräsentation sich diese in allen Sprachsystemen gesellschaftlich konventionalisierte Lautstruktur in allen Sprachsystemen zunutze macht, denn dadurch, dass das Alphabet diese ausgewählten phonemischen Elemente symbolisiert, wird es möglich, alles, worüber die Gesellschaft sprechen kann, ohne Mühe aufzuschreiben und die Schrift ohne Mehrdeutigkeiten zu lesen“.

Vorgeschichte

Die frühesten Zeugnisse einer Schrift werden allgemein den Sumerern (ca. 3500 v. Chr.) zugeschrieben. Sie benutzten logographische Zeichen und eine Keilschrift für Verwaltungszwecke. Bei den älteren Funden der Vinca-Zeichen handelt es sich wahrscheinlich nicht um eine Schrift. Etwas später, um 3200 v. Chr. entstanden die ägyptischen Hieroglyphen, dann um 2300 bis 2000 v. Chr. die akkadische Silbenschrift. Die Schwäche der bis um 1500 v. Chr. bekannten Schriftsysteme war ihre Kompliziertheit. Sie waren auf Grund der großen Zahl verschiedener Symbole schwer zu erlernen. Die Keilschrift umfasste bis zu 600 Zeichen, wovon die Hälfte als Silbenzeichen diente. Obwohl die Ägypter ebenfalls schon mit Silbenzeichen operierten, lösten sie sich nicht von den traditionellen Hieroglyphen, von denen zeitweise mehrere tausend benutzt wurden. Sie verwendeten beides in Kombination.

Die Erfinder der Alphabetschrift

Von wem die erste rein alphabetische Schrift erfunden wurde, lässt sich nicht mehr mit absoluter Sicherheit feststellen. Fakt ist, dass die meisten späteren Alphabetschriften auf die phönizische Schrift (1500 v. Chr.) zurückgehen. Es gilt auch als erwiesen, dass die Erfinder einer semitischen Sprache angehörten. Man spricht daher auch vom „nordsemitischen“ Alphabet.

Die Erfinder kannten die damals gängigen Schriftsysteme, die ihnen als Inspiration gedient haben mögen. So lassen sich Bezüge zur ägyptischen hieratischen Schrift, aber am Beispiel der ugaritischen Schrift auch zu Keilschriften herstellen.

Das erste bekannte Alphabet

Das Neue an dieser Schrift war die Reduktion der Bedeutung der Schriftzeichen auf kleinste bedeutungsunterscheidende Einheiten. Dadurch kam man mit einem vergleichsweise kleinen Satz von nur 22 Zeichen aus. Es wurden zunächst nur Konsonanten geschrieben. (Siehe Phönizisches Alphabet).

Die Formen der Zeichen stellten vereinfachte Abbildungen der mit den Buchstabennamen bezeichneten Gegenstände dar (nach dem Vorbild der Hieroglyphen). Einige Zeichen scheinen dieser These zu widersprechen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Formen möglicherweise Veränderungen erlitten haben und uns weder ihre anfängliche Gestalt noch ihre ursprünglichen Namen überliefert sind. Für einige Zeichen sind auch mehrere Namen belegt (z. B. Nun (Fisch) = Nachasch (Schlange)), was vermuten lässt, dass die Namen nachträglich nach der Form der Zeichen vergeben wurden. Überhaupt darf man annehmen, dass bei der Entstehung eher Pragmatismus als Tradition bestimmend war.

Verwandtschaften

Spätere Alphabete lassen sich alle auf das nordsemitische zurückführen. Die Verwandtschaft offenbart sich dabei nicht so sehr durch die Formen der Zeichen – die können sogar sehr stark voneinander abweichen. Denn man bedient sich aus praktischen Gründen der einfachsten Zeichen wie Strich, Kreis oder Punkt (oder man reduziert komplexere Zeichen auf diese). So sind zufällige Ähnlichkeiten zwischen Systemen verschiedener Kulturkreise und Epochen sehr wahrscheinlich. Besseren Aufschluss über die Verwandtschaft geben dagegen die Reihenfolge der Buchstaben in Aufzählungen und ihr Gebrauch in Schriftzeugnissen. Man geht allgemein davon aus, dass alle späteren Alphabete Modifikationen bzw. Nachahmungen des phönizischen Alphabetes sind. Vereinzelt anderslautende Meinungen konnten sich nicht durchsetzen (siehe z. B. Vinca-Schrift, Indus-Schrift).

Die Erfindung setzt sich durch

Semitische Alphabete

Von dem gemeinsamen Vorbild aus entwickelten sich mehrere „altsemitische“ Alphabete.

Zum einen die eigentlich phönizische Schrift (Inschriften von Zypern, Malta, Carpentras und auf phönizischen Münzen, nur Konsonanten, mit oder ohne Worttrennung), davon die samaritanische und die altgriechische Schrift. Dann die phönizisch-ägyptische Schrift (auf Mumienbandagen, mit drei Vokalzeichen) und die jüdische Münzschrift. Zum anderen der aramäische Zweig, die Quadratschrift, die palmyrenische Schrift (ohne Vokale und Worttrennung, mit Ligaturen) die altsyrische Schrift Estrangelo und Kufisch, eine altarabische Schrift.

