Israelitischer Tempel Poolstraße

Israelitischer Tempel Poolstraße

Der Israelitische Tempel in der Poolstraße in der Hamburger Neustadt war von 1844 bis 1931 die Reformsynagoge des liberalen Neuen Israelitischen Tempel-Vereins. Er wurde von 1842 bis 1844 nach Plänen des Architekten Johann Hinrich Klees-Wülbern erbaut, der schon das Israelitische Krankenhaus entworfen hatte. Von dem ehemaligen dreischiffigen Gotteshaus sind heute noch die Reste der westlichen Vorhalle und das östliche Apsisgebäude als unverbundene Kriegsruinen erhalten, das Hauptschiff wurde 1944 zerstört.

Westfassade des Neuen Tempels in der Poolstraße 1844. Einzelblattzeichnung, Museum für Hamburgische Geschichte

Inhaltsverzeichnis

Die Architektur der Reformsynagoge

Die westliche Vorhalle mit der Fassade

Der Neue Tempel Innenansicht am Einweihungsabend 1844 mit Blick auf die Apsis. Kreidelithographie von Heinrich Jessen, Museum für Hamburgische Geschichte

Die Fassade des Eingangsteilgebäudes im Westen wurde von zwei seitlich stehenden achteckigen Türmen nach der Art von Minaretten flankiert und nahm sowohl Elemente des maurischen [1] als auch des klassizistisch-neogotischen Baustils auf. Das Portal des Gebäudes hatte ein hebräisches Chronostichon als Überschrift. Die Übersetzung lautet: „Gesegnet, der da kommt im Namen des Ewigen.“ Der hebräische Text hat den Zahlenwert [5]604, was nach jüdischem Kalender das Jahr 1844 bedeutet. Die Gesetzestafeln auf dem Dachfirst und der als Rosette gestaltete Davidsstern wiesen das Gebäude als Synagoge aus.

Etliche Teile des Baus entsprachen jedoch nicht den herkömmlichen Baumustern für Synagogen und wiesen auf das Reformprogramm hin: Außergewöhnlich war ein die Vorhalle eröffnendes großes Tor als gemeinsamer Eingang für Frauen und Männer. Links vom Tordurchgang führte eine Treppe zur Chorempore sowie zur Orgel. Beides befand sich also über der Vorhalle und dies war für einen orthodoxen Ritus gänzlich ungebräuchlich, auch weil der teilweise bezahlte gemischte Chor von oben und außerhalb des Hauptschiffes vortrug, obwohl üblicherweise ein Knabenchor unten in engem Kontakt zur Gemeinde sang.[2] Herkömmlich, nämlich getrennt untergebracht, war dagegen die Frauengarderobe über die genannte linke Vorhallentreppe erreichbar, rechts gegenüber befand sich die Männergarderobe.[3]

Das Hauptschiff und das östliche Apsisgebäude

Apsis des Tempels heute zum Vergleich, schwarzgerahmtes Foto des Künstlers Arne Kübitz

Das 40 m x 23 m große Hauptschiff mit Bogendach bot Platz für 380 Männer. Die Seitenmauern sind im Vergleich zum Eingangsgebäude nach außen etwa zwei Meter abgesetzt.

Der Almemor, ein erhöhter Platz mit Lesepult, auf dem aus der Tora gelesen wird, war unverziert und stand nicht mehr beherrschend im Zentrum der Synagoge, sondern an der Apsis. Der sakrale Bereich mit dem Toraschrein, die Predigtkanzel und das Lesepult waren also in unmittelbarer Nähe zueinander angeordnet.[4] Für die Frauen waren 260 Plätze auf den unvergitterten Seitenemporen bestimmt, die einen Blickkontakt mit den Männern ermöglichten. Diese Abweichungen vom herkömmlichen Baumuster ließen den Neuen Tempel in den Augen der Orthodoxie für einen jüdischen Gottesdienst ungeeignet erscheinen. [5]

Wohnhaus im Hof bei den Tempelruinen

Im Ostgebäude mit der Apsis befanden sich links ein geräumiges Sitzungszimmer und rechts das Rabbinerzimmer. Dieser Ostteil hatte hinten einen separaten Eingang; im Dachgeschoss befand sich eine Dienerwohnung.[6] Nach der Zerstörung der Synagoge war auch dieses Teilgebäude nach dem Zweiten Weltkrieg kurzzeitig bewohnt.

