- Irrtumstheorie
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Als Irrtumstheorie bezeichnet man eine philosophische Position, die einen bestimmten Diskursbereich dahingehend deutet, dass dieser a) assertorisch zu verstehen sei, d.h. die in diesem Diskursbereich gemachten Aussagen können als wahr oder falsch bestimmt werden; und b), dass alle dort gemachten Aussagen ausnahmslos falsch sind.
Inhaltsverzeichnis
Ein einfaches Beispiel
Als einfaches Beispiel sei hier die Rede (der Diskursbereich) über den Weihnachtsmann genannt: Alle über den Weihnachtsmann gemachten Aussagen (z.B. dass er zu Weihnachten den braven Kindern Geschenke bringt, dass er ein bestimmtes Aussehen hat etc.) werden normalerweise so interpretiert, dass sie wahr oder falsch sein können: Also entweder es gibt einen derart charakterisierten männlichen Bewohner in dieser Welt (dann sind einige oder alle dieser Aussagen wahr) oder eben nicht (dann sind sie falsch).
Offenkundig aber trifft keine einzige Aussage, die wir über den Weihnachtsmann (als ein tatsächlich in dieser Welt existierendes Lebewesen) machen, tatsächlich zu, d.h. sie sind allesamt als falsch einzustufen. Natürlich gibt es bestimmte Gründe, dennoch weiterhin an diesem Diskurs festzuhalten (man steht in einer bestimmten Tradition, will den eigenen Kindern eine Freude bereiten etc.), aber nichtsdestoweniger sind diese Aussagen, so die These, am besten im Licht einer Irrtumstheorie zu deuten: Sie können wahr oder falsch sein, und sind (faktisch) alle falsch.
Irrtumstheorie und ethischer Diskurs
Während das Weihnachtsmannbeispiel noch keine besonderen Probleme bereitet und philosophisch auch nicht auf größeres Interesse stößt, liegen die Dinge bei anderen Diskursbereichen schon anders: So hat der englische Philosoph John Leslie Mackie (1917-1981) in seinem Buch "Ethics. Inventing Right and Wrong." eine Irrtumstheorie der Moral vertreten: Seiner Auffassung nach versuchen wir zwar, mittels unserer moralischen Urteile (etwa "Diese Handlung ist grausam.") Aussagen über die Wirklichkeit zu machen (in dem Beispiel könnte man also etwa sagen, in der Welt gibt es eine bestimmte Entität, nämlich eine Handlung, und dieser kommt die (Wert-)Eigenschaft zu, grausam zu sein), jedoch liegt der Fehler darin, dass es nichts, keinen Gegenstand und keine Handlung, auf dieser Welt gibt, der der objektive Wert "moralisch gut" oder "moralisch falsch" zukommt - oder wenn dieser objektive Wert einem Gegenstand oder einer Handlung doch zukommen sollte, so sind wir nicht in der Lage, dies zu erkennen. Deshalb ist es uns Menschen nicht möglich, eine objektive moralische Aussage zu machen, es sei denn, wir legen unserer Bewertung einen Maßstab zugrunde. Damit verschiebt sich jedoch die Frage nach der Objektivität der moralischen Urteile auf die Frage nach der Objektivität der ihnen zugrundeliegenden Maßstäbe.
Konsequenzen der Irrtumstheorie
Eine der bereits oben angedeuteten Konsequenzen einer solchen Irrtumstheorie ist die Frage, warum man nach Aufklärung dieses Diskursbereichs überhaupt noch fortfahren sollte, darüber zu sprechen. Eine Alternative liegt darin, alle moralischen Urteile über Bord zu werfen und sich dem Amoralismus zuzuwenden.
Eine andere Möglichkeit zeigte bereits das Weihnachtsmannbeispiel: Es kann gute Gründe geben, an falschen Aussagen festzuhalten, etwa um den Kindern, wie im Fall des Weihnachtsmanndiskurses, eine größere Freude zu bereiten. Ähnlich aber stellt sich auch im Falle des Moraldiskurses die Frage nun um so drängender: Wenn es keine Wertsachverhalte gibt, die unsere Aussagen darüber wahr machen können, warum dann überhaupt noch Wertaussagen machen? Eine Möglichkeit stellt der Aufweis pragmatischer Vorteile dar, die mit einem solchen Diskurs verbunden sind: So kann es nützlich sein, weiter so zu tun, als ob es die in unseren moralischen Urteilen behaupteten Sachverhalte tatsächlich gäbe, um die Stabilität unserer gesellschaftlichen Beziehungen zu erhöhen bzw. überhaupt erst zu bewahren. Argumente für den Versuch, an einem bestimmten, im Rahmen der Irrtumstheorie gedeuteten Diskurs dennoch weiterhin im Stile des "als ob" festzuhalten, bietet der Fiktionalismus.
