Kindestötung

Kindestötung

Unter Kindstötung (lat. Infantizid) versteht man die Tötung eines Kindes meist durch einen Elternteil. Die Tötung eines Neugeborenen wird als besonderer Fall der Kindstötung als Neonatizid bezeichnet.

Inhaltsverzeichnis

Definition

Resnick (1970) definiert Neonatizid als die Tötung eines Kindes innerhalb von 24 Stunden nach seiner Geburt, Infantizid als die Tötung eines Kindes im Alter von einem Tag bis zu einem Jahr und Filizid als die Tötung von Kindern über dem Alter von einem Jahr. [1]

Statistik und Motive

Statistische Erhebungen gibt es nicht, jedoch wird angenommen, dass 2 bis 10 % der Fälle, die als plötzlicher Kindstod registriert werden einem gewalttätigem Motiv unterliegen und in Wirklichkeit Kindstötungen sind (Emery, 1985). Geschätzt wurden 0.6 pro 100 000 Kinder unter 15 Jahren in Schweden (Somander & Rammer, 1991) und bis zu 2.5 pro 100 000 Kinder unter 18 Jahren in den USA (Jason, Gilliland & Tyler, 1983).

Resnick untersuchte 1969 131 gerichtliche Fälle, in denen Mütter ihre Kinder getötet hatten anhand von Befragungen und teilte diese Fälle nach Motiven in fünf Kategorien ein (ausgenommen Neonatizid):

  • Altruistischer Filizid: Tötung in Kombination mit Suizid des Täters oder um das Kind vor realem oder imaginärem Leid zu bewahren (56 % der Fälle).
  • Akut psychotischer Filizid: Tötung unter dem Einfluss von psychotischen Symptomen, Epilepsie oder Delir (24 %).
  • Tötung eines ungewollten Kindes (11 %).
  • Unbeabsichtigter Filizid oder „fatal battered child syndrome”: unbeabsichtigte Tötung eines Kindes aufgrund körperlicher Misshandlung (7 %).
  • Rache am Ehepartner: Tötung des gemeinsamen Kindes, um dem Ehepartner Leid zuzufügen (2 %)

Später definierte Wilczynski (1997), folgende Motive unabhängig vom Geschlecht der Täter:

  • „retaliating killings”: Tötung des gemeinsamen Kindes, um sich am (Ex-) Partner zu rächen,
  • Eifersucht auf oder Ablehnung durch das Opfer, wobei meist der Vater der Täter ist,
  • ungewolltes Kind als häufigster Grund für Neonatizid,
  • übermäßige körperliche Bestrafung des Kindes bei Weinen oder Ungehorsam,
  • Altruismus: „mercy killing” eines kranken oder geistig retardierten Kindes oder aufgrund einer Wochenbettdepression,
  • psychotischer Elternteil,
  • Munchausen Syndrome by Proxy,
  • sexueller Missbrauch,
  • Vernachlässigung ohne Absicht, das Kind zu verletzen oder zu töten sowie unbekannte Gründe.

Während bei früheren Untersuchungen hauptsächlich Motive der Mütter untersucht wurden, zeigte sich bei weiteren Untersuchungen, dass nach D’Orbans (1979) eine prozentuale Mehrzahl bei Männern zu der Gruppe „Eltern, die ihre Kinder misshandeln“ anteilig sind. Meist ging in diesen Fällen hierbei ein Stimulus des Kindes voraus (Weinen, Erbrechen, Weigerung zu essen etc.). Neonatizide werden dagegen von Vätern statistisch weniger begangen (Stanton & Simpson, 2002).

Die offizielle Polizeiliche Kriminalstatistik in Deutschland weist eine Abnahme der registrierten Fälle von Kindstötungen auf. Im Jahr 2006 wurden 202 Kinder Opfer von Tötungsdelikten, 2000 waren es noch 293. In 37 Fällen handelte es sich dabei um Mord, in 55 Fällen um Totschlag und in zwölf Fällen um Körperverletzung mit Todesfolge. [2] Eine laufende Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen unter Christian Pfeiffer weist nach Auswertungen zu rund 900 bis 1000 gerichtlich abgeschlossenen Fällen von Kindstötungen eine erhöhte Rate im Osten Deutschlands auf. Gründe liegen nach Pfeiffer in sozialer Isolation und Armut sowie Überforderung junger Mütter in ihrer Mutterrolle. [3] Die Langzeit-Untersuchung von Werner Johann Kleemann, Direktor des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Leipzig kommt unterdessen zu dem Ergebnis, dass es keine Belege dafür gibt, dass Kinder im Osten Deutschlands häufiger an Misshandlung oder Vernachlässigung sterben als im Westen. [4]

Geschichte

In China wurden seit Jahrhunderten vor allem weibliche Nachkommen getötet, da diese im Vergleich zu Söhnen als weniger wertvoll betrachtet werden (Langer, 1974). Im mittelalterlichen jüdisch-christlichen Europa waren die Gründe für eine Kindstötung vorwiegend Unehelichkeit des Kindes und die Armut der Eltern (Moseley, 1986), aber auch Fehlbildungen des Kindes.