Freistehend und Hinterhof

Die Lage des Tempels war ein Kompromiss zwischen einer freistehenden Synagoge und einer Hinterhofsynagoge. Der Tempelverein war verpflichtet worden, vier direkt an der Poolstraße stehende Häuser zusammen mit dem Grundstück für den Tempel zu kaufen. Diese Vorderhäuser an der Poolstraße wurden − auch aus finanziellen Gründen − nicht abgerissen. Es blieb jedoch ein großer Vorplatz vor dem Gotteshaus, so dass der Tempel auf Bildern den Eindruck einer freistehenden Synagoge machte. Die rechtliche Gleichberechtigung mit den christlichen Konfessionen war noch nicht erreicht und dies nötigte zu Kompromissen. [7]

In einem Schreiben der Tempeldirektion von 1841 an den Hamburger Senat zur Zeit des Bauantrags heißt es:

Wir sind bei dem vorläufig entworfenen Bauplane von der Ansicht ausgegangen, daß es der Gottesverehrung ebensowenig würdig ist, das ihr gewidmete Haus den Blicken der Menge geflissentlich auszusetzen, als es ihr sorgsam zu entziehen. [8]

Geschichtliche Entwicklung

Einladungskarte für die Eröffnungsfeier des Tempels

Überblick

Anfang des 19. Jahrhunderts gab es sowohl eine rechtliche Emanzipationsbewegung als auch eine religiöse Reformbewegung der Juden. Im Zusammenhang mit der Reformbewegung ist der 1817 gegründete Hamburger Tempelverein durch seine Reformen besonders bekannt geworden. Der Neue Tempel (Name für die Reformsynagoge und für die Tempelgemeinde) in der Poolstraße 12−13 wurde vom Tempelverein ab 1829 geplant, weil ein erster provisorischer Tempel im Alten Steinweg 42 (Ecke Brunnenstraße, ebenfalls in der Neustadt) zu klein geworden war. Der Tempelverein hatte sich inzwischen von 65 (1817) auf etwa 800 (1841) zum Teil wohlhabende Mitglieder vergrößert und der Bau des Gotteshauses wurde Anfang der 1840er Jahre beantragt und genehmigt. Der Tempel wurde ein paar Tage vor dem jüdischen Neujahrsfest Rosch ha-Schanah am 5. September 1844 um 19 Uhr feierlich eingeweiht. Zuvor gab es eine ereignisreiche Entwicklung, die mit den ersten Erfolgen der Judenemanzipation Anfang des 19. Jahrhunderts begann. Die Reformsynagoge wurde bis 1931 als Bethaus benutzt.

Judenemanzipation und Hamburger Brand

Salomon Heine. Er war ein Mäzen der Stadt Hamburg, Mitglied des Tempelvorstands und besonderer Förderer des Tempelvereins

Seit den 1840er Jahren, vollzog sich mit der Emanzipation der Juden ihre rechtliche Verbesserung bis hin zur Gleichstellung. Nach dem Hamburger Brand von 1842 gehörte sie zu den Konsequenzen, die man aus den Mängeln der alten Strukturen zog. [9] Durch Hamburger Ratsbeschluss wurden am 5. Dezember 1842 Erwerbseinschränkungen für Israeliten aufgehoben und 1860 durch eine Reform der Staatsverfassung die Rechtsstellung der Juden erheblich verbessert.

Auch einzelne Ereignisse trugen dazu bei: Salomon Heine, ein angesehener Bürger der Stadt und Mitglied im Vorstand des Tempelvereins, hatte während des Hamburger Brandes sein Haus zum Abriss freigegeben, um eine Schneise schlagen zu lassen. Tatsächlich endete das Feuer an dieser Stelle. Nach dem Brand unterstützte der Bankier die Stadt beim Wiederaufbau.

Die Grundsteinlegung des Tempels fand 1842 nicht öffentlich statt, weil der Tempelverein die Bürger, die durch den Brand obdachlos geworden waren, nicht brüskieren wollte.

Reformbewegung und Tempelverein

Gleichzeitig mit der Judenemanzipation bildete sich in Deutschland eine an der jüdischen Aufklärung (Haskala) orientierte Reformbewegung des Judentums, die eine religiöse Erneuerung hervorrief, die noch heute vor allem in Nordamerika fortbesteht. Israel Jacobson, Hoffaktor von Jérôme Bonaparte, gründete 1810 als erster in Seesen (und später in Kassel) eine reformorientierte Schulsynagoge.

Aus dieser Bewegung des Reformjudentums heraus gründeten 65 jüdische Hausväter im Dezember 1817 in Hamburg den Neuen Israelitischen Tempelverein und bauten 1818 ihr provisorisches erstes Gotteshaus in der südlichen Neustadt. Darunter waren auch Honoratioren wie Meyer Israel Bresselau, Lazarus Gumpel and Ruben Daniel Warburg. Dies war die Geburtsstunde der Hamburger Tempelbewegung. Beim ersten Tempel handelte sich um die erste offizielle deutsche Reformsynagoge mit Orgel, deutscher Predigt und gemischtem Chorgesang. [10] Diese Reformen mit der Übernahme einer klassizistischen Kirchen-Bauform, Ähnlichkeit zwischen der Amtstracht der Pastoren und Rabbiner bewirkte eine Akkulturation der Israeliten in Hamburg.

