Lebensansichten des Katers Murr

Lebensansichten des Katers Murr
Umschlag mit einem 'Porträt' des Katers, vermutlich nach einer eigenen Zeichnung Hoffmanns

Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern ist ein satirischer Roman von E.T.A. Hoffmann, der in zwei Bänden erschien: 1819 der erste, der zweite dann 1821. Er ist Fragment geblieben: Ein dritter Band war in Planung.

Inhaltsverzeichnis

Plot

Der Roman besteht aus zwei – zunächst als völlig getrennt erscheinenden – Geschichten:

Zum einen wird die Lebensgeschichte des Katers Murr erzählt. Der abstrakt denkende und gebildete Kater selbst fungiert als Ich-Erzähler und Autobiograf des Textes, der neben einer chronologischen Schilderung seiner Erlebnisse von seiner Geburt bis zum Zeitpunkt der Niederschrift zahlreiche ausführliche Kommentare und Reflexionen zur „Bildung des Lesers“ enthält. Der Roman setzt sich mit der zeitgenössischen Trivialisierung der Bildungsidee kritisch auseinander. Murr meint, ein funktionierendes, gebrauchsfertiges Rezept „wie man sich zum großen Kater bildet“ liefern zu können.

Motive und klassische Elemente des Bildungsromans werden parodiert: Murr erlebt eine „lehrreiche“ Jugendfreundschaft (zum Pudel Ponto), eine „persönlichkeitsformende“ Liebe (zur Katze Miesmies), versucht sich in Saufgelagen und Ehrenduellen als „tüchtiger Katzbursch“ und in der „höhern Kultur und Welt“ (die der Hunde) als feiner Gesellschafter. Schließlich bildet er sich autodidaktisch zum „homme de lettres“ aus. Hoffmann nutzt dies zu zahlreichen Seitenhieben auf verschiedene kulturelle Strömungen und literarische Formen der vergangenen Jahre.

Zum anderen enthält der Text Bruchstücke einer bereits gedruckten Biografie des Kapellmeisters Johannes Kreisler. Dem Vorwort kann der Leser entnehmen, dass der ungeschickte Kater Murr dieses Buch zerstückelte, dessen Blätter als Unterlage oder Löschpapier verwendete und sie dann auch noch im Manuskript beließ. Der „Herausgeber“ (ebenfalls eine fiktive Figur) gibt sich als unachtsam, denn der Setzer druckte auch diese Textpassagen mit ab.

In diesen „beigebundenen Fragmenten“ enthüllt sich das Schicksal des Musikers als ein gesellschaftliches Scheitern. Am Hofe eines Duodezfürsten, der wie der Protagonist als gebrochene Figur erscheint, da er seine Hofhaltung und seine Apanage nur noch zum Schein aufrecht erhält, gerät Kreisler zwischen zwei Frauen - die die wahre Liebe und strohfeuerartige, glühende Leidenschaft repräsentieren. Er scheitert jedoch weniger an dieser unauflösbaren Antinomie als an den gesellschaftlichen Zwängen.

Struktur

Bereits der Titel weist auf die arabeskenhafte Verschlungenheit der beiden Lebensgeschichten als konstitutives Bauprinzip des Romanes hin. Die Darstellung von Murrs Autobiografie, die vollständig, in chronologischer Ordnung und in logisch aufeinanderfolgenden Episoden mitgeteilt wird, steht im Gegensatz zur Schilderung der romantischen Künstlerbiografie, die zeitlich nicht geordnet und unvollständig vermittelt wird. Unterschiede bestehen des Weiteren bezüglich des Raumes, den die beiden ungleichen Textarten einnehmen: Während Murrs Geschichte gerade einmal ein Drittel des Platzes einnimmt, weitet sich das überaus verwickelte Schicksal des Kapellmeisters auf die übrigen zwei Drittel aus. Doch trotz des beanspruchten Platzes bleibt diese nur halbwegs durchsichtig, während die von Hybris strotzenden »Lebensansichten« des Katers in ihrer manchmal bis zur Banalität reichenden Einfachheit relativ konsistent dargeboten werden.
Beide Teile sind durch zahlreiche inhaltliche Bezüge auf komplexe Weise miteinander verschränkt.

