Alt-Wien

Alt-Wien
„Alt versus neu“ um 1900 – bildlich dokumentiert vom aufmerksamen Verfolger der tiefgreifenden Veränderungen dieser Zeit, dem Stadtfotografen August Stauda.
Burgring, wenige Jahre nach Fertigstellung, 1872.

Der Begriff Alt-Wien steht für die romantisch-verklärende Wunschvorstellung von einer vergangenen, unberührten und unverfälschten Stadt Wien.

Inhaltsverzeichnis

Entstehung

Die Rede von einem Alt-Wien sollte in der Zeit der Urbanisierung, als Wien durch rasantes Bevölkerungswachstum innerhalb weniger Jahrzehnte zur kaum wiedererkennbaren Zweimillionenstadt wurde, eine scheinbar intakte Vergangenheit heraufbeschwören. Diese Vergangenheit wird meist in der Biedermeierzeit (1815–1848) angesiedelt, manchmal reicht sie auch zurück ins 18. Jahrhundert. Ab den 1850er-Jahren ergreift die Urbanisierung Wien immer stärker und die Bevölkerungszahl steigt, ausgehend von etwa einer halben Million, in Fünfjahresschritten um je 100.000 bis 150.000, bis zu Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 auf über zwei Millionen.

Die prunkvolle Ringstraße wird errichtet und die alte Bebauung der ehemaligen Vorstädte sowie Neubauten werden in prächtigen Fassaden des zeitgemäßen Historismus eingekleidet. Gründerzeit und Industrialisierung rufen sowohl Reichtum für Unternehmer und Industrielle als auch große Armut in der Schar zuwandernder Arbeiter hervor. Große gesellschaftliche und kulturelle Umwälzungen gehen mit der Entstehung einer Millionenstadt einher. Je stärker diese Entwicklungen voranschritten, desto mehr wurde der Eindruck erweckt, ein „idyllisches, unberührtes Alt Wien“ gehe verloren.

Der Begriff zeigte sich oft, wenn eine Verklärung moderner Unterhaltungsformen und Medienereignisse ins Uralte und Volkstümliche angestrebt war, wie beim Wienerlied und den verbürgerlichten Volkssängern des späteren 19. Jahrhunderts.

Arten der Verklärung

Mit Alt-Wien hing vor allem ein Kult um die Zeit des Biedermeiers zusammen, auch um die bürgerlich-gesellige Musik Franz Schuberts. In diesem Zusammenhang fanden gegen Ende des 19. Jahrhunderts, mitten im großen Umbruch der Stadterweiterung und -veränderung, Veranstaltungen und Großereignisse statt, die sich in die Zeiten des „alten Wien“ zurückbesannen: etwa die Wiener Schubert-Ausstellung 1897 oder die Wiener Musik- und Theaterausstellung 1892 im Wiener Prater, die von großer Ausstrahlung war. Dort wurde eine Alt-Wien genannte Rekonstruktion des Hohen Marktes aus der Zeit nach 1710 als Erlebniswelt mit Gaststätten und Unterhaltungsanlässen aufgebaut. Auf einer nachgeahmten Jahrmarktsbühne präsentierten sich Originale wie der Schauspieler Ludwig Gottsleben. Eine scheinbar naiv-volkstümliche Zeit der ersten kommerziellen Wiener Vorstadttheater wurde Alt-Wiener Volkstheater genannt. Sie diente etwa dem Kulturpolitiker und Theatergründer Adam Müller-Guttenbrunn zur Ausgrenzung neuerer privatwirtschaftlicher Unterhaltungsformen.

Auswirkungen

Allgegenwärtig war die Alt-Wien-Nostalgie nach 1900 und zeigte sich in zahlreichen Firmennamen, Produktnamen oder Musiktiteln. Carl Michael Ziehrer schrieb einen Walzer Alt-Wien (op. 366). 1911 wurde eine Potpourri-Operette Alt-Wien nach Musik von Josef Lanner von Emil Stern im Carltheater aufgeführt. Ein Höhepunkt Alt-Wiens auf der Operettenbühne war Das Dreimäderlhaus nach Franz Schubert von Heinrich Berté 1916.

Bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg hatte Alt-Wien als Ausdruck eines allgemeinen Konservativismus große Wirkungsmacht. Er diente etwa zur Abgrenzung von der Stadt Berlin, die als das „europäische Chicago“ im Zentrum der sogenannten Amerikanisierungsdebatte stand. Alt-Wien war als Markenname etwa für Schuhe oder Porzellan beliebt und sollte eine vorindustrielle Produktionsweise (Manufaktur) signalisieren. Einen letzten Höhepunkt erreichte die Alt-Wien-Verehrung in den 1930er-Jahren, was sich in Namen wie dem 1936 eröffneten Kaffee Alt Wien niederschlägt.

Ungefähr seit den 1960er-Jahren setzte eine zunehmende Ironisierung und Entzauberung ein, wie etwa im Kabarett von Helmut Qualtinger. Die Entzauberung gipfelte in der Ausstellung des Wien Museums Alt Wien – Die Stadt, die niemals war von 2004/05.

Literatur

  • Franz Hubmann: Die gute alte Zeit. Photographien aus Wien. Vorwort von Helmut Qualtinger. Salzburg: St. Peter 1967
  • Wolfgang Kos, Christian Rapp: Alt-Wien. Die Stadt, die niemals war. Wien: Czernin 2004. ISBN 3707601935

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