Gabriel Riesser, Politiker, Jurist, Kämpfer für die rechtliche Gleichstellung der Juden, Mitglied des Tempeldirektoriums

Salomon und Riesser

Der Rabbiner Gotthold Salomon[11] und der Politiker Gabriel Riesser waren Symbolfiguren für die Verbindung von politischer Judenemanzipation und der religiösen Reform des Tempelvereins.

[Lasst uns] ... auf den Tag schauen, wo wir als freie Menschen Bürgerheil und Bürgerglück mit erstreben dürfen,

heißt es in einem Gebet von Gotthold Salomon am 18. Okt. 1843 zum 25jähriges Bestehen des Hamburger Tempelvereins. [12] Salomon schrieb Streitschriften gegen Friedrich Traugott Hartmann 1835 und Bruno Bauer 1843, die sich gegen die Judenemanzipation aussprachen und wurde 1848 als Mitglied des Liberalen Wahlvereins in die verfassunggebende Versammlung („Konstituante“) in Hamburg gewählt. [13]

Gabriel Riesser, Politiker, Publizist und später Vizepräsident der Frankfurter Nationalversammlung, war sowohl Kämpfer für die Emanzipation der Juden als auch von 1840 bis 1843 Mitglied der Direktion des Hamburger Tempelvereins. Er erreichte 1843, dass der Poolstraßentempel auf den Namen des Tempelvereins gekauft und eingetragen werden durfte. Bisher mussten Juden (im Gegensatz zu den christlichen Konfessionen) Synagogen auf den Namen einer Privatperson erwerben. Riesser wurde 1859 nach langen Kämpfen Obergerichtsrat in Hamburg und damit der erste jüdische Richter in Deutschland.

Merkmale der Reform des Tempelvereins

Während der Leipziger Messe 1820 wurden Gottesdienste im Stil des Hamburger Tempels gehalten, die die Reformbewegung auch im Ausland allgemein bekannt machten. In den USA wurde 1842 nach Hamburger Vorbild der Tempel Har Sinai in Baltimore gegründet. Diese Gemeinde hatte das umstrittene Hamburger Tempelgebetbuch übernommen. 1845 folgten in New York City der Temple Emanu-El. Heute gibt es in den USA sehr viele Reformgemeinden nach Hamburger Vorbild. [14]

Besondere Merkmale der Reformen waren die Neuordnung des Gottesdienstes, die eine Orientierung an den christlich-protestantischen Gottesdienst nicht leugnen konnte, und die Neugestaltung der Synagoge als Tempel:

Die Predigt wurde als besonderer Bestandteil des Gottesdienstes in deutscher Sprache gehalten und der Rabbiner im Ornat übernahm eine besondere Rolle im Gottesdienst, der bisher in der Regel allein vom Chasan (Kantor) gehalten wurde. Von Eduard Kley wurde das Bar Mitzwa-Fest (religiöse Mündigkeit, erstes öffentliches Vorlesen aus der Tora für Jungen) durch eine Art jüdischer Konfirmation für Jungen und Mädchen ersetzt. Die Gebete wurden teilweise in deutscher Sprache oder nach sefardischem Vorbild gemäß dem Aufsehen erregenden Hamburger Gebetbuch gesprochen oder gesungen. Die Frauenräume wurden als Empore gestaltet und nicht mehr vergittert. Das Gotteshaus hieß Tempel. Damit wurde die ausschließliche Orientierung auf das Ziel aufgegeben, den Tempel in Jerusalem wieder aufzubauen.[15]

Drei führende Prediger im Tempel aus der Anfangszeit: Eduard Kley, Gotthold Salomon und Naftali Frankfurter. Kreidelithografie von B.A.Bendixen. Museum für Hamburgische Geschichte

Der erste Hamburger Tempelstreit

Diese Reformen führten zum ersten Hamburger Tempelstreit. Die Gründung des Neuen Tempelvereins erregte inhaltlich großes Aufsehen. Für die Orthodoxie inakzeptabel war z. B. der Satz in einer Predigt Salomons von 1825 „Dies ist die Mitte unseres Neuen Jerusalems“ – „…eine deutlichere Abkehr und stärkere Identifikation mit der neuen Heimat ist unvorstellbar“ [16] Programmatisch und provokant wirkte die für das Bethaus gewählte Bezeichnung „Neuer Tempel“, die als deutliche Abkehr einer Sehnsucht nach Jerusalem verstanden wurde und eine Identifikation mit dem deutschen Vaterland zum Ausdruck brachte. [17] Aber auch formal-kirchenrechtlich war unklar, welche Organisation zur Vertretung der Juden in Hamburg berechtigt war. Der Hamburger Senat schlichtete 1819 die Auseinandersetzung einfach dadurch, dass er eine Trennung der jüdischen Gemeinde verbot. Es gab danach eine Deutsch-Israelitische Gemeinde Hamburgs (DIGH) mit mehreren Kultusverbänden, eine Neuerung, die als Hamburger System bekannt wurde:

  • Der Deutsch-Israelische Synagogen-Verband
  • Der Israelitische Tempel-Verband (Name allerdings noch bis 1868 ausnahmsweise: Verein) [18]
  • Die Dammtor-Synagoge (ab 1895 erbaut, ab 1912 Verein, ab 1924 eigenständiger Kultusverband) [19]

Nach jahrelangen Auseinandersetzungen wurden am 3. November 1867 die „Statuten der Hamburger Deutsch-Israelitischen Gemeinde“ verabschiedet und alsbald vom Senat bestätigt. Eine Spaltung der Gemeinde wurde dadurch verhindert. Diese Statuten bildeten bis zur Auflösung der Gemeinde im Jahre 1938 die Grundlage ihrer Existenz. 1868 wurde aus dem bisherigen Tempelverein der Israelitische Tempel-Verband.

Der zweite Hamburger Tempelstreit

Der zweite Hamburger Tempelstreit entbrannte 1841, als das inzwischen bekannt gewordene Hamburger Gebetbuch in einer Neuauflage erschien. Den orthodoxen Rabbinern war das Gebetbuch zu liberal. Sie nahmen die Neuauflage zum Anlass, die schon 1818 ausgesprochene heftige Kritik an der Gebetsreform zu bekräftigen. [20]

Der bedeutendste Gegenspieler der Hamburger Reformbewegung war der Rabbiner Chacham Isaak Bernays, der 1841 eine öffentliche Bekanntmachung gegen das neue Gebetbuch des Tempelvereins schrieb. Darin wurden die Gebetstexte als eine „Verstümmelung“, „Abweichung“ und „Zerstörung“ des Gebetgeistes angeprangert. [21] Der konservative Oberrabbiner beanstandete, dass essenzielle Teile der alten hebräischen Ordnung (Seder) fehlten, verfälscht wurden oder durch deutsche Texte ersetzt worden waren. Inhaltlich gab es im Gebetbuch und im Reformprogramm eine Tendenz vom Messianismus und Zionismus zum Liberalismus und zur patriotischen Rechtsstaatlichkeit: Statt der Bitte um Rückkehr nach Israel hieß es im neuen Gebetbuch (Hamburger Tempelgebetbuch von 1841) nunmehr „Befreiung von Unterdrückung und Ungerechtigkeit“ in ihren jeweiligen Ländern. [22]

Das Heinrich-Heine-Denkmal auf dem Hamburger Rathausmarkt

„In zwei verschiedne Parteien“ − Heines Charakterisierung

Der von seinem reformorientierten Onkel Salomon Heine aus Hamburg unterstützte Dichter Heinrich Heine sah die Gefahren, die von einer religiösen Spaltung des Judentums ausgehen können, und charakterisierte die Hamburger Situation Ende 1843 − also kurz vor der Fertigstellung des Poolstraßentempels – folgendermaßen:

„Die Juden teilen sich wieder ein
In zwei verschiedne Parteien;
Die Alten gehn in die Synagog’,
Und in den Tempel die Neuen.
Die Neuen essen Schweinefleisch,
Zeigen sich widersetzig,
Sind Demokraten; die Alten sind
Vielmehr aristokrätzig.
Ich liebe die Alten, ich liebe die Neu’n -
Doch schwör ich, beim ewigen Gotte,
Ich liebe gewisse Fischchen noch mehr,
Man heißt sie geräucherte Sprotte.“ [23]
Felix Mendelssohn Bartholdy im Alter von 30 Jahren

Musik im Tempel

Die musikalische Gestaltung des Tempelgottesdienstes war eine aufsehenerregende Reform. Dass in einer Synagoge ein Chor auf der Empore zu Orgelbegleitung sang, war etwas vollkommen Neues und löste heftige Diskussionen aus. [24] Der erste Kantor der Tempelgemeinde David Meldola führte portugiesische (genauer: sefardische) Melodien ein und verrichtete die Gebete mit der sefardischen Aussprache, die zwar im Ruf sprachwissenschaftlicher Korrektheit stand [25], aber gegenüber der üblichen aschkenasischen Sprechweise als empfindlicher Bruch der Tradition galt. Teilweise wurde sogar die melodische Rezitation der Gebete und der Bibeltexte als unzeitgemäß angesehen und durch einfaches Vorlesen ersetzt. Für die Gesänge und Chorstücke im Tempel wurden außerdem neue Kompositionen geschrieben.

