Hungerkrise

Hungerkrise

Eine Hungersnot ist ein Phänomen, bei dem ein großer Anteil der Bevölkerung einer Region oder eines Landes unterernährt ist und Tod durch Verhungern oder durch hungerbedingte Krankheiten in großem Maße zunimmt. Dies kann, muss aber nicht immer mit tatsächlicher Nahrungsknappheit einhergehen. Nicht selten führten Hungersnöte zu Hungerrevolten.

Hunger war früher so weit verbreitet, dass er neben Krieg, Pestilenz und Tod als einer der „vier Apokalyptischen Reiter“ galt. Trotz der viel größeren technologischen und ökonomischen Möglichkeiten der modernen Welt kommen Hungersnöte noch in manchen Teilen der Welt vor, meistens in den so genannten Entwicklungsländern. Den größten Teil des heutigen Welthungers machen allerdings nicht akute Hungersnöte aus, sondern der chronische Hunger armer Bevölkerungsschichten.

Von der Hungersnot in Irland 1845–1849 betroffene Frau und Kinder

Inhaltsverzeichnis

Ursachen und Hintergründe

Vordergründige Ursache von Hungersnöten sind Missernten bei gleichzeitig fehlender Vorratshaltung durch natürliche Gründe wie Unwetter, Dürre, Schädlinge und sonstige Naturkatastrophen. Diese Faktoren können durch nicht nachhaltige Wirtschaftsweisen der Menschen, die etwa Erosion und Wüstenbildung fördern, verschärft werden; umgekehrt können verbesserte Vorratshaltung und angepasste Landwirtschaftsmethoden die Anfälligkeit auf Naturgefahren verringern.

Seit den 1970er Jahren werden auch zunehmend nicht nur die natürlichen und ökonomischen Ursachen der Hungersnöte betrachtet, sondern auch die sozialen und politischen Gründe analysiert. Der Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen hat festgestellt, dass es in keiner funktionierenden Demokratie jemals zu einer Hungersnot gekommen sei. Wie Amartya Sen ferner beobachtet, ist Hunger normalerweise ein Problem der Nahrungsmittelverteilung und der Armut betroffener Bevölkerungsschichten, nicht unbedingt ein absoluter Mangel an Nahrung.

Künstliche Hungersnöte werden durch Krieg oder verfehlte Politik hervorgerufen oder absichtlich mit genozidaler Absicht ausgelöst. So kann der Hunger in Fällen wie dem Großen Sprung nach vorn, Nordkorea in der Mitte der 1990er oder Simbabwe seit 2000 im Wesentlichen als Resultat der Regierungspolitik angesehen werden. In anderen Fällen wie den Bürgerkriegen in Somalia oder Sudan war Hunger eine unvermeidliche Folge des Krieges oder absichtlich herbeigeführt Teil der Kriegsstrategie, wenn Nahrungsmittelverteilungssysteme unterbrochen und landwirtschaftliche Aktivitäten unmöglich gemacht werden. Humanitäre Hilfsmaßnahmen wie die Operation Lifeline Sudan wurden teilweise von den Konfliktparteien vereinnahmt. Wird Hunger absichtlich im Krieg oder als Werkzeug einer repressiven Regierung gegen eine unerwünschte Bevölkerungsgruppe eingesetzt, spricht man auch von „Hunger als Waffe“; Beispiele hierfür sind der Holodomor in der Ukraine während der 1930er Jahre oder der Biafra-Krieg. Obwohl rechnerisch genügend Nahrungsmittel für die gesamte Weltbevölkerung vorhanden wären, gibt es auch im 21. Jahrhundert vor allem in Afrika nach wie vor Hungersnöte. Heute wird auf Hungersnöte meist mit internationaler Nahrungsmittelhilfe reagiert.

In den Jahren 2007 bis 2008 ist der weltweite Preisindex für Nahrungsmittel nach Zahlen der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) um 57 Prozent gestiegen. Vor allem Grundnahrungsmittel wie Mais, Weizen und Reis wurden um 180 Prozent teurer. Die Weltbank sieht in 33 Ländern die Gefahr von Hungerrevolten. 2008 gab es bereits auf drei Kontinenten Revolten, so führten in Haiti Unruhen zur Entlassung des Ministerpräsidenten Jacques Edouard Alexis.[1] Gründe für den Preisanstieg liegen vor allem im Bevölkerungswachstum, steigenden Energiekosten wie für Erdöl, Ernteverlusten durch Dürren und Überschwemmungen insbesondere infolge des Klimawandels, der zunehmenden Konkurrenz von Anbauflächen für Biokraftstoffe und Futtermittel für die Fleischproduktion sowie der wachsende Bedarf in Schwellenländern wie China oder Indien.[2]

siehe auch: Ursachen des Welthungers

Beispiel Sahelzone

siehe auch Hungersnot in der Sahelzone (1970er und 1980er)