Verbreitung im Nahen Osten

Im 1. Jahrtausend v. Chr. verbreitete sich das aramäische Alphabet durch das Eindringen der aramäischen Sprache in Assyrien. Aramäische Wörter wurden ins Assyrische übernommen. Es gibt Belege für zweisprachige Texte mit jeweils einer akkadischen und einer aramäischen Fassung. Die Einfachheit des Systems gegenüber dem Silben- und Ganzwortsystem der Keilschrift verhalf dem aramäischen Alphabet zum Durchbruch. Aufgrund der stark gerundeten Zeichen war die neue Schrift nicht für Medien wie Ton geeignet. Deshalb schrieb man auf vergängliche Materialien, weshalb auch die meisten dieser Schriften verlorengegangen sind. Den Anteil gefundener Keilschrift-Dokumente aus dieser Zeit darf man deshalb auch nicht als repräsentativ betrachten (Lit.:Eva Cancik-Kirchbaum: Die Assyrer)

Über Handelswege gelangte das aramäische Alphabet bis nach China, wo die Mongolen ihre Schrift aus der aramäischen entwickelten. Weitere Ableger sind die hebräische, indische, syrische und die arabische Schrift.

Vokale kommen dazu

Schon die ersten Alphabetschriften wurden mit Vokalzeichen ergänzt. Zunächst wurden Aleph, Waw und Jod neben ihrer konsonantischen Bedeutung auch als Zeichen für lange Vokale (a, u, i) gebraucht. Andere Vokale wurden den Konsonanten in Form von Punkten oder Strichen zugeordnet. Mit der Übernahme der semitischen Alphabete in andere Sprachen wurden diese durch Vokalbuchstaben ergänzt. Einige Systeme stellten die Vokale durch kleine Modifikationen an den Konsonanten dar, wodurch diese in gewissem Sinne wieder zu Silbenzeichen wurden (z. B. die äthiopische Schrift, die aber von einem griechischen Vorbild stammt). Siehe auch zum inhärenten Vokal in der indischen Schrift.

Alphabet der Griechen

Die Griechen übernahmen das nordsemitische Alphabet samt den semitischen Namen etwa 1100 v. Chr.. Sie erweiterten es um weitere Zeichen, ersetzten diverse Zeichen aus dem phönizischen Alphabet und deuteten einige Zeichen ihrer Sprache entsprechend um. Einige phönizische Zeichen, für die man im Griechischen keine Verwendung hatte, wurden zu Vokalen. Während die Schreibrichtung zunächst linksläufig war, setzte sich 500 v. Chr. auf Kreta die Schreibrichtung von links nach rechts durch, um 700 v. Chr. bereits auch auf dem griechischen Festland.

Ursprung der indischen Alphabete

Zwischen 800 und 600 v. Chr. entwickelte sich nach einem ostaramäischen Vorbild die Brahmi-Schrift, der Vorfahre der indischen Alphabetschriften oder Abugidas.

Europa

Aus dem griechischen Alphabet entwickelte sich das etruskische, aus diesem wiederum das oskische, umbrische und römische Alphabet.

Durch die römischen Eroberungen und die Verbreitung der lateinischen Sprache setzte sich das römische Alphabet in Westeuropa durch, wozu es an die jeweiligen Sprachen angepasst wurde.

Die seit dem 3. Jahrhundert belegte Runenschrift wird entweder auf die von italischen Stämmen in den Ostalpen verwendete nordetruskische Schrift und das lateinischen Alphabet zurückgeführt oder als Schöpfung eines germanischen Volkes angesehen, das im heutigen Böhmen lebte. Bei letzterem wird wohl das Prinzip der Alphabetschrift vom lateinischen Alphabet her bekannt gewesen sein.

Das kyrillische Alphabet stammt vom griechischen ab. Es wurde um 900 von griechischen Missionaren entworfen, die die Slawen zum Christentum bekehrten.

Systematik der Alphabetschriften

Hinsichtlich ihres Bezugs zur Phonologie lassen sich die alphabetischen Schriften nach ihrer Lauttreue wie folgt einteilen:

Typ ein Buchstabe repräsentiert Beispiel
Phonetische Schrift einen Laut IPA
Phonemische Schrift ein Phonem Finnisch, Türkisch, Georgisch
Morphophonemische Schrift ein Morphophonem Deutsch, Englisch, Koreanisch

Keine Kultur hat eine vollständige phonetische Schrift entwickelt; die einzigen funktionierenden phonetischen Schriftsysteme wurden künstlich entwickelt, beispielsweise das IPA. Ein Schriftsystem auf Basis des phonetischen Prinzips wäre als Gebrauchsorthographie unbrauchbar.

Literatur

  • David Sacks: Letter Perfect: The Marvelous History of Our Alphabet From A to Z, ISBN 0767911733 (auf Englisch)
  • David Sacks: The Alphabet, ISBN 0099436825
  • Eric A. Havelock: The Muse Learns to Write: Reflections on Orality and Literacy from the Antiquity to the Present. New Haven (Conn.), 1986 (dt. Übers. Als die Muse schreiben lernte. Frankfurt 1992)
  • Eric A. Havelock: The Literate Revolution in Greece and it's Cultural Consequences. Princeton N. J., 1982 (dt. Übers. Schriftlichkeit. Das griechische Alphabet als kulturelle Revolution. Weinheim 1990)
  • Burkhard Kienast: Keilschrift und Keilschriftliteratur, in: Frühe Schriftzeugnisse der Menschheit, ISBN ?

Siehe auch

Weblinks


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