Semantische Rolle

Semantische Rolle


Unter semantischen Rollen versteht man eine Bedeutungsfunktion eines Satzteils in Bezug auf ein Verb des Satzes. Die Theorie der semantischen Rollen oder der thematischen Rollen wie sie auch genannt wird, ist der wesentliche Bestandteil der Kasusgrammatik, der Satzsemantik sowie der Functional Grammar.

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Semantische Rollen sind semantisch-syntaktische Konstrukte, die in verschiedenen Grammatikmodellen dazu verwendet werden, semantische Grundverhältnisse innerhalb von Sätzen zu beschreiben. Ähnliche Begriffe sind Thematische Rollen, Thematische Relationen, Tiefenkasus, Kasusrollen oder Theta-Rollen (bei Noam Chomsky (1981)). Die genaue Unterscheidung und Bestimmung dieser Begriffe hängt von ihrer Stellung innerhalb der jeweiligen Grammatikmodelle ab. Gemeinsam ist diesen Bemühungen jedoch der Versuch, semantische Größen (wie z. B. Agens, Ziel, Instrument) zur Beschreibung von syntaktischen Verhältnissen einzusetzen. Motiviert sind diese Ansätze nicht nur von dem allgemeinen Bestreben, Syntax und Semantik in einem Grammatikmodell zu erfassen, sondern auch in dem Versuch eine Universalgrammatik zu erarbeiten, mit der sich alle Sprachen darstellen und erfassen lassen. Nicht selten wird deshalb für die einzelnen semantischen Rollen ein universeller Status beansprucht, der mit den Eigenschaften der kognitiven Grundausstattung des Menschen begründet wird.

Das Konzept der Semantischen Rollen gibt es etwa seit Ende der 60er Jahre. Die linguistische Diskussion war in dieser Zeit stark durch die Rezeption und die Auseinandersetzung mit der Syntaxtheorie von Chomsky bestimmt. Chomsky hatte 1965 mit Aspects of the Theory of Syntax eine Version der Generativen Transformationsgrammatik vorgelegt, die zwar bestimmte semantische Aspekte (s. Interpretative Semantik) berücksichtigte, die jedoch nach wie vor der Syntax die zentrale Rolle in der Sprachbeschreibung einräumte. Viele Linguisten bemühten sich in der Zeit nach 1965 die Semantik mehr in den Mittelpunkt der linguistischen Theorie zu rücken (Weiteres unter: The Linguistics Wars - Lakoff gegen Chomsky). Neben der sogenannten Generativen Semantik (George Lakoff, James D. McCawley) galt vor allem der Ansatz die Kasusgrammatik als ein wichtiger Versuch zur Integration der Semantik in eine generative Sprachbeschreibung.

Als einflussreichster Beitrag in dieser Anfangsphase kann der 1968 von Charles J. Fillmore verfasste Aufsatz The Case for Case genannt werden. Er unterschied zwischen den Oberflächenkasus (Nominativ, Akkusativ, Genitiv, Dativ) und den Tiefenkasus (Agentiv, Instrumental, Dativ, Faktiv, Lokativ und Objektiv). Diese Tiefenkasus charakterisieren die semantischen Beziehungen der verschiedenen Nominalphrasen die hauptsächlich durch ein Verb vorgegeben sind.

In dem Satz (1) John öffnet die Tür mit dem Schlüssel ist der Oberflächenkasus von Schlüssel der Dativ; in dem Satz (2) Der Schlüssel öffnet die Tür steht Schlüssel im Nominativ. Nach dem Konzept des Tiefenkasus nach Fillmore ist 'Schlüssel' von seiner semantischen Rolle her aber in beiden Fällen Instrumental. John ist in (1) Agentiv. Neben Fillmores Arbeiten spielen auch die Ansätze von Jerry S. Gruber (1967) und Ray S. Jackendoff (1972) in dieser Anfangsphase eine Rolle. Sie sprechen nicht von Tiefenkasus, sondern von Kasusrollen.