Grundsätzlich kann festgestellt werden, dass neben den natürlichen Ursachen der ausbleibenden Niederschläge oder Niederschlägen zur falschen Zeit und Erosionsschäden vor allem der Mensch zu Hungersnöten beiträgt:

  • durch unterlassene Hilferufe und Gegenmaßnahmen
  • allgemeine Kriegswirren
  • fehlende Anreize zur Überschussproduktion (zu tiefe staatl. Aufkaufpreise)
  • Vermarktungsverbote
  • Anbau von Exportprodukten (Baumwolle, Erdnüsse) anstelle von Grundnahrungsmitteln
  • Verstaatlichung von Großbetrieben; niedrige Produktivität, unrationelle Arbeitsweise
  • fehlende Infrastruktur
  • hoher Bevölkerungsdruck
  • Korruption und politische Willkürmaßnahmen der Machthaber.

Folgen

Anhaltender schwerer Hunger führt dazu, dass man Ungenießbares isst (z.B. Eicheln), dass Nahrungstabus gebrochen werden (z.B. Menschenfleisch gegessen wird), dass die Hungernden z.B. Verfaultes oder Verkeimtes essen (Seuchengefahr), oder am Ende gänzlich Ungeeignetes, z.B. Schuhwerk.

Hunger hat eine starke Auswirkung auf die Demographie. Beispielsweise ist beobachtet worden, dass länger andauernde Hungerperioden zu einer Verringerung der Zahl der weiblichen Kinder führen können (siehe auch Kindestötung). Demographen und Historiker debattieren die Ursachen dieser Tendenz. Einige glauben, dass Eltern absichtlich männliche Kinder bevorzugen (indem sie weibliche Kinder verkaufen oder nach der Geburt töten, siehe Neonatizid). Andere glauben, dass biologische Prozesse (Amenorrhoe) die Ursache sein können.

Von Hungersnöten Betroffene reagieren oft auf den Druck auf ihre Existenz, indem sie Dinge wie Vieh, Landbesitz oder Werkzeuge veräußern. Dies ermöglicht ihnen kurzfristig das Überleben, schwächt aber auf lange Sicht ihre wirtschaftliche Basis. In Äthiopien haben die meisten Familien, die von der Hungersnot 1984–1985 betroffen waren, bis heute nicht das soziale und wirtschaftliche Niveau und die Produktionskapazität erreicht, die sie zuvor gehabt hatten[3].

Hungersnöte in der Geschichte

Altertum

Antike

  • 354: Antiochia, Hungersnot endet in Revolten bei denen der Gouverneur gelyncht wurde
  • 362–363: Hungersnot in Antiochia
  • 384-385: Antiochia
  • 500-501: Edessa

Europa

Protest gegen den Hunger im Ersten Weltkrieg

Westeuropa

In Westeuropa waren Hungersnöte bis ins 19. Jahrhundert verbreitet.

Russland und UdSSR

Asien

China

  • 1333–1337 große Hungersnot mit 4.000.000 Toten.
  • 1876–1879 große Hungersnot in Nordchina mit 11.000.000 Toten.
  • 1892–1894 große Hungersnot mit 1.000.000 Toten.
  • 1896–1897 große Hungersnot mit 5.000.000 Toten.
  • 1920–1921 Hungersnot in Nordchina mit 500.000 Toten.
  • 1928–1929 große Hungersnot mit 10.000.000 Toten.
  • Die größte Hungersnot in China, und vielleicht der ganzen Weltgeschichte, wurde von 1959–1961 durch den Großen Sprung nach vorn ausgelöst, ein soziales Experiment, dem 30–43 Mio. Menschen zum Opfer fielen.

Indien

  • 1630–1631 gab es eine große Hungersnot in Indien. Aufzeichnungen zeigen, dass Kannibalismus so verbreitet war, dass menschliches Fleisch auf dem freien Markt verkauft wurde.
  • 1770 erste bengalische Hungersnot mit 6.500.000 Toten.
  • 1866 Hungersnot in Bengalen und Orissa mit 1.500.000 Toten.
  • 1876–1878 große Hungersnot mit 5.000.000 Toten.
  • 1896–1897 und 1899–1902 große Hungersnot; 100 Mio. Betroffene; Schätzungen über Tote variieren stark, bis zu 11 Mio.
  • 1943–1944 große Hungersnot in Bengalen - verstärkt durch britisch-indische Kriegsanstrengungen in der Region.
  • 1966 drohende Hungersnot in Bihar. Die USA teilten 900.000 Tonnen Korn zu, um den Hunger zu bekämpfen.