Der Autor Eric Werner behauptet, dass der Musiker Felix Mendelssohn extra für die Einweihung des Tempels in der Poolstraße ein Chorstück über den 100. Psalm („Jauchzet dem Herrn alle Welt“) komponiert habe. [26] Tatsächlich sind Teile eines Schriftverkehrs zwischen dem Vorsitzenden des Hamburger Tempelvereins Maimon Fraenkel und Felix Mendelssohn erhalten, in dem eine solche Komposition erbeten wurde. In diesem Schriftwechsel ging es unter anderem darum, ob die lutherische Psalmübersetzung (die Felix Mendelssohn bevorzugte) oder die von Moses Mendelssohn, dem Großvater von Felix, genommen werden sollte. Tatsächlich wurde der 100. Psalm bei der Eröffnungsfeier während des Toraeinzugs jedoch auf Hebräisch gesungen.[27] Daher bleiben Zweifel, ob die nicht erhaltene Fassung von Felix Mendelssohn stammt. [28]

Erst nach der Märzrevolution 1848 nahmen auch die konservativeren Gemeinden musikalische Anregungen auf. Sie ließen seitdem teilweise auch in ihren Synagogen Orgeln einbauen. Gemäß einer Zählung von 1933 verfügten damals 74 jüdische Gemeinden in Deutschland über eine Orgel. [29]

Nach Meldola wirkten die Kantoren Joseph Piza, Ignaz Mandl, Moritz Henle und Leon Kornitzer am Tempel.

Der Gottesdienst im Tempel

Im Tempel gab es folgende Tempelgeistliche: Eduard Kley, Gotthold Salomon, Naftali Frankfurter, Hermann Jonas, Max Sänger, David Leimdörfer, Caesar Seligmann, Paul Rieger, Jacob Sonderlich, Schlomo Rülf und Bruno Italiener.

In der Anfangszeit des Hamburger Tempels betrieben die Rabbiner die Reform so stark, dass sich teilweise auch innerhalb der Tempelgemeinde Widerstände von Mitgliedern bildeten, denen die Reformen zu weit gingen. Bis in die 1860er Jahre hinein wurden am Freitagabend zwei Gottesdienste abgehalten. Der erste war die übliche Sabbateröffnung vor dem häuslichen Vorabendsegen bei Einbruch der Dunkelheit, der zweite war dagegen als Konzession an die Geschäftsleute auf eine späte Abendstunde gelegt worden. [30]

Später kehrte sich die Situation in ihr Gegenteil um: Die Prediger wurden konservativer und versuchten hier und da Reformen rückgängig zu machen oder abzuschwächen. Als Nachfolger für den verstorbenen Naftali Frankfurter wurde der als orthodox geltende Max Sänger 1867 angestellt. [31] 30 Jahre nach der Einführung der sephardischen Aussprache führte der Kantor Henle die aschkenasische wieder ein[32] und die Rabbiner ließen sich wieder Geistliche - im Gegensatz zum provokanten Reformausdruck Prediger - nennen.

Die Frage, wer Nachfolger von Gotthold Salomon werden sollte, führte zu einigem Aufsehen, auch weil das geschaltete Stelleninserat einen unverheirateten Theologen vorsah, was für einen Rabbi sehr ungewöhnlich war. [33]

Weitere Entwicklungen in der Tempelgemeinde

In den Jahren 1857 und 1858 wurde in direkter Nachbarschaft zum Poolstraßentempel die Kohlhöfensynagoge errichtet. Sie war die erste freistehende Synagoge in Hamburg.

Im Jahre 1861 führte Hamburg als erster Staat in Deutschland die Zivilehe ein, was einen Einschnitt besonders in die jüdische Gemeindeautonomie bedeutete. Die Konsequenzen aus der Verfassungsreform von 1860 wurden durch das Gesetz betreffend die Verhältnisse der hiesigen israelitischen Gemeinden vom 4. November 1864 gezogen: Der Gemeindezwang wurde aufgehoben und die Möglichkeit des Austritts aus der Gemeinde eröffnet.

Die jüdischen Hausvorstände zahlten ihre Steuern an die gemeinsame Deutsch-Israelitische Gemeinde. Zehn Prozent davon konnte man für einen der Kultusverbände bestimmen. Eine Finanzierung der Tempelgemeinde geschah außerdem durch Vermietung der Sitzplätze im Tempel.