Mögliche Kritikpunkte
Natürlich ist die Anwendung einer Irrtumstheorie auf bestimmte Diskursbereiche abseits des Weihnachtsmannbeispiels höchst umstritten; getreu der oben beschriebenen beiden Kernthesen dieser Position bieten sich zwei Haupteinwände an:
Irrtumstheorie versus Nonkognitivismus
Zunächst mag man bezweifeln, dass unsere Urteile innerhalb eines bestimmten Diskursbereiches überhaupt assertorisch zu deuten sind; so hat man etwa im Bereich der Werttheorie den Versuch unternommen, Wertaussagen jeglicher Couleur nicht als Aussagen über die Wirklichkeit, sondern als Ausdruck unserer Gefühle zu deuten (Emotivismus als Spielart des Nonkognitivismus; wichtige Vertreter von letzterem sind hier etwa Alfred Jules Ayer und Richard Mervyn Hare, als Urahn einer emotivistischen Theorie wird gelegentlich auch David Hume angeführt). Aussagen wie "Diese Handlung ist grausam" werden so interpretiert als "Was für eine Handlung! Bäh!". Der letztere Ausdruck kann offenkundig nicht mehr wahr oder falsch sein, weil er überhaupt keine Aussage trifft; vielmehr gibt er lediglich eine bestimmte (negative) Einstellung gegenüber einer bestimmten Handlung wider.
Irrtumstheorie versus Realismus
Aber auch die zweite These der Irrtumstheorie kann in Frage gestellt werden: Gesetzt, dass ein bestimmter Diskurs als assertorisch bewertet wird, so erscheint es doch zunächst höchst fragwürdig, alle Aussagen desselben als faktisch falsch zu erklären: Auf das Beispiel des Moraldiskurses übertragen, könnte ein Gegner der Irrtumstheorie etwa einwenden, dass unsere normativen Urteile wenigstens im Bereich der Moral keineswegs alle fehlgehen, sondern sich im Allgemeinen als wahr herausstellen lassen: Es gibt dann in der Welt also werthaltige Sachverhalte wie grausame Handlungen, tapferes Verhalten, großzügige Spenden etc. Dabei scheint ein solcher Einwand die Phänomene zunächst auf seiner Seite zu wissen: Es erscheint prima facie merkwürdig, dass wir mit unseren Wertaussagen tatsächlich nichts in der Welt bezeichnen sollen: Worüber reden wir denn, wenn wir von schönen Bildern, guten Menschen etc. sprechen, wenn nicht von Sachverhalten in dieser Welt? - Wenigstens scheint der Irrtumstheoretiker hier zunächst in der Bringschuld zu sein nachzuweisen, dass es die von ihm abgelehnten Bezugsobjekte unserer Wertaussagen tatsächlich nicht gibt (oder gar nicht geben kann!). Zeitgenössische Vertreter einer solchen, Moralischer Realismus genannten Theorie sind etwa Jonathan Dancy, John McDowell und David Wiggins; als ältere, auch von Mackie selbst dafür angesehene Vertreter gelten außerdem Plato, Aristoteles, Kant und die meisten sonstigen wichtigen Moralphilosophen bis hinein ins 19. Jahrhundert.
Literatur
- Burgess, J.A. (1998): Error Theories and Values. in: Australasian Journal of Philosophy, 76 (4), S.534-552.
- Lillehammer, H. (2004): Moral Error Theory. in: Proceedings of the Aristotelian Society, 104 (2), S.93-104.
- Mackie, J.L. (1977): Ethics: Inventing Right and Wrong. Harmondsworth: Penguin. - Deutsch bei Reclam, 2000.
- Miller, A. (2002): Wright's Argument Against Error-Theories. in: Analysis, 62 (2), 98-103.
- Wiggins, D. (2005): Objectivity in Ethics: Two Difficulties, Two Responses. in: Ratio, 18 (1), S.1-26.
- Wright, C. (1996): Truth in Ethics. in: B. Hooker (Hg.): Truth in Ethics. Oxford: Blackwell, S.1-18.
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