Kasusgrammatik

Kasusgrammatik

Die Kasusgrammatik ist eine Theorie zur grammatischen Analyse, die von dem amerikanischen Sprachwissenschaftler Charles J. Fillmore ab 1968 im Rahmen der Transformationsgrammatik entwickelt worden ist. In dieser Theorie werden Sätze als Kombination aus einem Verb und einem oder mehreren Tiefenkasus (d. h. semantischen Rollen, Kasusrollen), wie Agens, Instrumental oder Experiencer, aufgefasst.

Nach Fillmore selegiert jedes Verb eine bestimmte Anzahl von Tiefenkasus, die den Kasusrahmen bilden. Ein solcher Kasusrahmen beschreibt also wichtige Aspekte der semantischen Valenz von Verben, Adjektiven und Nomen. Kasusrahmen unterliegen bestimmten Einschränkungen; so kann z. B. ein Tiefenkasus pro Satz nur einmal auftreten. Manche Kasus sind obligatorisch, andere optional. Obligatorische Kasus dürfen nicht getilgt werden, da sonst ungrammatische Sätze entstehen. In diesem Sinne ist z. B. * Peter gab den Ball ungrammatisch.

Eine grundlegende Hypothese der Kasusgrammatik ist, dass grammatische Funktionen wie Subjekt oder Objekt in Abhängigkeit von Tiefenkasus selegiert werden. Fillmore (1968) stellt für eine universale Regel zur Selektion des Subjekts folgende Hierarchie auf:

Agens < Instrumental < Objektiv

Das bedeutet: Falls der Kasusrahmen eines Verb einen Agens enthält, wird dieser als Subjekt eines Aktivsatzes realisiert; ansonsten steht der Tiefenkasus, der dem Agens in der Hierarchie folgt (also der Instrumental), in der Subjektposition.

(1) John (A) opened the door (O).

(2) The key (I) opened the door (O).

Im ersten Satz enthält der Kasusrahmen einen Agens, der zum Subjekt wird. Im zweiten Satz enthält der Kasusrahmen keinen Agens, sondern als nächstes Element in der Hierarchie einen Instrumental, der zum Subjekt wird.

Die Anzahl der Tiefenkasus bzw. semantischen Rollen variiert je nach Forschungsansatz. So nennt Fillmore 1968 sechs semantische Rollen (Agentive, Instrumental, Dative, Factitive, Locative, Objective), erweitert und verändert diese Liste jedoch und unterscheidet 1971 die folgenden neun Rollen:

  • Agent (Peter repariert sein Auto.)
  • Experiencer (Maria wundert sich über ihren Vater.)
  • Instrument (Ich öffnete die Tür mit dem Schlüssel.)
  • Object (Die Regierung hat ein Denkmal errichtet.)
  • Source (Die Sauce béarnaise stammt aus Frankreich.)
  • Goal (Die Kinder gehen an den Strand.)
  • Location (Unter der Mirabeau-Brücke fließt die Seine. Apollinaire)
  • Time (Was morgen sein wird, vermeide zu fragen. Horaz)
  • Path (Wir fuhren auf der Bundesstraße den Neckar entlang.)

Wie die einzelnen semantischen Rollen syntaktisch ausgedrückt werden, hängt von dem verwendeten Verb ab: So wird der Experiencer beim Verb „sich wundern“ als Subjekt ausgedrückt (s.o.), beim Verb „erstaunen“ dagegen als direktes Objekt (Das Verhalten ihres Vaters erstaunt Maria). Auch zwischen Einzelsprachen bestehen Unterschiede in der syntaktischen Realisierung der semantischen Rollen; Im Satz Mir ist kalt erscheint der Experiencer als indirektes Objekt, in der englischen Entsprechung I am cold dagegen als Subjekt.

Der Einfluss der Kasusgrammatik auf die zeitgenössische Sprachwissenschaft war bedeutend; so greifen zahlreiche linguistische Theorien die semantischen Rollen in der ein oder anderen Form wieder auf, etwa die Theta-Theorie als Teiltheorie der Rektions- und Bindungstheorie von Noam Chomsky. Die Kasusgrammatik hat außerdem Anregungen gegeben für die Entwicklung Frame-basierter Repräsentationen in der KI-Forschung.