Die Ansätze wurden vielfach rezipiert und in eine ganze Reihe von Grammatikmodellen integriert. Die bekannteste dürfte die Version der Generativen Grammatik von Chomsky aus dem Jahre 1981 sein. (Lectures on government and binding, kurz GB). Eine Komponente der GB-Theorie ist die Kasustheorie, in der den Theta-Rollen (Thematische Relationen) eine wichtige Funktion zukommt. Für die Rezeption in Deutschland ist vor allem das Buch „Deutsche Satzsemantik“ von Peter von Polenz (1988) hervorzuheben. Im Gegensatz zu den oben aufgeführten amerikanischen Arbeiten behandelt Peter von Polenz die semantischen Rollen aber nicht im Rahmen einer generativen Grammatik. Er verbindet die Vorstellung von semantischen Rollen vielmehr mit den grammatischen Auffassungen der Dependenz-Grammatik nach Lucien Tesnière (in der Version von Hans Jürgen Heringer).

Trotz der intensiven theoretischen Beschäftigung mit der Thematik ist der grammatische Status semantischer Rollen prinzipiell immer noch ungeklärt. Das Spektrum reicht hier von einer expliziten Aufnahme in das grammatische Inventar (wie bspw. im Sinne der Tiefenkasus) bis hin zu einem völligen Ausschluss aus der grammatischen Berechnungsebene. Letztere Ansätze wiederum gehen häufig von prototypischen Merkmalen aus, die nicht grammatisch sondern außersprachlich konzeptuell basiert sind, und reduzieren dabei die Menge semantischer Rollen auf zwei prototypische Instanzen, d. h. Proto-Agens bzw. -Patiens (s. bspw. Dowty, 1991)).

In psycholinguistischen Arbeiten zum Thema wird der Status semantischer Rollen häufig mit deren Einfluss auf den initialen Strukturaufbau in Verbindung gebracht. Hier steht die Frage im Vordergrund, ob semantische Rollen als nicht-syntaktische Informationseinheiten im sogenannten „first-pass parse“ des Satzverstehens die syntaktische Strukturierung determinieren, was - bei positiver Beantwortung - zur Annahme eines interaktiven und nicht-modularen Modells der Sprachverarbeitung zwingt (s. hierzu u. a. Friederici et al., 1996; McRae et al., 1997).

Grundbegriffe

Satz

Ein Satz ist die materielle Seite einer Aussage. Aussagen werden auch Propositionen genannt. Laut der Kasusgrammatik ordnet ein Prädikat die Beziehungen zwischen den Teilen eines Satzes.

So ordnet das Prädikat SCHWIMMT die einzelnen Bestandteile des Satzes

Lisa SCHWIMMT im Wasser.

Als Proposition schreibt man, vereinfacht, folgendermaßen:

SCHWIMMT (Lisa, im Wasser)

Semantische Rollen

Den in der Klammer genannten Satzteilen werden semantische Rollen zugewiesen. Man kann sie zunächst erfragen:

Wer SCHWIMMT? Lisa!

Wo SCHWIMMT (sie)? Im Wasser!

Lisa hat, da sie etwas tut, die Rolle des Handelnden im Satz. Diese Rolle bezeichnet man als Agens, Aktor oder Handelnder.

Im Wasser ist eine Ortsangabe. Aebli notiert diese folgendermaßen (nach Aebli 1993, 117):

SCHWIMMT (Lisa, IM: Wasser)

Sinnvoller aber ist es, der Ortsangabe eine allgemein definierte Rolle zukommen zu lassen. Peter von Polenz schlägt vor, diese mit LOC (nach Locativ, Ort, Raum) zu benennen. Lisa handelt, und wird deshalb als AG (Agens, Agentiv, Handelnder) bezeichnet. Daraus ergibt sich folgende Notation:

SCHWIMMT (AG: Lisa, LOC: Wasser)

Liste mit semantischen Rollen

Peter von Polenz stellt eine, wie er selber zugibt, nicht unproblematische Liste mit semantischen Rollen auf:

  • AG (Agens, Handelnder): Person oder Sache, die eine Handlung ausführt. „Caroline (AG) schwimmt.“, „Es war ein schöner Sommerabend, als Florio (AG) … auf die Tore von Lucca zuritt, …“ (Eichendorff 1990, S. 25), „Tiefe Schwermut (AG) erfüllte wieder seine Brust; …“ (Kleist 1987, S. 147)
  • EXP (Experiens, Erfahrender): Person, die einen psychischen oder physischen Vorgang oder Zustand an sich erfährt. „Tiefe Schwermut erfüllte wieder seine Brust (EXP); …“ (Kleist 1987, S. 147), „In seiner von den Bildern des Tages aufgeregten Seele (EXP) wogte und hallte und sang es noch immer fort.“ (Eichendorff 1990, S. 35)
  • PAT (Patiens, Betroffener): Person, die von einer Handlung als Objekt betroffen ist. „Einmal schenkte sie ihm (PAT) ein Käppchen von rotem Sammet, …“ (Rotkäppchen), „… die Erfahrung (EXP) ist im Kurse gefallen.“ (Benjamin 1991, Bd. II S. 439)
  • BEN (Benefaktiv, Nutznießer bzw. Geschädigter): Person, zu deren Nutzen oder Schaden eine Handlung ausgeführt wird. „Kaum hatte der Wolf das gesagt, so tat er einen Satz aus dem Bette und verschlang das arme Rotkäppchen (BEN).“ (Rotkäppchen) „Jeder Morgen unterrichtet uns (BEN) über die Neuigkeiten des Erdkreises.“ (Benjamin ebd., S. 444)
  • CAG (Contraagens, Partner): Person, auf die hin eine Handlung ausgerichtet ist. „Jeronimo nahm ihn (CAG), und hätschelte ihn (CAG) in unsäglicher Vaterfreude, …“ (Kleist 1987, S. 149), „Am frühen Morgen kam die Frau und holte die Kinder (CAG) aus dem Bette. Sie (CAG) erhielten ihr Stückchen Brot, …“ (Hänsel und Gretel)
  • COM (Comitativ, Begleitender): Person, die zusammen mit dem Handelnden (AG) eine Handlung ausführt. „Endlich ging sie in ihrem Jammer hinaus und das jüngste Geißlein (COM) lief mit.“ (Der Wolf und die sieben Geißlein), „Eine dieser Reisen führte ihn mit seinem Sohn Paolo (COM) … nach Ragusa.“ (Kleist 1987, S. 199)
  • SUB (Substitutiv, Ersetzter): Person oder Sache, an deren Stelle eine andere Person oder Sache bei einer Handlung oder einem Vorgang tritt. „… so hob ihn Piachi … in den Wagen, und nahm ihn (SUB), an seines Sohnes Statt, mit sich nach Rom.“ (Kleist 1987, S. 200), „Was begreifen wir denn von unserem Nächsten, als seine Grenzen (SUB), …“ (Nietzsche 1988, S. 111)
  • AOB (Affiziertes Objekt, Betroffenes): Person oder Sache, die von einer Handlung oder einem Vorgang betroffen wird. „Was begreifen wir denn von unserem Nächsten, als seine Grenzen, ich meine, Das, womit er sich auf und an uns (AOB) gleichsam einzeichnet und eindrückt?“ (Nietzsche, ebd.), „Hänsel … brach sich ein wenig vom Dach (AOB) ab, …“ (Hänsel und Gretel)
  • EOB (Effiziertes Objekt, Resultat, Produkt): Person oder Sache, die durch eine Handlung oder einen Vorgang entsteht. „Wie er ein paar Schnitte getan hatte, da sah er ein rotes Käppchen (EOB) leuchten, …“ (Rotkäppchen), „Wir bilden ihn (EOB) nach unserer Kenntnis von uns, …“ (Nietzsche, ebd.)
  • IN (Instrument): Person, Sache oder Handlung, die bei einer Handlung vom Agens als Instrument (Werkzeug, Mittel) genutzt wird. „Was begreifen wir denn von unserem Nächsten, als seine Grenzen (IN), ich meine, Das womit er sich auf und an uns gleichsam einzeichnet und eindrückt?“ (Nietzsche, ebd.), „… so nahm Hänsel sein Schwesterchen bei der Hand und ging den Kieselsteinen (IN) nach, die … zeigten ihnen den Weg.“ (Hänsel und Gretel)
