Kulturreflexion

Kulturreflexion

Die Einführung des Begriffs der Kulturreflexion begründet sich in einer systematischen Absetzung von demjenigen der Kulturwissenschaft und dem der Kulturtheorie. Kulturreflexion umschreibt ein Theorie- und Arbeitsprogramm, das, von einem operativen Begriff der Kultur geleitet, kulturelle Formen und Erscheinungen im Hinblick auf ihre Logik und ihren Zusammenhang beobachtet und das sich dabei selbst als Teil seines Gegenstandes weiß.

Begriff

Zunächst müssen die Begriffe der "Kultur" und der "Reflexion" vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen komplexen Traditionen zugeschnitten werden, um sie kulturwissenschaftlich handhabbar zu machen. Eine philosophisch-systematische Perspektive ist erforderlich, um einen operativ tragfähigen Kultur- und Reflexionsbegriff zu entwickeln.

Die Kultur einer Gesellschaft bestimmt, welche Bedeutung die Aktivitäten der Menschen dieser Kultur für sie gewinnen oder gewinnen könnten. Alles, was wir für wahr oder falsch, wichtig oder nichtig, wertvoll oder nutzlos etc. erklären, können wir nur mittels symbolischer Formen unserer Kultur entsprechend unterscheiden. "Kultur" bietet einer Gesellschaft die Möglichkeit, falsches von richtigem Verhalten so zu unterscheiden, dass das falsche Verhalten auch einmal richtig und das richtige Verhalten auch einmal falsch werden kann. Die Kulturebene ist jene Ebene, auf der eine Gesellschaft mal laut, mal leise, mal ganz gelassen, mal hoch empfindlich, und immer abhängig von Geschichte und anderen Umständen darüber nachdenkt, welches Verhalten sie wohl für richtig und deswegen für selbstverständlich und welches für falsch und deswegen ungewöhnlich hält. "Kultur" bezeichnet die jeweiligen gesellschaftlichen Möglichkeiten der Bezeichnung und Unterscheidung: sie stiftet Sinn. "Kultur" heißt, über richtiges und falsches Verhalten zu streiten, ohne sich sicher sein zu können, auf welcher Grundlage die Frage nach falsch und richtig jeweils zu entscheiden ist. Gleich welcher Form und welcher Bereich des gesellschaftlichen Lebens – sobald Personen zweckvoll zusammen wirken, stellt für sie die geteilte Kultur die kostbarste, nicht substituierbare Ressource dar. Das Zusammenspiel von Wahrnehmung und Kommunikation, das ihre Sinnbildungsphänomene kennzeichnet, kann durch die Analyse von Kultur beobachtet werden.

Reflexion (von spätlateinisch reflexio, "das Zurückbeugen, -biegen, -krümmen") steht im philosophischen Sinne für ein prüfendes und vergleichendes Nachdenken. Der Begriff beinhaltet also das Moment des Innehaltens und Zweifelns, des In-Frage-Stellens und der Kritik. "Reflexion" ist nicht einfach mit "Wissenschaft" identisch, teilt mit Wissenschaft aber einen methodischen, systematischen Zug, allerdings bei einem methodisch ausgebildeten Gefahrenbewusstsein vor Methodenzwang und Systemzwang. Reflektieren ist eine Tätigkeit, ist aktiv – und nicht etwa passive Kontemplation, obwohl Kontemplation ein Moment von Reflexion sein kann. Reflektieren beinhaltet nach-, be- und vorausdenken, bringt latente Bedeutung und deshalb oft auch Neues ans Licht, artikuliert das Unbestimmte, klärt Unklares, bringt scheinbar Disparates in Zusammenhang, dekonstruiert scheinbar selbstverständliche Ordnungen und kann neue Ordnungsgedanken konstruieren.

Kultur + Reflexion = Kulturreflexion

Kulturreflexion befasst sich mit der Erforschung kultureller Formen der Sinnbildung und der wissenschaftlichen Untersuchung ihrer Geltungsbedingungen. Sie beobachtet menschliche Möglichkeiten, kulturelle Formen zu verändern und wechselnden Zwecken oder Umständen intelligent anzupassen. Die jeweiligen Lösungen, die eine Gesellschaft mit Bezug auf falsches und richtiges Verhalten findet, werden nicht für selbstverständlich gehalten, sondern ihrerseits problematisiert. Kulturreflektoren sind keine Moralisten. Sondern interessant für die Praxis wie für die Forschung ist, sich anzuschauen, wie rigide bzw. flexibel die Unterscheidung zwischen falsch und richtig jeweils gehandhabt wird, d.h. wie tolerant bzw. fundamentalistisch eine Kultur jeweils ist und wie leicht es jeweils fällt, unter geänderten Umständen oder auch nur beim Wechsel zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen (Arbeit, Familie, Politik, Freizeit) die Vorzeichen zu wechseln und falsches Verhalten für richtig und richtiges Verhalten für falsch zu halten. Kulturreflexion heißt dann, sich das Sein und das Bewusstsein der Gesellschaft und ihrer Teilbereiche im Hinblick auf ihren sei es virtuosen, sei es bornierten Umgang mit ihrer eigenen Kultur anzuschauen und zwar mit den Beteiligten, den Betroffenen anzuschauen, um dort Orientierung zu schaffen, wo die Virtuosität überfordert und dort für Gelassenheit zu plädieren, wo die Borniertheit zu Verkrampfungen führt.