Die Figuren: Herkunft und Wirkung

Kater Murr

Mit seinem schriftstellernden Kater setzt Hoffmann die Tradition der Tierdichtung fort. Hier sind wie Menschen sprechende und agierende Tiere einzuordnen, wie sie etwa in den Fabeln von Aesop, Lafontaine oder in mittelalterlichen tierbîspeln vorkommen. Murr selbst nennt die Märchenfigur Der gestiefelte Kater seinen literarischen Ahnherren, die den Zeitgenossen durch das gleichnamige Theaterstück (1797) von Ludwig Tieck sowie dem 1812 erschienenen Der gestiefelte Kater der Brüder Grimm gut bekannt war. Gottfried Keller wird mit Spiegel, dem Kätzchen, Walter Moers mit Echo, dem Krätzchen die Reihe der sprechenden Katzen weiterführen.

Kater Murr ist jedoch ebenfalls nicht ohne reales Vorbild: Hoffmann hatte einen wirklichen Kater gleichen Namens aufgezogen. Dieser starb am 30. Nov. 1820 nach Vollendung des zweiten Bandes. Eine private Traueranzeige Hoffmanns ist überliefert.

Kapellmeister Johannes Kreisler

Den Namen hat Hoffmann zunächst als Pseudonym verwendet. Er unterschrieb musikalische Rezensionen in der Leipziger Allgemeinen Zeitung, für die er seit 1809 tätig war, mit Johannes Kreisler, Kapellmeister. Hoffmanns literarischen Lesern war die Figur des Kapellmeisters bereits aus den dreizehn Erzählungen der Kreisleriana bekannt, 1814/15 im Rahmen der Fantasiestücke in Callots Manier erschienen. Berühmt wurde sie jedoch erst mit dem Kater Murr.
Der Hoffmannsche Kreisler wurde 1838 dann Titelgeber der Kreisleriana, eines Zyklus von acht Klavierstücken, die Robert Schumann (Op. 16) komponiert hat und die eine klassische Bedeutung erlangt haben. Sie kopieren in ihrem aphoristischen Stil das Verhalten des von Hoffmann geschaffenen wunderlichen Kauzes.
Mit „Kreisler jun.“ signierte der 20-jährige Johannes Brahms sein erstes veröffentlichtes Kammermusikwerk, das H-Dur-Trio op. 8. Brahms zeigte in dieser Hommage an Clara Schumann seine unbekanntere Seite: die des schwärmerischen Jünglings – eben nach Art von Hoffmanns Kunstfigur.

Der "Herausgeber" E.T.A. Hoffmann

Der Roman beginnt mit einer Herausgeberfiktion, die diese romantische Form aufgreift und erweitert. Die literarische Technik, dass der eigentliche Autor eines Romans sich in diesem nur als Herausgeber der Texte vorstellt, war bereits vor der Romantik bekannt, ist in dieser Zeit jedoch weit verbreitet: Wir finden diese Praxis z.B. in Laurence Sternes A Sentimental Journey oder dann auch in Brentanos Godwi.

Hat man es in den meisten Fällen jedoch mit einer plausiblen Fiktion zu tun, so dass häufig wirkliche Editoren von der zeitgenössischen Kritik als die eigentlichen Autoren angesehen wurden (so Wieland für Sophie von La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim oder Schlegel für Dorothea Veits Florentin), zeichnet sich die Murr'sche Herausgeberfiktion durch absurden Witz und Unglaubwürdigkeit aus. Neben der Tatsache, dass der Autor ein Tier sein soll, wird dieses auch noch recht bald durch bösartige – aus Versehen mit abgedruckte – Publikumsbeschimpfung charakterisiert. Der Herausgeber E.T.A. Hoffmann ist also mitnichten mit dem Autor gleichen Namens gleichzusetzen, da der erstere in der gleichen fiktiven Welt existiert, in der es auch einen Kater gibt, "der Geist, Verstand besitzt, und scharfe Krallen".

