Juliette oder die Vorteile des Lasters

Juliette oder die Vorteile des Lasters
Niederländischer Druck zu de Sades "Juliette oder die Vorteile des Lasters", ca. 1800.

Juliette oder die Vorteile des Lasters (franz. Originaltitel: Histoire de Juliette, ou les Prospérités du vice ) ist der 1796 vom Schriftsteller Marquis de Sade verfasste Folgeroman des Werks mit dem Titel "Justine oder das Unglück der Tugend". 1797 erschienen anonym beide Romane als zehnbändige Ausgabe mit 4000 Seiten unter dem Titel "Die neue Justine oder das Unglück der Tugend, sowie die Geschichte der Juliette, ihrer Schwester" (davon sechs Bände Juliette mit 64 pornographischen Illustrationen).

Nach dem Tod der Eltern verlassen die mittellosen Schwestern Justine und Juliette die Klosterschule. Die bisexuelle, grausame und lasterhafte Juliette wird Prostituierte, lernt einflussreiche Freunde kennen, begeht eine Vielzahl von Verbrechen und erlangt Reichtum und Glück. Die tugendhafte Justine hingegen erlebt ein Unglück nach dem anderen und wird von den Menschen gepeinigt und für ihre Moral bestraft.

Der Roman enthält eine Vielzahl von bizarren, sadomasochistischen und mörderischen Szenen, die von weltanschaulichen Einlassungen der handelnden Hauptpersonen unterbrochen werden.

Inhaltsverzeichnis

Inhaltszusammenfassung

Im Gegensatz zu Justine wird Juliette schon in der Klosterschule verdorben und feiert ihre erste Orgie in den Katakomben des Klosters auf den Särgen der verstorbenen Nonnen. Sie macht als Prostituierte Karriere und freundet sich mit dem verbrecherischen Libertin Noirceuil an, den sie sogar dafür bewundert, dass er ihre Eltern erst ruiniert und dann vergiftet hat. Über Noirceuil lernt sie den Staatsminister Saint-Fond kennen, der auf Staatskosten mit einem lasterhaften Kreis von Gleichgesinnten ständig verbrecherische Sex- und Gewaltorgien feiert, die jeden Monat 30 Frauen zu Tode bringen. Nachdem sie ihren ersten Mord an einer anderen Frau begangen hat, die sich weigerte, mit ihr sexuell zu verkehren, versichert sich der Minister der Dienste Juliettes beim Vergiften seiner Widersacher. Lady Clairwil, eine weitere Person aus dem Umfeld der verbrecherischen Lüstlinge, wird Juliettes beste Freundin, und über diese erhält sie Zugang zur "Gesellschaft der Freunde des Verbrechens", die sich satzungsgemäß verpflichten, jede erdenkliche Art von Verbrechen als vergnügliche Sportart zu betreiben.

Nachdem Juliette zögerte, sich an einem Plan Saint-Fonds zu beteiligen, zur Sanierung der Staatskasse zwei Drittel der Einwohner des übervölkerten Frankreichs dem Hungertod auszuliefern, muss sie aus Paris fliehen und verliert ihren Besitz. Sie heiratet den wohlhabenden Grafen Lorsagne, den sie alsbald vergiftet und bereist anschließend Italien, wo ihr die verschiedensten verbrecherischen Sensationen aus dem italienischen Gesellschaftsleben vorgeführt werden. Im Apenningebirge macht sie die Bekanntschaft mit dem monströsen Minski, der Juliette das Fleisch ihrer geschlachteten Kammerzofe auf dem Rücken nackter Mädchenleiber serviert und danach eine Hinrichtungsmaschine vorführt, mit der 16 Personen gleichzeitig auf verschiedene Weise zu Tode gebracht werden. In Florenz erlebt sie eine orchestrierte Hinrichtungsaufführung, wo im Takt der Musikbegleitung die Köpfe der Verurteilten rollen. In Rom lernt sie die Prinzessin Borghese als Brandstifterin kennen, die mit polizeilicher Hilfe eine Reihe römischer Krankenhäuser abfackelt. Der Papst liest für sie eine schwarze Messe, in deren Verlauf er einem Knaben das Herz aus dem Leib reißt und verschlingt. In Neapel trifft sie ihre alte Freundin Clairwil, die dort mit ihrem Bruder Brisa-Testa, einem berüchtigten Räuber, in einem Inzestverhältnis lebt. Der König von Neapel gibt mörderische Theateraufführungen, bei denen pro Vorstellung über tausend Menschen zu Tode gebracht werden. In Venedig eröffnet Juliette mit der Giftmischerin Durand ein Bordell und macht damit ein Vermögen. Nach Streitigkeiten mit dem Dogen von Venedig verliert sie die Hälfte ihres Geldes und begibt sich zurück nach Frankreich, wo ihr alter Freund Noirceuil inzwischen den Minister Saint-Fond beseitigt hat. Nach einer Wiederbegegnung mit ihrer Schwester Justine, die danach vom Blitz erschlagen wird, lebt Juliette noch zehn Jahre in Glück und Reichtum.