Kulturreflexion ist nicht alles, aber sie kann sich auf alles in einer Gesellschaft Unterscheidbare richten. Sie beobachtet Relationen: von Symbolordnungen, Zeitordnungen, Erwartungsmustern und legitimen Anschlussoptionen. Sie macht Sinnbildungen als kulturell unwahrscheinliche Möglichkeiten sichtbar. Dabei ist auch die Kulturreflexion selbst eine kulturelle Aktivität, muss also in hohem Maße mit Selbstbezüglichkeit rechnen. Kulturreflexion zielt nicht allein auf abschließende wissenschaftliche Erkenntnisse. Die Reflexion der Kultur wie auch die Kultur der Reflexion - zusammen bilden beide einen offenen Prozess und sind damit selbst ein Teil der aktuellen Kultur: Immer neu zu erfahren und immer neu zu verstehen.

Geistes-, Kultur- und sozialwissenschaftliche Theorieressourcen sind mannigfaltig. Die strukturelle Gemeinsamkeit aller Wissenschaften, die es mit Kulturellem zu tun haben (statt mit sinnfreier Natur), bezeichnet der Begriff der Kulturreflexion, der dabei nicht nur Epochengrenzen, sondern auch Grenzen akademischer Disziplinen überschreitet. Aus der Perspektive der Kulturreflexion sind selbstverständlich auch die Vorgehensweisen der Wissenschaften soziale Praktiken, deren kultureller Sinn sich reflektieren lässt. In dieser Wendung auf Natur- und Kulturwissenschaften, letztlich natürlich auch auf sich selbst, ergibt sich folgende Fragestellung: Was heißt es, soziologisch, literaturwissenschaftlich, historisch etc. zu denken? Und wie profilieren sich diese Denkformen gegeneinander? Um das herauszufinden, wird es notwendig sich auf den Eigensinn der unterschiedlichen Disziplinen einzulassen. Nur so kann man feststellen, wann man besser nach Übergängen zu anderen Denkformen sucht, um ein Problem in den Griff zu bekommen. Die eigenen Qualitäten und Grenzen des Fachhorizonts werden durch die Kulturreflexion entdeckt und in Frage gestellt. Kulturreflexion ist das Gegenteil der optischen Reflexion von Licht im Spiegel: Einfallswinkel gleich Ausfallswinkel. Die Tätigkeit des Reflektierens von kulturellen Prozessen lässt diese nicht einfach so, wie sie sind. Kulturreflexion nötigt an gewissen Punkten diejenigen, die sie unternehmen, auch Farbe zu bekennen, also eigene normative Ansichten nicht nur festzustellen sondern auch zu verteidigen oder zu revidieren.

An der privaten Universität Witten/Herdecke wurde ein B.A.- und M.A.-Studiengang "Philosophie und Kulturreflexion" ins Leben gerufen.

Literatur

  • Dirk Baecker, Matthias Kettner, Dirk Rustemeyer (Hg.): Über Kultur: Theorie und Praxis der Kulturreflexion, transcript Verlag (Oktober 2008)
  • Dirk Baecker, Matthias Kettner, Dirk Rustemeyer (Hg.): Zwischen Identität und Kontingenz - Theorie und Praxis der Kulturreflexion, transcript Verlag (September 2008)
  • Dirk Baecker: Wozu Kultur?, Kulturverlag Kadmos Berlin (2000)
  • Matthias Kettner: Kulturrelativismus oder Kulturrelativität?, Dialektik. Zeitschrift f. Kulturphilosophie 2, 2000, S.17-38
  • Matthias Kettner: Gibt es kulturell notwendige Konfliktformen?, In: Michael Kastner, Eva M. Neumann-Held, Christine Reick (Hg.): Kultursynergien oder Kulturkonflikte?, Berlin: Pabst Science Publishers 2007 (S.22-32)
  • Dirk Rustemeyer: Oszillationen: Kultursemiotische Perspektiven (Wittener kulturwissenschaftliche Studien), Königshausen & Neumann (Juli 2006)

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