Die Gattung

Gattung und Stil

Kater Murr steht in der Tradition der humoristischen Romane. Er ist somit wesentlich von Satire, Ironie und Parodie geprägt:

Satire

Die Satire überwiegt in den Murr-Passagen: Seitenhiebe auf Kunstbetrieb, Wissenschaft, bürgerliche Gesellschaft bis hin zur aktuellen Politik prägen diese Textabschnitte. Bereits im Vorwort des Romanes führt sich Hoffmann selbst als Herausgeber ein, der »den Kater Murr persönlich kennengelernt und in ihm einen Mann von angenehm milden Sitten [...]«  (9) vorgefunden zu haben angibt. Schon hierin – es folgt ein zweimalig ansetzendes »Vorwort« des Katers, dem noch einmal ein Nachsatz des Herausgebers angehängt ist – kennzeichnet Hoffmann das dann Folgende als Satire: Nicht nur, dass die Aufzeichnungen eines Katers vorliegen und auch einen Herausgeber finden, der Kater wird auch als »Mann« und zudem als einer mit »milden Sitten« über das zu Erwartende hinaus vermenschlicht.

Ironie

In den Kreisler-Passagen finden sich ebenfalls satirische Angriffe auf die Gesellschaft, sie richten sich jedoch gegen die adeligen Sitten, also im Text gegen die Gepflogenheiten am Hofe des Duodezfürsten Irenäus. Insbesondere diese Teile sind hochgradig ironisch. Kreisler, ein Künstler, der in hohem Maße an der Profanität der bürgerlichen Welt, der so genannten Philister leidet, muss sich aufgrund des starken Gefälles zwischen Wirklichkeit und Künstlerideal dieser Form bedienen.
Wenngleich der Kater Murr erst in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts das Licht der Welt erblickte, ist er dennoch der Romantheorie der Frühromantik, die Hoffmann eifrig rezipierte, verpflichtet und wird dementsprechend sinnvollerweise mit der Schlegelschen Romantheorie (Universalpoesie) gedeutet, in der die Kategorie der Ironie eine entscheidende Rolle spielt.

Parodie

Der gesamte Roman stellt eine Parodie des Künstler- wie auch des Entwicklungsromanes dar, die, noch darüber hinausgreifend zu einem mannigfach gebrochenen Gesellschaftsroman gelangt. Andere Forschung ist jedoch der Ansicht, dass höchstens die Biographie des Katers als eine Persiflage der bürgerlichen Bildungsidee und des Geniegedankens der Klassik aufbereitet wird, der Künstlerroman des Kapellmeisters jedoch untergeht und ihren Ernst in der Zusammenstellung keineswegs entfalten kann.

Die Zitate und ihre Funktion

Im Aufbau ähnelt der Kater Murr Wilhelm Meisters Lehrjahre von Goethe, aber auch Nicolais Leben und Meinungen des Herrn Magisters Sebaldus Nothanker sowie The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman von Laurence Sterne.

Weiter enthält der Roman zahlreiche literarische Anspielungen, da sich sowohl Murr als auch Kreisler in ihren Aufzeichnungen gerne als überaus gebildete Personen darstellen. In der Forschung ist dafür plädiert worden, die literarischen und philosophischen Zitate einheitlich zu bewerten, stammen sie doch beide gleichermaßen nicht von den Figuren selbst, sondern vom Autor Hoffmann, dem die nicht zu übersehende Bildung der beiden selbstverständlich zuzuschreiben ist. Es ist dies jedoch eine Deutung, die die spezifische Charakterzeichnung der beiden Protagonisten außer acht lässt. Insbesondere die ironische bis zum Sarkastischen getriebene Überzeichnung des Katers als einen höchst eitlen und selbstgefälligen Schwärmers, der die Dichtersprüche zwar kennt, jedoch äußerst ungeschickt gerade so einsetzt, dass seine negativen Seiten beleuchtet werden, wird dabei nicht beachtet. Ist es doch gerade das Anliegen Hoffmanns – und seine große Kunst in diesem Buch – aufzuzeigen, dass übertriebener falscher Enthusiasmus noch lange keinen Künstler macht. - Eines der wichtigen Themen des Autors, das er z.B. in seiner Erzählung Der Sandmann bereits 1816 behandelt hatte.