Gottesdienst in einer heutigen Reformsynagoge

War die Tempelgemeinde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch ihre Reformen sehr bekannt geworden, so hatte sie doch in der zweiten Hälfte nicht mehr den erwarteten Zulauf. Auch wenn der Tempelverein sich vorwiegend aus wohlhabenden Mitgliedern zusammensetzte, gab es immer wieder Geldprobleme. Die orthodoxen Synagogengemeinden waren populärer, wesentlich mitgliederstärker und dadurch auch finanziell besser abgesichert als die Tempelgemeinde.

Ende des 19. Jahrhunderts flohen viele jüdische Immigranten aus Osteuropa nach Hamburg, insbesondere nach den Pogromen im Russischen Reich nach dem Attentat auf Zar Alexander II. 1881. Hamburg als Auswanderungshafen wurde eine wichtige Zwischenstation auf dem Wege nach Nordamerika. Jüdische Emigranten gründeten nach Hamburger Vorbild neue Tempelgemeinden in den USA.

1910 führte die Tempelgemeinde monatlich eine Sonntagsveranstaltung ein, die allgemein Anklang fand. [34] Die Prediger Dr. Leimdörfer und Dr. Sonderling hielten abwechselnd religiös-wissenschaftliche Vorträge. Zwar wurde dies vereinzelt vom orthodoxen Judentum als Sonntagsgottesdienst angeprangert, aber die Kritik war längst nicht mehr so emotional wie im frühen 19. Jahrhundert, denn die orthodoxen Rabbiner sahen in der Tempelgemeinde keinen starken Gegner mehr. [35]

Die Amtseinführung des letzten Rabbiner des Tempels Dr. Italiener 1929 wurde als eine große Feier gestaltet. Unter seiner Leitung sei die Tempelgemeinde zu einer lebendigen jüdischen Gemeinschaft geworden, heißt es in Berichten. [36]

Orientierung zum Grindel

Ende des 19. Jahrhunderts erschien vielen Juden das Wohnumfeld im alten Judenviertel der Neustadt als beengt und zu ärmlich. 1861 wurde die Torsperre Hamburgs aufgehoben und 1865 die Gewerbefreiheit eingeführt. Besonders aber nach dem Abschluss der Judenemanzipation mit der Reichsgründung 1871 und dem gleichzeitigen Beginn der Gründerjahre wurden die Stadtteile jenseits des neuen Dammtors um das Grindelviertel bevorzugtes Ansiedlungsziel der jüdischen Bevölkerung.

Die Bevölkerungsentwicklung um die Jahrhundertwende kann man folgender Tabelle entnehmen: [37]

Anzahl jüdischer Einwohner im Jahr 1895 Jahr 1925
Altstadt/Neustadt 9211 1453
Rotherbaum/Harvestehude/Eimsbüttel 3858 10774

Diese neue Situation führte zum Bau der Neuen Dammtor-Synagoge (1895, Beneckestraße 2-6, heute auf dem Campus der Universität Hamburg) und der Hauptsynagoge am Bornplatz (1906, heute Joseph-Carlebach-Platz). Auch der Tempelverband plante einen größeren Tempel und zwar in der Oberstraße (Oberstraße 120 in Hamburg-Harvestehude), der 1931 eingeweiht wurde. Bis 1938 wurde diese neue Reformsynagoge als Bethaus benutzt und musste dann zwangsverkauft werden. Heute ist dort das Rolf-Liebermann-Studio des Norddeutschen Rundfunks.

In der Poolstraße fand 1931 der letzte Gottesdienst statt und das Tempelgebäude diente danach dem Tempelverband als Magazin. 1937 wurde es verkauft. Ihm blieben die Zerstörungen der Reichspogromnacht 1938 erspart: Es war keine aktive Synagoge mehr und die Nationalsozialisten sahen bei Hinterhofsynagogen zudem die Gefahr, dass das Feuer auf die Nachbargebäude übergriff. Im Zweiten Weltkrieg wurden im ehemaligen Tempel Schulbänke gelagert und im Juli 1944 zerstörte ihn ein Bombentreffer der Alliierten bis auf die erhaltenen Reste.