  • CAU (Causativ, Ursache): Sachverhalt, der die Ursache für einen anderen Sachverhalt darstellt, auch als kausale Verknüpfung. „… und einmal, als große Teuerung (CAU) ins Land kam, konnte er auch das tägliche Brot nicht mehr schaffen.“ (Hänsel und Gretel), „Aber er hatte so herzlich bewegt gesungen (CAU) …, dass sie es willig geschehen ließ, …“ (Eichendorff 1990, S. 29), „Die Ausbreitung des Romans wird erst mit Erfindung der Buchdruckerkunst (CAU) möglich.“ (Benjamin ebd., S. 442)
  • PAR (Partitiv, Teil): Etwas, das Teil von etwas ist. „… Florio …, sich erfreuend an dem feinen Dufte, der über … den Türmen (PAR) und Dächern (PAR) der Stadt … zitterte, …“ (Eichendorff 1990, S. 25), „… so sahen sie, dass das Häuslein aus Brot (PAR) gebaut war …“ (Hänsel und Gretel)
  • PO (Possessiv, Besitz): Etwas, das im Besitz von jemandem ist oder in seiner Verfügungsmacht. „Wir bilden ihn (PO) nach unserer Kenntnis von uns, zu einem Satelliten (PO) unseres eigenen Systems: …“ (Nietzsche, ebd.), „Gretel schüttelte sein Schürzchen (PO) aus, …“ (Hänsel und Gretel)
  • ADD (Additiv, Hinzugefügtes): Etwas, das bei einer Handlung so bewegt wird, dass es entweder in den Besitz oder die Verfügungsmacht einer Person gerät, oder Teil einer Sache wird. „… und Hänsel warf eine Handvoll (ADD) nach der anderen dazu.“ (Hänsel und Gretel), „Wir legen ihm die Empfindungen (ADD) bei, …“ (Nietzsche, ebd.)
  • PRI (Privativ, Entferntes): Etwas, das bei einer Handlung so bewegt wird, dass es entweder aus dem Besitz oder der Verfügungsmacht einer Person entfernt wird, oder aus einer Sache weggenommen wird. „Doch Meister Pedrillo ruhte nicht eher, als bis er der Kinder eines (PRI) bei den Beinen von seiner Brust gerissen, …“ (Kleist ebd., S. 158), „So singend wandelte sie fort, bald in dem Grünen verschwindet, bald wieder erscheinend, … bis sie (PRI) sich endlich in der Gegend des Palastes ganz verlor.“ (Eichendorff 1990, S. 43)
  • LOC (Locativ, Ort, Raum): Ort oder Raum, in dem ein Sachverhalt geschieht. „Da gesellte sich, auf zierlichem Zelter (LOC) desselben Weges ziehend, ein anderer Reiter … zu ihm.“ (Eichendorff 1990, S. 25), „Ich sehe nach meinem weißen Kätzchen, das sitzt oben auf dem Dach (LOC), …“ (Hänsel und Gretel)
  • OR (Origativ, Ursprung): Ort oder Raum, von Woher eine Handlung oder ein Vorgang geschieht. „… hier wälzte sich, aus seinen Gestaden (OR) erhoben, der Mapocho-Fluss heran …“ (Kleist 1987, S. 146), „Versteckte Musikchöre hallten da von allen Seiten (OR) aus den blühenden Gebüschen (OR) …“ (Eichendorff 1990, S. 26)
  • DIR (Direktiv, Ziel): Ort oder Raum, wohin eine Handlung oder ein Vorgang geschieht. „… als Florio … langsam auf die Tore von Lucca (DIR) zuritt, …“ (Eichendorff 1990, S. 25), „Die Frau führte die Kinder noch tiefer in den Wald (DIR) …“ (Hänsel und Gretel)
  • TE (Temporativ, Zeit): Zeitpunkt oder –raum, in dem eine Handlung oder ein Vorgang geschieht, bzw. ein Zustand der Fall ist. „Es war ein schöner Sommerabend (TE), als Florio …“ (Eichendorff 1990, S. 25), „Am frühen Morgen (TE) kam die Frau …“ (Hänsel und Gretel)