Nahost

  • 362-3 In Syrien, wird in diversen antiken Quellen erwähnt.
  • 1916–1918 Hungersnot im türkisch-deutsch besetzten Libanon während des Ersten Weltkriegs infolge einer alliierten Seeblockade sowie Requirierungen durch die schlecht versorgten Truppen; außerdem infolge des hohen Spezialisierungsgrades der libanesischen Landwirtschaft, wo Grundnahrungsmittel importiert und stattdessen z. B. Weinbau und Seidenraupenzucht betrieben wurden (ca. 100.000 Tote, in einem damals von 450.000 Menschen bewohnten Gebiet)

Andere asiatische Länder

Afrika

Hunger ist auch im Afrika der modernen Zeit weit verbreitet. Klimaschwankungen, Dürren, Bodenunfruchtbarkeit, Erosion und Heuschreckenschwärme können zu Ernteausfällen führen. Weitere Unsicherheitsfaktoren sind politische Instabilität, bewaffnete Konflikte und Bürgerkriege, Korruption und Misswirtschaft, außerdem eine Handelspolitik, die die afrikanische Landwirtschaft schädigt. Schließlich hat AIDS langfristige ökonomische Effekte auf die Landwirtschaft (vor allem im südlichen Afrika), indem es die in der Landwirtschaft tätige Bevölkerung dezimiert.

Prävention

Hungersnöte können durch folgende Maßnahmen verhindert werden:

  • Vorratshaltung, sowohl staatlicherseits als auch von privater Seite
  • Erhöhung der landwirtschaftlichen Produktion
  • Schutz der natürlichen Ressourcen
  • Beseitigung der Ursachen von Ernteschädlingen
  • Unterstützung benachteiligter ländlicher Bevölkerungsgruppen (Kleinbauern, Landlose)
  • Sicherung des Rechts auf Nahrung insbesondere für ärmere Bevölkerungsgruppen

Weitere Möglichkeiten zur Verhinderung von Nahrungsmittelknappheit ist der Verzicht der Produktion und des Konsums von tierischen Proteinen. So sind zur Bildung von einem Kilogramm tierischen Proteins etwa fünf bis zehn Kilogramm Pflanzeneiweiß erforderlich.[4] Der dänische Arzt Dr. Mikkel Hindhede riet während der Grippeepidemie im Winter 1917 - 1918 die bisher als Schweinefutter verwendeten Getreide und Kartoffeln direkt für menschliche Ernährung zu verwenden. Der Schweinebestand wurde auf ein Fünftel reduziert, die Sterblichkeit der Bevölkerung sank daraufhin um 17 %.[5]

Literatur

  • Jean Ziegler: Wie kommt der Hunger in die Welt? Ein Gespräch mit meinem Sohn, Bertelsmann, München 2002, ISBN 3-570300595
  • Josef Nussbaumer c/o Guido Rüthemann: Gewalt.Macht.Hunger. Schwere Hungerkatastrophen seit 1845, ISBN 3-70651558X
  • Mike Davis: Die Geburt der Dritten Welt, Verlag Assoziation, 2004, ISBN 3-935936117
  • Gunnar Heinsohn: Lexikon der Völkermorde, Rowohlt, Hamburg 1998, ISBN 3-499-22338-4
  • Amartya Sen: Poverty and Famines: An Essay on Entitlement and Deprivation, Oxford University Press; Reprint edition (February 1, 1984)
  • William Easterly: The elusive quest for growth - Economist's adventures and misadventures in the tropics, The MIT Press, Cambridge, Massachusetts 2001

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Tagesschau.de: "Ein hungriger Mann ist ein wütender Mann"
  2. Tagesschau: Fragen und Antworten zur Hunger-Krise
  3. Jean Ziegler: Das Imperium der Schande, S. 1960
  4. Wolf, Ursula: Das Tier in der Moral, 2. Aufl. Frankfurt a.M. 2004, S. 17f.
  5. Deutschland und Dänemark verfolgten unterschiedliche Strategien zur Bekämpfung der Nahrungsmittelknappheit im Winter 1917/18

Siehe auch


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