Nachfolgend sind Grabstätten von in diesem Artikel erwähnten Personen aufgeführt. 1935 forderte der Hamburger Senat, den jüdischen Friedhof am Grindel (Rentzelstraße) zu räumen. Die Gebeine der Toten und Hunderte von Grabsteinen wurden 1937 auf den Jüdischen Friedhof in Hamburg-Ohlsdorf überführt:


Gegenwart

Die Ruine der Westfassade des Tempels heute, Hinterhof Poolstraße 12-13. Man erreicht die Tempelreste, indem man vom heutigen Johannes-Brahms-Platz aus ca. zwei Minuten in Richtung Neustadt geht.
Grafik der Apsis von Heiner Studt: Tempel 2, 2004, Gicléedrucke auf Hahnemühlebütten, 100 cm x 150 cm

Heutige Ruinen

Heute sind in der Westportal-Ruine eine Autowerkstatt, eine Goldschmiede und dahinter eine Schlosserei untergebracht. Es gibt insgesamt vier Gedenktafeln, die auf die ehemalige Synagoge hinweisen. [38] Das Denkmalschutzamt der Hamburger Kulturbehörde hat das Ensemble Poolstraße 11, 12, 13, 14 (also sowohl die Reste der ehemaligen Hinterhofsynagoge als auch die dazugehörigen Wohnhäuser an der Straßenfront Poolstraße) 2003 in die Denkmalliste eingetragen. [39] Eine Gedenkstätte ist nicht eingerichtet, das Apsisgebäude verfällt.

Kulturelle Adaption in der Gegenwart

Zwei Hamburger Künstler haben sich intensiv mit dem Tempel auseinandergesetzt und Kunstwerke mit Bezug zum Tempel geschaffen:

Am 23. und 24. August 2003 entwarf der Künstler Arne Kübitz auf der Veranstaltung „Art meets Großneumarkt“ in Hamburg vor den Augen des Publikums ein Modell des Tempels in der Poolstraße aus Teilen alter Schreibmaschinen unter dem Motto „Spurensuche“. [40] Der Künstler Heiner Studt erstellte vier Großgrafiken zum Tempel, außerdem eine mehrteilige Bilderfolge zu den dort verbliebenen Innenräumen der Westportal-Ruine.

Einzelnachweise

  1. Man sah im 19. Jahrhundert den maurischen Baustil nicht als islamisch, sondern als typisch jüdisch an siehe diesen Weblink über die Geschichte jüdischen Lebens. Später wurde dieser Baustil neoorientalisch erneuert wie bei der Alten Synagoge in Heilbronn
  2. Siehe Zeitungsbericht 1856, Andreas Brämer: Judentum und religiöse Reform. Der Hamburger Israelitische Tempel 1817-1938 Hamburg 2000 S. 202
  3. Die architektonischen Angaben über die Räume im Tempel sind einer architektonischen Gebäudeskizze eines städtebaulichen Wettbewerbs zu entnehmen. Die Skizze und Baupläne sind bei der Baubehörde einsehbar.
  4. Zielrichtung war eine Anlehnung an die Einheit von Wort und Sakrament, die nach dem Vorbild der reformierten Kirchen die Predigt besonders betonte.
  5. Julia Seidler: Der Hamburger Prediger Gotthold Salomon (1784-1862) und sein Wirken für das Reformjudentum. Magisterarbeit (mscr), Berlin 2004, S. 59
  6. Wieder gemäß oben genannter Gebäudeskizze
  7. Freistehende Gotteshäuser waren bis Mitte des 19. Jahrhunderts ein Privileg der christlich-konfessionellen Landeskirchen. Vgl. auch Andreas Brämer, S. 42
  8. Schreiben der Tempeldirektion an den Senat vom 21. Juli 1841, Staatsarchiv Hamburg, vgl. auch: Andreas Brämer, S. 42 Anm. 114 S. 104
  9. Ulrich Bauche, Vierhundert Jahre Juden in Hamburg
  10. Ursula Wamser/Wilfried Weinke (Hrsg.): Eine verschwundene Welt: Jüdisches Leben am Grindel. Überarbeitete Neuauflage Hamburg 2006. S. 66
  11. Die Rabbiner im Tempel werden auch vielfach Prediger genannt
  12. Seidler, S. 54
  13. Bauche, Vierhundert Jahre... S. 301
  14. vgl. den Aufsatz von Rose Proszowski über den Beginn des progressiven Judentums.
  15. Andreas Brämer, Judentum und religiöse Reform Der Hamburger Israelische Tempel 1817 - 1938 Hamburg 2000
  16. Kommentar Seidler 54
  17. Harold Hammer-Schenk: Synagogen in Deutschland. Bd. 1, Hamburg 1981, S. 154, ISBN 3-7672-0726-5
  18. Der Hamburger Senat tolerierte trotz Trennungsverbot 1819 noch vorläufig und ausnahmsweise die Organisationsform Verein, siehe Dokument in: Andreas Brämer, Judentum, S. 132
  19. Andreas Brämer, Judentum, S. 266 Anmerkung 818
  20. Ein englischsprachiger Weblink spricht sogar von einem Bann 1818 des Rabbinerrats (the dayanin of the Beth Din): "Directly after the publication of the new prayer book in 1818 the dayanin of the Bethdin of the orthodox German-Israelite Community posted a ban"
  21. Andreas Brämer, Judentum... S. 177 (Text des Originaldokuments)
  22. Seidler 47/48
  23. Verse aus: Heinrich Heine, Deutschland. Ein Wintermärchen, Caput XXII
  24. Andreas Brämer, Judentum und religiöse Reform S. 15 - Der ungarische Rabbiner Aaron Chorin veröffentlichte 1818 ein Buch zur Verteidigung der Orgel in der Synagoge.
  25. Andreas Brämer, Judentum und religiöse Reform S. 15
  26. Eric Werner, Felix Mendelssohn’s Commissioned Composition for the Hamburg Temple. The 100th Psalm (1844), in: Musica Judaica 7/1 (1984-1985), S.57. siehe auch: diesen Webaufsatz von Hirsch
  27. Sitzungsprotokolle in: Andreas Brämer, Judentum und religiöse Reform S. 191
  28. nochmal siehe: diesen Link
  29. Encyclopaedia Judaica, Artikel „Music“, Bd. 12, S. 650
  30. Ruben Maleachi, Die Synagogen in Hamburg.
  31. Andreas Brämer, S. 211
  32. Ruben Maleachi, Die Synagogen in Hamburg; Wamser/Weinke, 2006, S67; Andreas Brämer, Judentum, S. 61
  33. Andreas Brämer, Judentum, S. 61
  34. So die Allgemeine Zeitung des Judentums vom März 1910. zitiert von Joseph Norden, Dokument in: Andreas Brämer, Judentum... aaO. S. 231
  35. Joseph Norden, in: Andreas Brämer aaO. S. 231
  36. Wamser/Weinke 2006 S. 67
  37. summiert aus einer umfangreicheren Tabelle siehe Wamser/Weinke S. 20
  38. Zwei verschiedene direkt an der Poolstraßen-Häuserfront (Nummern 11, 14), eins beim Apsisgebäude und eins bei der rechts benachbarten Schule. Letzteres enthält auch Daten von Rabbinern.
  39. siehe link des Hamburger Denkmalschutzamts
  40. siehe dieser Weblink