Dem Leser wird bei dieser Liste aufgefallen sein, dass sich einige Rollen überschneiden. So ist der Unterschied zwischen PAT (Betroffener) und BEN (Nutznießer/Geschädigter) nicht klar zu trennen.

Zudem kommen andere doppelte Rollen vor, etwa bei dem Satz „Peter nimmt sich ein Stück Kuchen.“ Dabei ist Peter sowohl AG (Handelnder) als auch Ziel (DIR) der Handlung.

Dann hatte ich oben „Tiefe Schwermut erfüllte wieder seine Brust (EXP); …“ zitiert. An diesem Beispiel wird deutlich, dass z. B. Metaphern, aber auch viele andere rhetorische Figuren schwer zu behandeln sind: wenn man sie ganz wörtlich nimmt, dann funktioniert zwar das Modell, doch ist die Brust hier, als pars pro toto, eine metonymische Form, d. h. selber ein PAR (Teil) und zugleich ersetzt sie den ganzen Menschen, der hier ein SUB (Ersetzter) ist, obwohl er im Satz nicht auftaucht.

Beispiele

„Das Rad (AG) an meines Vaters (PO → Mühle) Mühle (PO → Rad) brauste und rauschte schon wieder recht lustig, der Schnee (AG) tröpfelte emsig vom Dache (OR), die Sperlinge (AG) zwitscherten und tummelten sich dazwischen (LOC); ich (AG) saß auf der Türschwelle (LOC) und wischte mir (BEN) den Schlaf (AOB) aus den Augen (LOC), mir (EXP) war so recht wohl in dem warmen Sonnenscheine (LOC).“ (Eichendorff. Beginn von „Aus dem Leben eines Taugenichts“)

„Der neue Papst (AG), bislang als strenger Kardinal (SUB) bekannt, gab sich am Sonntag (TE) zur Amtseinführung (TE) sanft, fast heiter, wenn auch zurückhaltend. Die Botschaft (EOB) an die Pilger (AOB/BEN): „Habt keine Angst (PRI?) vor Christus (PAT)! Er (AG) nimmt nichts, er (AG) gibt alles.“ Aufgabe (IN) des Papstes (AG) sei, die Menschen (AOB/BEN) aus den „Wüsten der Zeit“ (OR?/TE) zu führen.“ (Zeitungsmeldung)

„Jo Baer (AG), deren Arbeit (ADD/PAR) immer zu den hier gezeigten Bildhauern (PO) gerechnet wird, hat geschrieben: „Die Maler (AG) haben die Teleologie (EOB) von Distanz und bildlicher Tiefe verworfen, als sie den Hintergrund (PRI) insgesamt verwarfen und Gemälde (AOB) insgesamt zu Objekten (EOB) wurden. Dies geschah einige Zeit (TE) bevor sie zu Wandobjekten (EOB), Bis-zur-Decke-Objekten und Bis-zum-Boden-Objekten aufgeblasen wurden.““ (Lucy Lippard: 10 Strukturisten in 20 Absätzen, S. 310)

Semantische Rollen sind deshalb unpräzise und können auch nur unpräzise verwendet werden. Als Modell können sie aber klärend sein. So kann man feststellen, dass Eichendorff sehr viel seltener EOB’s, PRI’s, OR’s benutzt, als AOB’s, ADD’s und DIR’s. Man könnte sagen, dass die Welt bei Eichendorff „voll“ ist. Vieles, was bei Eichendorff verschwindet, verschwindet, weil es nicht mehr erwähnt wird. Über solche Beobachtungen lassen sich Interpretationen und Stilanalysen recht wirkungsvoll untermauern.

Zudem kann man, wenn man lange und schwierige Sätze liest, dieses Modell zur Klärung benutzen. Das von Nietzsche zitierte Fragment, das den Gedankengang zweimal um sich selbst dreht, kann in dieser im Text vollführten Bewegung besser entschlüsselt werden, wenn man die Rollen einzelner Satzteile klarer fasst.