In den 1970er und 1980er Jahren entwickelte Fillmore seine ursprüngliche Theorie weiter zur sogenannten Frame-Semantik.

Siehe auch

Literatur

  • Fillmore, Charles J. (1968): The Case for Case. In: Bach & Harms (Hrsg.): Universals in Linguistic Theory. New York: Holt, Rinehart, and Winston, 1-88.
  • Fillmore, Charles J. (1971): Some problems for Case Grammar. In: R.J. O´Brien (Hrsg.): 22nd Annual Round Table. Linguistics: Developments of the sixties – viewpoints of the seventies, Band 24 der Reihe Monograph Series on Language and Linguistics, Georgetown University Press, Washington D.C., 35-56.
  • Glück, Helmut (Hrsg.) (2000): Metzler Lexikon Sprache. Stuttgart/Weimar: Verlag J.B. Metzler.

Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Нужна курсовая?

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Kasusgrammatik — Ka|sus|gram|ma|tik 〈f. 20; unz.; Sprachw.〉 von C. J. Fillmore begründete sprachwissenschaftl. Theorie, nach der das Verb u. die anderen Satzelemente durch Kasusrelationen aneinandergebunden sind * * * Kasusgrammatik,   im Rahmen der generativen… …   Universal-Lexikon

  • Kasusgrammatik — Ka|sus|gram|ma|tik 〈f.; Gen.: ; Pl.: unz.; Sprachw.〉 (von C. J. Fillmore begründete) sprachwissenschaftl. Theorie, nach der das Verb u. die anderen Satzelemente durch Kasusrelationen aneinander gebunden sind; Syn. Kasussemantik …   Lexikalische Deutsches Wörterbuch

  • Kasusgrammatik — Ka|sus|gram|ma|tik die; : grammatische Theorie, die den einfachen Satz als eine Verbindung von Verb u. einer od. mehreren ↑Nominalphrasen interpretiert, von denen jede aufgrund bestimmter Relationen zwischen den Kasus an das Verb gebunden ist… …   Das große Fremdwörterbuch

  • Kasus — Der Kasus [ˈkaːzʊs] (Pl.: Kasus mit langem u [ˈkaːzuːs]) (auch: „der Fall“) ist eine grammatische Kategorie der nominalen Wortarten. Inhaltsverzeichnis 1 Etymologie 2 Begriff …   Deutsch Wikipedia

  • Casus — Der Kasus [ˈkaːzʊs] (Pl.: Kasus mit langem u [ˈkaːzuːs]) (auch: „der Fall“) ist eine grammatische Kategorie der nominalen Wortarten. Inhaltsverzeichnis 1 Etymologie 2 Begriff …   Deutsch Wikipedia

  • Fälle — Der Kasus [ˈkaːzʊs] (Pl.: Kasus mit langem u [ˈkaːzuːs]) (auch: „der Fall“) ist eine grammatische Kategorie der nominalen Wortarten. Inhaltsverzeichnis 1 Etymologie 2 Begriff …   Deutsch Wikipedia

  • Semantische Rolle — Unter semantischen Rollen versteht man eine Bedeutungsfunktion eines Satzteils in Bezug auf ein Verb des Satzes. Die Theorie der semantischen Rollen oder der thematischen Rollen wie sie auch genannt wird, ist der wesentliche Bestandteil der… …   Deutsch Wikipedia

  • Charles J. Fillmore — (* 1929) ist ein US amerikanischer Linguist. Er ist der Begründer der Kasusgrammatik und der Frame Semantik und gehört zu den Begründern und wichtigsten Vertretern der Konstruktionsgrammatik. Karriere Fillmore promovierte 1961 an der University… …   Deutsch Wikipedia

  • Thematische Rolle — In der generativen Grammatik, insbesondere der Rektions und Bindungstheorie und der Standardtheorie der Transformationsgrammatik, ist eine Theta Rolle oder θ Rolle das formale Mittel, um eine syntaktische Argumentenstruktur (die Anzahl und Art… …   Deutsch Wikipedia

  • Theta-Raster — In der generativen Grammatik, insbesondere der Rektions und Bindungstheorie und der Standardtheorie der Transformationsgrammatik, ist eine Theta Rolle oder θ Rolle das formale Mittel, um eine syntaktische Argumentenstruktur (die Anzahl und Art… …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”