Inkorporation (linguistisch)

Inkorporation (linguistisch)

Inkorporation oder Nominalinkorporation bezeichnet in der Sprachwissenschaft eine spezielle Wortbildungsart, bei der ein Nomen mit einem Verb kombiniert wird, wobei das Nomen seine syntaktische Selbstständigkeit verliert. Inkorporation ist oft, aber nicht nur, in nord- und südamerikanischen polysynthetischen Sprachen zu finden. Trotz der Prominenz in polysynthetischen Sprachen muss aber nicht jede polysynthetische Sprache Nominalinkorporation zulassen.

Inhaltsverzeichnis

Eigenschaften

Die folgenden Beispiele[1] stammen aus dem Tupínamba, einer ausgestorbenen Sprache Brasiliens. Der Satz in Beispiel (1.) enthält als syntaktische Konstituente ein direktes Objekt s-oβá „sein Gesicht“ zu einem Verb „waschen“:

 (1.) s-oβá           a-jos-éj
      sein Gesicht    1SG-3SG-wusch
      „Ich wusch sein Gesicht“

In Beispiel (2.) ist das nicht der Fall: Das Verb éj, „waschen“ hat den Nominalstamm oβá „Gesicht“ inkorporiert:

  (2.) a-s-oβá-éj
       1SG-3SG-Gesicht-wusch
       „Ich wusch sein Gesicht“

Die Inkorporation von direkten Objekten (die also die semantische Rolle Patiens ausfüllen) wie hier ist am weitesten verbreitet. Es können aber auch andere semantische Rollen besetzende Elemente, wie Agens, Instrument u. a. als Inkorporat erscheinen. In manchen Sprachen (wie Tupínamba und Sprachen der irokesischen Sprachfamilie) haben inkorporierte Elemente die gleiche phonologische Form wie ihre freien Pendants, in anderen Sprachen gibt es spezielle, oft phonologisch reduzierte Varianten für die Inkorporate.

Die Denotation der beiden obigen Ausdrücke ist identisch. Der Unterschied ist pragmatischer Natur: Beispiel (1.) fokussiert die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, dass ein Gesicht (und nichts anderes) gewaschen wurde, während das Inkorporation involvierende Beispiel (2.) eher die Gesamttätigkeit in den Blickpunkt rückt. Eine nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten fragwürdige Methode, die aber hilft, ein Gefühl für das Phänomen zu vermitteln, ist das Nachbauen solcher Konstruktionen mit den Mitteln der eigenen Sprache: „Ich Gesicht-wusch ihn.“

Generizität vs. Referentialität

Im Zusammenhang mit der oben angesprochenen Tatsache, dass das Inkorporation aufweisende Beispiel (2.) die Gesamthandlung in den Blickpunkt rückt, wird in der linguistischen Literatur oft angenommen, dass die inkorporierten Elemente nicht referentiell verwendet werden, d. h. dass sie sich nicht auf einen bestimmten Gegenstand, der bezeichnet werden soll, beziehen, sondern generisch funktionieren, also eher Klassen oder Typen von Gegenständen im Gegensatz zu konkreten individuellen Objekten bezeichnen.

Inkorporation in europäischen Sprachen

Von der englischen Sprache wird gesagt, dass sie einige Fälle von Inkorporation aufweise, zum Beispiel das Verb babysit. Solche Ausdrücke sind durch Rückbildung aus Nomina (in diesem Fall: babysitter) gebildet. Auch im Deutschen gibt es einige Beispiele, die Inkorporation erkennen lassen, zum Beispiel radfahren, staubsaugen, ehebrechen oder haushalten.

Zusammenhang zur Idiomatisierung

Manchmal führt Inkorporation zur Entstehung von feststehenden idiomatischen Ausdrücken, die ins Lexikon der Sprache übergehen (wie die oben genannten Deutschen Verben). Dies ist jedoch nicht mit dem Phänomen Inkorporation als solchem zu assoziieren. In obigem Beispiel (2.) könnte das Inkorporat „Gesicht“ beispielsweise durch jedes andere Nomen, das semantisch zum Verb passt, ersetzt werden.

Quellen

  1. Zitiert aus Bauer (1988: 44)

Literatur

  • Laurie Bauer: Introducing Linguistic Morphology. Edinburgh: Edinburgh University Press, 1988.
  • Nicholas Evans, Hans-Jürgen Sasse (Hrsg.): Problems of Polysynthesis. Akademie Verlag, Berlin 2002.
  • Martin Haspelmath: Understanding Morphology. Arnold, London 2002.
  • Marianne Mithun: The evolution of noun incorporation. In: Language. 1984, 60 (4), S. 847-895.
  • Edward Sapir: The problem of noun incorporation in American languages. In: American Anthropologist, 1911, 13 (2), S. 250-282.

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