Einige Probleme

Semantische Netze

Ein dritter, problematischer Aspekt ist die Verflechtung eines Satzes mit anderen Sätzen. Die semantische Rolle wurde auf den Satz bezogen, doch kann man diese auch über den Satz hinaus fruchtbar verwenden. So kann die Personenkonstellation von Hänsel und Gretel durch solche semantischen Rollen aufgegliedert werden.

Schlüsselt man z. B. Kleists Novelle „Das Erdbeben in Chili“ nach räumlichen Bezügen auf, fallen einem merkwürdige Parallelen und Kontraste in diesen Darstellungen der Orte untereinander auf.

Schließlich können ganze Handlungsabläufe zueinander in Bezug gebracht werden, wie dies z. B. Hans Aebli (1993, S. 127ff) vorschlägt und dies als wesentlich für die Begriffsbildung darstellt.

Ein Beispiel für den intensiven Gebrauch – allerdings mit ganz anderen Begriffen – bietet Roland Barthes in seiner ausführlichen Analyse einer Novelle von Balzac (Barthes 1994)

Sprechakte

Sprechakte drehen, neben langen Sätzen, die Kompliziertheit noch ein wenig weiter. Nehmen wir folgenden Satz:

„Ich schwör’s!“, rief die Mutter.

so lässt er sich nur dann zerlegen, wenn er verschachtelt dargestellt wird, denn der Ausruf der Mutter ist ein Teil des ganzen Satzes, steht aber auch als Satz für sich selbst:

RIEF (AG: die Mutter, EOB: [SCHWÖRE (AG: Ich, AOB: es)])

Abgesehen davon, dass der Satz unübersichtlich wird, ist sehr unklar, was das, was die Mutter schwört, für eine semantische Rolle einnimmt. Es, das was die Mutter schwört, ist, dass der Ermordete nicht in ihrer Wohnung gewesen war. Sie betrifft also eine Tatsache, und fügt ihr etwas hinzu (eine Information), ohne die alte Information verschwinden zu lassen. Die semantische Rolle dieses „es“ aus „Ich schwör’s!“ lässt sich deshalb auch als EOB darstellen. Beides, das Verändern oder Betreffen und das Erzeugen, können hier gewählt werden, ohne dass dadurch etwas Stichhaltiges ausgesagt wird.

Das andere Problem ist, dass der ganze Satz zwei Sachverhalte erzeugt. Zum einen wird der Satz rein lautlich produziert, zum anderen aber ein Schwur getan, d. h. erzeugt.

Zwischen diesen beiden Produkten unterscheiden die semantischen Rollen nicht.

Anwendung in der Kognitionspsychologie

Die Kognitionspsychologie hat die semantischen Rollen bereitwillig übernommen, vielleicht allzu bereitwillig.

Bei Hans Aebli finden sich zahlreiche Beispiele für die Analyse der Rollen in komplexen Wissensnetzen. Alle diese Wissensnetze gehen über den schlichten Satz hinaus. Sie werden deshalb, stellt man sie satzförmig dar, schnell unübersichtlich. Deshalb nutzt Aebli eine graphische Darstellung, die mind-maps ähnlich ist.

Solange diese Wissensnetze rein materielle Gegebenheiten und stark programmhafte Handlungen abbilden, funktioniert die Analyse hervorragend. Eine kurze Biographie von Napoleon lässt sich ebenso gut darstellen wie die Vorgänge des Verzollens.

Problematisch aber werden alle Phänomene, die sich nicht genauer bestimmen lassen. Dabei ist nicht die Ungenauigkeit der semantischen Rollen das Problem, sondern die schweigend mitgeführte Überzeugung, alles Wissen, und alles nützliche Wissen, ließe sich nach und nach klären und in eine strenge und saubere Form überführen.

