James Bryce

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James Bryce

James Bryce, 1st Viscount Bryce (* 10. Mai 1838 in Belfast; † 22. Januar 1922 in Sidmouth, war ein britischer Jurist, Historiker und Politiker aus Belfast.

Nach dem Studium in Glasgow wirkte er zunächst als Jurist in London, später als Professor für Bürgerliches Recht in Oxford. 1878 verfasste er das Buch „The Holy Roman Empire“. Nach Aufenthalten in Armenien publizierte er 1878 das Buch „Transcaucasia and Ararat“. Von 1907 bis 1913 wirkte er als englischer Botschafter in den USA. Nach Ausbruch des 1. Weltkriegs untersuchte er für den Premier Herbert Henry Asquith deutsche Gräuel in Belgien (Bryce-Report) und dann die türkischen Armeniergräuel, über die er am 15. September 1915 dem Premier und am 6. Oktober 1915 im britischen Oberhaus berichtete. Gemeinsam mit dem Historiker Arnold Toynbee sammelte er Berichte über die Massaker an den Armeniern und organisierte weltweite Solidaritätsmaßnahmen. Er verstand es, wissenschaftliche Interessen mit humanistischen Idealen und politischer Konsequenz zu verbinden, war allerdings auch Subjekt britischer Kriegspropaganda.

Inhaltsverzeichnis

Leben

Jurist und Historiker

James Bryce war der Sohn eines Schotten, der mit seiner Familie lange in Irland (Belfast) gelebt hatte und dort über viele Verwandte verfügte. Nach ersten Universitätskursen in Glasgow studierte Bryce am Trinity College, Oxford, und wurde 1862 zum Mitglied („Fellow“) von Oriel gewählt. Er arbeitete einige Jahre als Anwalt in London, bevor er an die Universität Oxford als „regius professor of civil law“ zurückkehrte (1870–1893). Seine internationale Reputation als Wissenschaftler begründete jedoch sein geschriebenes Buch über „The Holy Roman Empire“ („Das Heilige Römische Reich“), das 1864 erstmals erschien und zahlreiche englische und deutsche Neuauflagen erlebte. 1888 fügte Bryce, angeregt durch zahlreiche Aufenthalte in den USA, ein weiteres vielbeachtetes Standardwerk hinzu, als er - quasi als politologische und soziologische Momentaufnahme - in „The American Commonwealth“ das politische System der USA minutiös analysierte. Auch dieses Werk erlebte zahlreiche Neuauflagen.

Politische Tätigkeit

Durch Herkunft (Angehöriger einer nonkonformistischen Kirche) und Bildungsgang war Bryce von Jugend auf ein entschiedener Anhänger der Liberalen Partei. 1880 wurde er für diese erstmals in das Unterhaus gewählt, und er verteidigte seinen Parlamentssitz in allen folgenden Jahren erfolgreich, bis er ihn 1907 infolge seiner Ernennung zum Botschafter aufgab.

Bryce war ein vielseitig gebildeter, aber wohl kein mitreißender Redner. Vielen Abgeordneten erschien er zu sehr als „Professor“. Dennoch führten ihn seine umfangreiche Bildung, sein Fleiß und seine auf zahllosen Reisen erworbene Weltkenntnis sehr rasch in die Führungsgruppen seiner Partei. Bereits 1885 wurde er von Premierminister Gladstone zum stellvertretenden Außenminister Großbritanniens berufen (Under-Secretary of State for Foreign Affairs), doch musste er dieses Amt bereits im selben Jahr nach der Wahlniederlage der Liberalen wieder verlassen. Auch seine folgenden Regierungsämter waren stets nur von kurzer Dauer: 1892 gehörte er dem letzten Kabinett Gladstones als Minister ohne Geschäftsbereich an (Chancellor of the Duchy of Lancaster), doch schon 1894 wechselte er unter dem neuen Premier Lord Rosebery in das Handelsressort (President of the Board of Trade), das er mit der liberalen Wahlniederlage von 1895 wieder verlassen musste. Es folgte ein Jahrzehnt der Opposition, in dem sich Bryce als unverdrossener Anhänger Sir Henry Campbell-Bannermans auszeichnete, weshalb ihn dieser beim erneuten liberalen Machtantritt 1905 als Minister für Irland (Chief Secretary for Ireland) erneut ins Kabinett berief; doch auch diese Regierungsfunktion endete rasch, als Bryce im Februar 1907 zum britischen Botschafter in Washington, D.C., ernannt wurde.