Erläuterung des Inhalts

De Sade konnte sich in der Schilderung der italienischen Ereignisse teilweise auf reale Personen und Begebenheiten berufen, die allerdings von ihm übersteigert wurden. Neben persönlichen Reiseeindrücken stand ihm für seine Schilderungen das Werk "Geheime und kritische Memoiren und Sitten der größeren Staaten Italiens" (1794) von Joseph Gorani zur Verfügung. So wurde z.B. der Königin von Neapel, Marie-Karoline (Königin Charlotte), der Schwester von Marie Antoinette ein Verhältnis mit Lady Hamilton zugeschrieben, ferner habe sie mit ihrem Liebhaber unter Verdrängung ihres Gemahls die Macht an sich gerissen. Papst Pius VI. z.B. wurde Verschwendungssucht und ein Inzestverhältnis mit seiner Tochter nachgesagt.

Daneben wurde Sade von der aus England überschwappenden neuen Mode des Schauerromans beeinflusst, was die schwarze Romantik mancher Episoden erklärt, z.B. die unheimliche Begebenheit mit dem monströsen Menschenfresser Minski.

In Form seines Episodenromans stellte uns de Sade eine vorrevolutionäre Raubtiergesellschaft von Amoralisten vor. Korruption, Geilheit und Geldgier regierten das Ancien régime. Doch darüber hinaus beinhaltet die Sicht de Sades einen Hang zum Anarchismus, den Individualismus der allein ihrer Triebhaftigkeit folgenden Subjekte auf die Spitze zu treiben. Auch die Despoten können sich nicht mehr ihres Lebens sicher sein, denn außer dem Naturrecht, als dem Recht des Stärkeren, wird keine ordnende Hand der Welt anerkannt. Jeder Verbrecher kann jederzeit von einem nachfolgenden größeren Schurken beseitigt werden. Eine kleine Unachtsamkeit nur, wenn Juliette in einer Schrecksekunde angesichts des Vorschlags erbleicht, die Bevölkerung Frankreichs entscheidend und nachhaltig zur Sanierung des Staatshaushalts zu dezimieren, reichen dem Staatsminister Saint-Fond, in ihr eine todeswürdige Schwäche auszumachen, die seine Mordlust entfacht. Auch die Herrenmenschen müssen im Kampf ums Dasein wie die Fliegen untergehen. Noirceuil beseitigt Saint-Fond , weil der ihm zu gefährlich geworden ist, die Brandstifterin Prinzessin Borghese wird in einer Laune Juliettes in den Vesuv gestürzt, weil sie ihr nicht böse genug erscheint. Clairwil die beste Freundin wird vergiftet. Ein Mord kann auch l'art pour l'art geschehen, ganz ohne materiellen Zweck; kein Zweckrationalismus darf über dem obersten Prinzip des naturhaft Bösen stehen, das den triebhaften Menschen beherrscht.

Exkurs „Juliette oder Aufklärung und Moral“

Der Marquis de Sade wurde als Philosoph erst in den 1930er Jahren entdeckt. Er wurde der Aufklärung, genauer: dem „französischen Materialismus“ zugerechnet. Erich Fromm, als Mitarbeiter des von Max Horkheimer gegründeten Frankfurter Instituts für Sozialforschung, machte 1934, als sich die dort versammelten Vertreter der Kritischen Theorie noch als Avantgarde der Aufklärung sahen, auf die „sehr fruchtbaren Gedanken de Sades“ aufmerksam. [1] Sades Gedanken waren aber für sie erst brauchbar, als Max Horkheimer und Theodor W. Adorno ihr Buch Dialektik der Aufklärung schrieben. Darin stellten beide 1944 fest: „Die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils“. Diese Wahrnehmung veranlasste sie zu einer Revision ihrer früheren Position und zur Abwendung von der Aufklärung. Eine wesentliche Rolle dabei spielten die Ideen de Sades.

Horkheimer und Adorno befassen sich im Kapitel Juliette oder Aufklärung und Moral ihrer Dialektik der Aufklärung ausführlich mit den Ansichten de Sades und stellen sie den philosophischen Gedanken Friedrich Nietzsches und Immanuel Kants gegenüber.