Latenz als Problem

Die Schwierigkeiten, die hier dargestellt wurden, betreffen allesamt die weniger deutlichen Bestandteile oder Voraussetzungen von Sätzen. Sowohl die Verflechtung von Sätzen als auch Sprechakte, als auch doppeldeutige oder undeutliche Rollen, schließlich rhetorische Figuren, ironische Bemerkungen, polemische Äußerungen (z. B. Nietzsche) oder kunstvoll verflochtene Prosa oder Lyrik (siehe Robert Walser, siehe Paul Celan) können nicht vollständig erfasst werden. Sie bleiben, durch ihre Art und Weise zu erscheinen, weitgehend latent.

Unter Latenz werden häufig Sachverhalte verstanden, die noch nicht genügend aufgeklärt sind. Dies ist eine Latenz der klassischen Vernunft. Folgt man aber Luhmann, so ist Latenz nur ein Möglichkeitsbereich, der aktiv neu formuliert werden muss (und werden kann): „… Latenz im Sinne einer Anwartschaft, einer Möglichkeit der Formierung von Erwartungsstrukturen, eines möglichen Rearrangements der Sinnverweisungen des Systems, das aber aus historischen Gründen noch nicht gesehen bzw. aus strukturellen Gründen blockiert ist.“ (Luhmann 1988, S. 399)

Semantische Rollen sind selbst Werkzeuge, mit denen man neues Wissen erzeugen kann, vorhandene Strukturen klären kann. Aber nur, wenn man, wie Aebli dies gerne tut, alles Unklare auslässt, können sie ein Stück Wissen völlig klar darstellen. Damit aber ist alles Emotionale, aber auch alles Prozessuale, von vornherein aus der Klärung ausgeschlossen.

Literatur

  • Werner Abraham (Hrsg.) (1971): Kasustheorie. Frankfurt a. M.
  • Hans Aebli (1993): Denken: Das Ordnen des Tuns I. Stuttgart
  • Hadumod Bußmann: Lexikon der Sprachwissenschaft. 4. Aufl., Verlag Kröner, Stuttgart, 2008; ISBN 3-5204-5204-9
  • Charles Fillmore (1968): The case for case. In: Emmon Bach / Robert T. Harms (Hrsg.): Universals in linguistic theory. London etc. S. 1 - 88
  • Niklas Luhmann (1988): Soziale Systeme. Stuttgart
  • Peter von Polenz: Deutsche Satzsemantik. Grundbegriffe des Zwischen-den-Zeilen-Lesens. 3. Auflage, Verlag Walter de Gruyter, Berlin, 2008; ISBN 978-3-11-020366-0

ergänzende Literatur

  • Walter Benjamin: Der Erzähler, in: ders.: Gesammelte Schriften Band II, 2, Stuttgart 1991
  • Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen Band 1, Stuttgart 1995
  • Joseph von Eichendorff: Das Marmorbild, in: ders.: Sämtliche Erzählungen, Stuttgart 1990
  • Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe Band 2, München 1994
  • Lucy Lippard: 10 Strukturisten in 20 Absätzen, in: Gregor Stemmrich: Minimal Art. Eine kritische Retrospektive, Dresden 1995
  • Friedrich Nietzsche: Morgenröthe, 3. Band der Kritischen Studienausgabe, hier §118

weiterführende Literatur

  • David Dowty (1991): Thematic proto-roles and argument selection. In: Language, 67-3, 547-619.
  • Angela D. Friederici, Anja Hahne und Axel Mecklinger (1996): Temporal structure of syntactic parsing. Early and late event-related potential effects. In: Journal of Experimental Psychology: Learning, Memory and Cognition, 22-5, 1219-1248.
  • Jeffry S. Gruber (1967): Studies in lexical relations. Bloomington.
  • Jeffry S. Gruber (2000).Thematic relations in syntax. In: Mark R. Baltin & Chris Collins (Hrsg.): The handbook of contemporary syntactic theory. Oxford. S. 257 - 298.
  • Ray S. Jackendoff (1972): Semantics and cognition. Cambridge Mass.
  • Ken McRae, Todd R. Ferretti und Liane Amyote (1997): Thematic roles as verb-specific concepts. In: Language and cognitive processes, 12-2/3, 137–176.
  • Gisa Rauh (1988): Tiefenkasus, thematische Relationen und Thetarollen. Die Entwicklung einer Theorie von semantischen Relationen. Tübingen.
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Weblinks

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