Seit der Antike kennt die Gesellschaft die Tötung des Nachwuchses in Zeiten der Not, des Hungers oder aus anderen Beweggründen. Große Philosophen wie Platon und Seneca befürworteten die verbreitete Sitte der Aussetzung bzw. aktiven Tötung „missgestalteter“ Neugeborener. In der Kanalisation eines Badehauses im spätantiken Askalon wurden hunderte von Kinderskeletten gefunden. Die Knochen männlicher Neugeborener überwiegen deutlich, wie eine DNA-Analyse ergab. Man vermutet, dass das Badehaus auch als Bordell genutzt wurde und die Knochen den systematischen Infantizid männlicher Kinder anzeigen. Schon im klassischen Drama Medea und im 19. Jahrhundert im Märchen (Hänsel und Gretel) wird die Tat literarisch dargestellt.

Vor dem Mittelalter bis in die Neuzeit kam es nicht selten vor, dass ein Elternteil sein Kind umbrachte, da er es nicht ernähren konnte. Zu dieser Zeit wurden Kindstötungen wie der Mord an Erwachsenen bestraft.

1516 erließen die Bambergische Halsgerichtsordnung und die Gerichtsordnung Kaiser Karls V. neue Vorschriften, die als übliche Strafe für Kindsmörder Pfählen, lebendiges Begraben oder Auseinanderreißen des Körpers mit glühenden Zangen vorsahen. Sie sollten als Abschreckung dienen. Das Motiv bzw. die Umstände wurden bei diesem Tatstrafrecht (nur die Tat zählt, nicht die Ursachen oder das Motiv) nicht beachtet, weshalb die Strafen auch keine abschreckende Wirkung hatten.

Im 17. und 18. Jahrhundert stieg die Zahl der Morde vor allem an außerehelich geborenen Kindern an, da die Frauen den Pranger und die öffentliche Züchtigung fürchteten. Daher begann Mitte des 18. Jahrhunderts ein Umdenkprozess. Der Wandel in der medizinischen Ausbildung an den Universitäten und die schrittweise Einführung gerichtsmedizinischer Begutachtung in den verschiedenen Reichsterritorien führten zum Beginn einer „Psychiatrisierung“ der Tat. Allerdings wurde hier juristisch – bis noch vor wenigen Jahren – genau zwischen verheirateten und ledigen Täterinnen (§ 217) unterschieden. Letzteren wurde nach oft verheimlichter Schwangerschaft weiterhin rationales und somit egoistisches Handeln unterstellt, während Ehefrauen per se als geistig verwirrt galten. Ihnen drohte ja keine entehrende Strafe nach einer Entbindung. Aufgrund der Verbreitung von Kindsmord-Geschichten durch medizinische Fallsammlungen entstanden in der Folge auch literarische Texte zu diesem Thema. (zum Beispiel Wagners „Die Kindermörderin“ (Drama) oder die Gretchentragödie aus Goethes „Faust I“.)

Ende des 18. Jahrhunderts wurden Todesstrafen für Kindsmorde seltener und 1813 wurde im Bayrischen Strafgesetzbuch eine Gefängnisstrafe dafür festgelegt.

Rechtslage

Die Kindstötung war im deutschen Recht bis zur Aufhebung des Tatbestandes mit dem Sechsten Gesetz zur Reform des Strafrechts von 1998 gegenüber anderen Tötungsdelikten privilegiert. Wegen seines eigenständigen Charakters verdrängte der damit weggefallene § 217 aF StGB auch die Tötung unter qualifizierenden Umständen (Mord) oder den Totschlag.

Die Kindestötung (§ 217 aF StGB) war tatbestandlich die Tötung des nichtehelichen Kindes in oder unmittelbar nach der Geburt durch die Mutter. Der Tatbestand hatte wegen der Rechtsfolge Verbrechenscharakter (§ 12 StGB). Die angedrohte Mindestfreiheitsstrafe waren 3 Jahre. Minder schwere Fälle hatten den Strafrahmen 6 Monate bis 5 Jahre.

Die Privilegierung ergab sich aus der psychischen Zwangslage der Mutter, ein Kind unter den Umständen der Nichtehelichkeit zu gebären oder geboren zu haben. Durch die gesellschaftliche Entwicklung, die inzwischen die Nichtehelichkeit (früher: Unehelichkeit) von Kindern als gewöhnlich akzeptiert, ist der Tatbestand obsolet geworden. Inzwischen wird die Kindestötung dem minder schweren Fall eines Totschlags gleichgesetzt.