Ausgaben

  • Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern. 2 Bände. Dümmler, Berlin 1820-1822 [recte 18919-1821]
  • Lebens-Ansichten des Katers Murr. In: Carl Georg von Maassen (Hrsg.): Sämtliche Werke. (10 Bände) Band 9/10. G. Müller, München 1928
  • Lebensansichten des Katers Murr. In: Poetische Werke. (12 Bände) Band 9. de Gruyter, Berlin, 1960
  • Kater Murr. Meister Floh. Letzte Erzählungen. In: Hannsludwig Geiger (Hrsg.): Sämtliche poetischen Werke. Deutsche Buch-Gemeinschaft, Berlin/Darmstadt/Wien 1963
  • Lebensansichten des Katers Murr. In: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Band 6. Aufbau-Verlag, Berlin/Weimar 1981
  • Lebens-Ansichten des Katers Murr. In: Hartmut Steinecke (Hrsg.): Sämtliche Werke. (6 Bände) Band 5. Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt 1992, ISBN 3618608950
  • Lebens-Ansichten des Katers Murr. Roman. Artemis und Winkler, Düsseldorf 2006, ISBN 978-3-538-06315-0

Literatur

  • Horst S. Daemmrich: E. T. A. Hoffmann: Kater Murr. In: Romane des 19. Jahrhunderts. Reclam, Stuttgart 1992, ISBN 3-15-008418-0
  • Stefan Diebitz: Versuch über die integrale Einheit der Lebens-Ansichten des Kater Murr. In: Mitteilungen der E. T. A. Hoffmann-Gesellschaft. 31 (1985), S. 30-39
  • Lutz Hermann Görgens: Die Haustiere des Kapellmeisters. Untersuchung zum Phantastischen im literarischen Werk E. T. A. Hoffmanns. Dissertation an der Universität Tübingen. 1985 (insb. S. 73-130)
  • Werner Keil: Erzähltechnische Kunststücke in E. T. A. Hoffmanns Roman Lebens-Ansichten des Katers Murr. In: Mitteilungen der E. T. A. Hoffmann-Gesellschaft. 31 (1985), 40-52
  • Sarah Kofman: Autobiogriffures. 1976
    • Schreiben wie eine Katze. Zu E. T. A. Hoffmanns „Lebens-Ansichten des Katers Murr“. Böhlau, Graz/Wien 1985, ISBN 3-205-01301-8; 2. überarbeitete Auflage: Passagen-Verlag, Wien 2008, ISBN 978-3-85165-837-8
  • Heinz Loevenich: Einheit und Symbolik des Kater Murr. Zur Einführung in Hoffmanns Roman. In: Der Deutschunterricht. 16 (1964), S. 72-86
  • Hans von Müller: Die Entstehung des Murr-Kreisler Werkes unter Berücksichtigung der sonstigen literarischen Produktion Hoffmanns in den Jahren 1818-1822. In: Gesammelte Aufsätze über E.T.A. Hoffmann. Gerstenberg, Hildesheim 1974, ISBN 3-8067-0437-6, S. 331-380
  • Dietrich Raff: Ich-Bewußtsein und Wirklichkeitsauffassung bei E. T. A. Hoffmann. Eine Untersuchung der „Elixiere des Teufels“ und des „Kater Murr“. Emmanuel-Verlag, Rottweil 1971 (Dissertation an der Universität Tübingen)
  • Robert S. Rosen: E.T.A. Hoffmanns »Kater Murr«. Aufbauformen und Erzählsituationen. Bouvier, Bonn 1970, ISBN 3-416-00630-5
  • Steven Paul Scher: »Kater Murr« und »Tristram Shandy«. Erzähltechnische Affinitäten bei Hoffmann und Sterne. In: ZfdPh. 94 (1976), S. 24-42
  • Ute Späth: Gebrochene Identität. Stilistische Untersuchungen zum Parallelismus in E.T.A. Hoffmanns Lebens-Ansichten des Katers Murr. Kümmerle, Göppingen 1970, ISBN 3-87452-024-2
  • Hartmut Steinecke: Ernst Theodor Amadeus Hoffmann. Lebens-Ansichten des Katers Murr. In: Frank Rainer Max & Christine Ruhrberg (Hrsg.): Reclams Romanlexikon. Band 2. Von der Romantik bis zum Naturalismus. Reclam, Stuttgart 1999, ISBN 3-15-018002-3

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