Während der Oppositionszeit um 1900 figurierte Bryce als entschiedener Kritiker der repressiven britischen Kriegführung im Burenkrieg zwischen 1899 und 1902. Obwohl er sich in der aufgeheizten Atmosphäre des Jingoismus zeitweilig höchst unpopulär machte, verdammte er rückhaltlos vor allem die systematische Zerstörung burischer Farmen und die Internierung von Alten, Frauen und Kindern in britischen Konzentrationslagern (concentration camps).

Sein wichtiges diplomatisches Amt in den USA nahm Bryce dann lange, bis 1913, wahr. Er war - mit zahlreichen alten Freunden und Bekannten in der US-amerikanischen Politik und Wissenschaft, darunter US-Präsident Theodore Roosevelt - überaus erfolgreich in seinem Bemühen, die Anglo-Amerikanische Freundschaft zu festigen. Der spätere deutsche Botschafter in Washington, Graf Johann Heinrich von Bernstorff, gab Jahrzehnte später offen zu, wie erleichtert er war, dass er nicht mehr mit Bryce als diplomatischem Gegenspieler zu tun hatte, als es im Ersten Weltkrieg darum ging, die Neutralität der USA sicherzustellen - was Bernstorff trotz aller Probleme immerhin bis 1917 gelang.

Letzte Lebensjahre

Nach seiner Pensionierung als Botschafter und seiner Rückkehr nach London wurde James Bryce 1913 zum Lord erhoben (Viscount Bryce of Dechmount) und folglich erbliches Mitglied des Oberhauses (House of Lords) - jener parlamentarischen Kammer, die von seiner Liberalen Partei in den vorangegangenen Jahren scharf bekämpft und in der Parlamentsreform von 1911 weitgehend entmachtet worden war.

Schon aufgrund seiner Reiseerfahrungen im Kaukasus in den 1870er Jahren hatte sich Bryce eine sehr negative Meinung über die osmanische Herrschaft gebildet, während er eine tiefe Sympathie für das armenische Volk hegte. Während des Ersten Weltkriegs erhielt er Gelegenheit, sich - wenn auch vergeblich - mit aller Kraft für die Armenier einzusetzen, als er im Auftrag der Regierung das sog. „Blue Book“ über den Armenier-Genozid im Osmanischen Reich (1916) erarbeitete. Schon zuvor hatte Bryce als Erster im britischen Parlament im Oktober 1915 die systematische Vernichtung der Armenier durch die Jungtürken im Oberhaus öffentlich zur Sprache gebracht.

Diese Veröffentlichungen zu deutschen Kriegsverbrechen in Belgien (1915) und zum jungtürkischen Armenier-Genozid hatten zweifellos auch propagandistische Funktionen - namentlich mit Blick auf die Beeinflussung von Politik und Medien in den damals noch neutralen USA. Dessen ungeachtet scheinen jedoch wesentliche Inhalte dieser Publikationen der Wahrheit zu entsprechen und lassen sich nicht - wie dies gelegentlich noch heute geschieht - als „bloße Propaganda“ abtun.

In seinen letzten Lebensjahren arbeitete Bryce für den Internationalen Gerichtshof in Den Haag, unterstützte die Gründung des Völkerbundes und publizierte ein Buch über „Modern Democracy“ (1921). Bryce war ein entschiedener Demokrat und nicht zuletzt deshalb schon seit den 1870er Jahren ein Bewunderer der USA. Freilich hat Bryce das Phänomen der Massendemokratie, das sich nach 1918 auch in Großbritannien (allgemeines Wahlrecht, Frauenwahlrecht) durchsetzte, partiell auch kritisch bewertet. So war Bryce ein vehementer Gegner des Frauenwahlrechts, von dem er eine fundamentale Veränderung des Geschlechterverhältnisses erwartete.

Literatur

  • H. A. L. Fisher, James Bryce: Viscount Bryce of Dechmont, O.M., 2 vols. London resp. New York (1927).
  • Thomas Kleinknecht, Imperiale und internationale Ordnung. Eine Untersuchung zum anglo-amerikanischen Gelehrtenliberalismus am Beispiel von James Bryce (1838 - 1922), Göttingen (1985).
  • John T. Seaman Jr., A Citizen of the World: The Life of James Bryce, London/New York (2006).
  • Arnold Toynbee, Armenian Atrocities. The Murder of a Nation. With a speech delivered by Lord Bryce, London-New York-Toronto (1915).
  • Akaby Nassibian, Britain and the Armenian Question 1915-1923, London-Sydney-New York (1985).

Weblinks


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