In Kants Schrift Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung ist wie folgt vermerkt „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit[2]. Der aufgeklärte Mensch bedarf keiner Autorität, keiner Tradition, keines Gottes, sondern nutzt selbständig und unabhängig seinen Verstand. Er beruft sich in seiner wissenschaftlichen Weltsicht auf die Naturgesetze, die er in der Zusammenstimmung seines Denkens mit den sinnlich wahrgenommen Erscheinungen konstruiert. Das Falsche offenbart sich im Mangel des systematischen Denkens, wenn die Dinge nicht funktionieren, der Funke im Labor nicht zündet, die Brücke einstürzt, der Krieger von der besser funktionierenden Waffe des Gegners getötet wird. Als mündig folgt der Bürger in der Gesellschaft dem Prinzip der Selbsterhaltung; in Gestalt „des Sklavenhalters, freien Unternehmers, Administrators“ ist er „das logische Subjekt der Aufklärung[3]. Die Morallehren der Aufklärung, die der als Aberglaube geschwächten Religionslehre eine Vernunftmoral entgegenzustellen suchten, in der jedermann einem allgemeinen Prinzip zustimmen solle, scheitern, wenn das Selbstinteresse diesen entgegen steht. Der Bürger, der dem Kantischen kategorischen Imperativ aus der Kritik der praktischen Vernunft beistimmt, „Handele so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne[4], folgt keiner wissenschaftlichen Vernunft, sondern einer Narretei, wenn er sich deswegen einen materiellen Gewinn entgehen lässt. Unlebendiges und Lebendes bis hin zum Menschen werden dem Herrschenden zum Material. Was zählt ist die „schlaue Selbsterhaltung“ im Kampf um die Macht und für den unterworfenen Einzelnen „die Anpassung ans Unrecht um jeden Preis“.

Bei de Sade wie bei Nietzsche wird das „szientifische Prinzip ins Vernichtende“ gesteigert. Juliette „dämonisiert den Katholizismus als jüngste Mythologie und mit ihm Zivilisation überhaupt“. Die Quintessenz formuliert Nietzsche in seinem Werk Der Antichrist: „Die Schwachen und Missrathnen sollen zu Grunde gehen: erster Satz unsrer Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen.[5]. Doch während Nietzsche das große Ziel der Lehre vom „Übermenschen“ im Blick hat, ist die aufgeklärte Juliette vom „Vorurteil fürs Große“ frei, bei ihr regiert der reine Nihilismus. Alles bleibt sinnfrei der Willkür des verbrecherischen Lustprinzips verhaftet. „Selbst noch Unrecht, Hass, Zerstörung werden zum Betrieb, seitdem durch Formalisierung der Vernunft alle Ziele den Charakter der Notwendigkeit und Objektivität als Blendwerk verloren haben.“ So demontiert Sades Juliette alle Konventionen und Werte – Familie, Religion, Gesetz, Moral –, nichts vermag übrig zu bleiben, was die Gesellschaft ehemals zusammenhielt, alles fällt dem Wirtschaftsbetrieb und der enthemmten Ökonomie der aufgeklärten Verbrechergangs zum Opfer.

Nach Horkheimer/Adorno nimmt Juliette mit ihren „privaten Lastern“ die „öffentlichen Tugenden“ der totalitären Ära des 20. Jahrhunderts vorweg. „Die Unmöglichkeit, aus der Vernunft ein grundsätzliches Argument gegen den Mord vorzubringen [bekundet] die Identität von Herrschaft und Vernunft.

Fußnoten

  1. Erich Fromm: Besprechung von "Geoffrey Gorer: The revolutionary Ideas of the Marquis de Sade". In: Zeitschrift für Sozialforschung, 3(1934), S. 426-427
  2. Immanuel Kant: Was ist Aufklärung? (in Wikisource) (1784)
  3. Alle Zitate (soweit nicht anders angegeben): Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a. M. 1969, Seite 74ff, ISBN 3-436-01487-7
  4. Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, Stuttgart 73, § 7 Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft, Seite 53, ISBN 3-15-001111-6
  5. Friedrich Nietzsche: Der Antichrist, KSA 6, S. 170.

Siehe auch

Literatur

  • Juliette oder die Vorteile des Lasters, ISBN 3-548-30221-1, Ullstein 1989
  • Marquis de Sade, Ausgewählte Werke I-III, Hamburg, 1962-65
  • Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a. M., 1969

Weblinks


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