Literatur

  • Andreas Brämer: Judentum und religiöse Reform. Der Hamburger Israelitische Tempel 1817-1938. Dölling und Galitz Verlag, Hamburg 2000 ISBN 3-933374-78-2
  • Harold Hammer-Schenk: Synagogen in Deutschland. 2 Bde, Hamburg 1981, ISBN 3-7672-0726-5
  • Julia Seidler: Der Hamburger Prediger Gotthold Salomon (1784-1862) und sein Wirken für das Reformjudentum. Magisterarbeit (mscr), Berlin 2004
  • Ulrich Bauche (Hrsg.): Vierhundert Jahre Juden in Hamburg: eine Ausstellung des Museums für Hamburgische Geschichte vom 8. November 1991 bis 29. März 1992. Hamburg: Dölling und Galitz, 1991. ISBN 3-926174-31-5
  • Ursula Wamser/Wilfried Weinke (Hrsg.): Eine verschwundene Welt: Jüdisches Leben am Grindel. Überarbeitete Neuauflage Hamburg 2006. ISBN 3-934920-98-5
  • Michael Koglin: Spaziergänge durch das jüdische Hamburg. Geschichte in Geschichten, Hamburg 1998.
  • Ruben Maleachi: Die Synagogen in Hamburg. Staatsarchiv Hamburg, maschinenschriftlich ohne Signatur. Veröffentlicht in: Mitteilungen des Verbandes ehemaliger Breslauer und Schlesier in Israel e.B. Nr. 46-47 Mai 1980
  • Institut für die Geschichte der deutschen Juden, Landeszentrale für politische Bildung Hamburg: Jüdische Stätten in Hamburg - Karte mit Erläuterungen. 3. Aufl. Hamburg 2001, unverkäuflich.
  • Institut für die Geschichte der deutschen Juden (Hrsg.): Das Jüdische Hamburg – ein historisches Nachschlagewerk, Göttingen 2006
  • Irmgard Stein: Jüdische Baudenkmäler in Hamburg, Hamburg 1984
  • Wilhelm Mosel: Wegweiser zu den ehemaligen Stätten jüdischen Lebens oder Leidens in Hamburg, Hamburg 1983
  • Nachum T. Gidal: Die Juden in Deutschland von der Römerzeit bis zur Weimarer Republik [1988] 1997
  • David Leimdörfer: Der Hamburger Tempel Hamburg 1889
  • Caesar Seligmann (1860 - 1950): (Hrsg. von Erwin Seligmann) Erinnerungen Frankfurt am Main 1975

Weblinks

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