Täter des Deliktes konnte nur die Mutter sein. Teilnehmer der Tat, also Gehilfen oder Anstifter wurden nach §§ 211 oder 212 je nach den Merkmalen der Tat bestraft.

Die Nichtehelichkeit eines Kindes ergab und ergibt sich aus den zivilrechtlichen Vorschriften des Familienrechts. Die Mutter durfte mit dem Vater weder während der gesetzlichen Empfängniszeit noch zu Zeiten der Geburt in formell gültiger Ehe zusammengelebt haben.

Die Tötung musste mit Vorsatz innerhalb der Geburt oder gleich nach der Geburt, also in der Zeit der andauernden Gemütserregung geschehen. Der Tatbestand konnte nicht durch Unterlassen verwirklicht werden.

Siehe auch

Literatur

  • Carl Burak, Michele Remington: Tod in der Wiege. Warum hat Michele Remington ihr Baby umgebracht?. Heyne, München 1996, ISBN 3-453-09318-6 (Erlebnisbericht zur Kindstötung bei Wochenbettdepression)
  • Andrea Czelk: Privilegierung und Vorurteil. Positionen der Bürgerlichen Frauenbewegung zum Unehelichenrecht und zur Kindstötung im Kaiserreich. Böhlau, Köln u.a. 2005, ISBN 978-3-412-17605-1
  • Peter Dreier: Kindsmord im Deutschen Reich unter besonderer Berücksichtigung Bayerns im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Tectum, Marburg 2006, ISBN 3-8288-9111-X
  • Hermann Kleist: Das Verbrechen der Kindestödtung. Dorpat 1862 (Digitalisat)
  • Maren Lorenz: "Kriminelle Körper - Gestörte Gemüter. Die Normierung des Individuums in Gerichtsmedizin und Psychiatrie der Aufklärung." Hamburger Edition, Hamburg, 1999 (zugl. Diss,. Universität Saarbrücken 1998) (Insbes. S. 134-188).
  • Gerlinde Mauerer: Medeas Erbe. Kindsmord und Mutterideal. Milena, Wien 2002, ISBN 3-85286-096-2
  • Kerstin Michalik: Kindsmord. Sozial- und Rechtsgeschichte der Kindstötung im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert am Beispiel Preußen. Centaurus, Pfaffenweiler 1997, ISBN 3-8255-0117-5 (zugl. Dissertation, Universität Hamburg 1995)
  • Christiane Schlang: Tödlich verlaufende elterliche Gewalt. Psychiatrische Auswertung von Daten einer bundesweiten multizentrischen Studie (Berichtszeitraum 1985 bis 1989). Psychiatrie-Verlag, Bonn 2006, ISBN 3-88414-407-3 (zugl. Dissertation, Universität Frankfurt am Main 2005)
  • Katharina Schrader: Vorehelich, außerehelich, unehelich ... wegen der großen Schande. Kindstötung im 17. und 18. Jahrhundert in den Hildesheimer Ämtern Marienburg, Ruthe, Steinbrück und Steuerwald. Gerstenberg, Hildesheim 2006, ISBN 3-8067-8528-7
  • Judith Schuler: Infantizid, Biologische und soziale Aspekte. Eine Untersuchung anhand von Fallbeispielen aus Neuguinea. Lit, Münster u. a. 1993, ISBN 3-89473-522-8 (zugl. Dissertation, Universität Göttingen 1992)
  • Miriam Weinschenk: § 217 StGB - Folgen des Wegfalls einer Norm. Hartung-Gorre, Konstanz 2004, ISBN 3-89649-902-5 (zugl. Dissertation, Universität Heidelberg 2003)
  • Annegret Wiese: Mütter, die töten. Psychoanalytische Erkenntnis und forensische Wahrheit. Fink, München 1996, ISBN 3-7705-2849-2 (zugl. Dissertation, Universität München 1992)
  • Marijke Lichte: Deutschlands tote Kinder - Kindstötung als Folge von Gewalthandlung, sexuellem Missbrauch und Verwahrlosung. Eine historisch-soziologische Untersuchung zum Thema Infantizid. Schardt, Oldenburg 2007, ISBN 3-89841-315-2

Einzelnachweise

  1. Kerstin Eichenmüller, Bruno Heindl, Veronika Steinkohl: Tötungshandlungen im familiären Umfeld
  2. FAZ: Weniger Kindstötungen in Deutschland
  3. Sueddeutsche Zeitung: Studie: Mehr Kindstötungen im Osten
  4. FAZ: Immer mehr Eltern sind erziehungsunfähig

Weblinks

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