Lebenskunstphilosophie

Lebenskunstphilosophie

Der Begriff Lebenskunst (lat. ars vivendi) ist ein Begriff aus der Philosophie, der in unterschiedlichen Zusammenhängen verwendet wird, in denen es um die Daseinsbewältigung des Individuums geht.

Inhaltsverzeichnis

Definition

Das Spektrum an Vorstellungen zur Lebenskunst reicht von unbeschwertem Lebensgenuss, dem französischen Savoir-vivre, über den gelassenen Umgang mit allen Anforderungen und Verwicklungen, die das Leben mit sich bringt, bis hin zu dem Anspruch, das eigene Leben als Kunstwerk zu gestalten (bzw. zu stilisieren), wie es etwa Goethe und Thomas Mann intendieren mochten. Immer gehört zur Lebenskunst aber eine mehr oder minder große Portion persönlicher Gestaltungsfähigkeit in Bezug auf die Wahrnehmung und Verarbeitung der eigenen Lebensumstände. Insofern mag gelten, dass in diesem "Handwerk" das Leben selbst geschmiedet wird; es dient der Verwirklichung, Wahrung und Erfahrbarkeit des Selbst im Sein – eine ständige Herausforderung an die Persönlichkeit mit Wirkung auf den Lebensstil. Lebenskunst bringt es als vorwiegend innerer Ausdruck individueller mentaler Dispositionen und Prozesse mit sich, dass sie selten allgemein sichtbar und nachweisbar in Erscheinung tritt. Als Extrem fällt zum Begriff Lebenskunst auch die Überlebenskunst (mit der Kunst zur vollständigen Improvisation, Anpassung und Selbstbeherrschung) in schwierigen, kritischen und existenziellen Lebenssituationen.

Historischer Überblick

Bereits in der Antike taucht der Begriff der Lebenskunst als ars vivendi auf. Da die Philosophie in der Antike ein wichtiger Bestandteil der täglichen Lebensgestaltung war, enthielten viele ethische Texte praktische Ratschläge zur Anwendung. Deswegen ist es nicht verwunderlich, dass Aspekten praktischer Lebenskunst hoher Stellenwert zukam. Zentrale Begriffe hierbei waren Glück (eudamonia), Selbstsorge, Tugend und Askese. Oft wurden Philosophie und Lebenskunst auf eine Stufe gestellt, indem die antike Philosophie im Ganzen als ars vitae oder ars bene vivendi, also als Fachwissen von der richtigen Lebensführung, bezeichnet wurde. Im Gegensatz zu dieser philosophischen (theoretischen) Lebensführung, die in erster Linie von den Philosophen geprägt wurde, stand schon damals die populäre (praktische), welche die Reflexion der Faktoren, der Anleitung und der Einübung eines bewusst geführten Lebens betonte.

Als erster beschäftigte sich Pythagoras (ca. 570–510 v. Chr.) mit der Frage der richtigen Lebensführung, auch wenn diese wohl kein Lebenskunstmodell im engeren Sinne darstellte. Die Pythagoreer entwickelten vielmehr zahlreiche Lebensregeln und Lehrsprüche, die konkrete Verhaltensvorschriften enthielten.

Sowohl Sokrates als auch die Sophisten brachten die Idee auf, dass Philosophie mit Lebenskunst gleichzusetzen sei. Auch wenn sich die sokratische und die sophistische Schule in Vielem unterschieden, stimmten sie doch darin überein, dass die Persönlichkeit jedes Menschen auf einer vernünftigen Grundlage geschult werden müsse. In diesem Zusammenhang legten sie großen Wert auf Bildungsangebote und auf Rhetorik. Auch Aristoteles und der Sokrates-Schüler Platon schlossen sich Sokrates’ Ansicht weitgehend an. Platon bezeichnete die Philosophie auch als „Fürsorge für die Seele“ – und stellte somit wieder den Bezug zur Lebenskunst her. Aristoteles beschäftigte sich mit dem Vorrang der theoretischen Lebensführung vor der praktischen.

Bei den hellenistischen Philosophenschulen (Kyniker, Kyrenaiker, Epikureer, Skeptiker) und bei den Stoikern (Seneca, Epiktet, Marc Aurel, Plutarch) stimmte das Verständnis von Philosophie und Lebenskunst zwar nicht deckungsgleich überein, doch wurde das Modell der Lebenskunst an sich ausgiebig thematisiert. Das Ideal der Stoiker entsprach einem Leben, in dem man die universellen Gesetzmäßigkeiten erforschen und Weisheit erlangen sollte. Dies sollte durch ein tugendhaftes Leben gelingen, d.h. durch die Kontrolle der Gefühle und maßvolles Verhalten, was zu einer Stärkung des Selbst führen sollte. Bei den Epikureern hingegen ging es, wenn Lebenskunst thematisiert wurde, darum, sich von menschlichen Ängsten und Leiden abzuwenden. Das Ziel dieser Philosophie war es, Unlust zu vermeiden. Doch das Streben nach Lust durfte nicht unkontrolliert vonstatten gehen, sondern musste von der Vernunft geleitet werden.

Die Anwendung der jeweiligen Philosophie konnte auf vielerlei Arten geschehen. Es gab körperliche Übungen, die u.a. der Abhärtung dienten, und Meditationen, die die situationsbezogene Aktivierung und Einbeziehung philosophischer Leitvorstellungen in die Lebenspraxis gewährleisten sollten.

Außer einigen neuplatonischen Ansätzen (3.–6. Jahrhundert n. Chr.) von Philosophen wie Plotin oder Boethius waren die Stoiker lange Zeit die letzten, die sich ausführlich mit ars vivendi beschäftigten. Im Mittelalter gab es zwar vereinzelte Überlegungen, jedoch begann erst Michel de Montaigne im 16. Jahrhundert wieder, Arbeiten über Lebenskunst zu verfassen. Auch Schriftsteller und Philosophen wie Friedrich Schlegel oder Friedrich Schleiermacher griffen das Thema Jahrhunderte später auf. Jedoch wurde Lebenskunst – abhängig vom Zeitalter und den jeweiligen Lebensumständen – immer unter anderen Aspekten behandelt.

Heutiges Begriffsverständnis

Lebenskunst ist die Kunst, die eigene Unvollkommenheit als kreative Quelle zu erkennen und zu nutzen. „Wenn Wunden zu Perlen werden und Krankheiten und Schicksalsschläge eine Chance haben, den Menschen aufzuwecken und zu wandeln, dann geschieht Heilung. Dieser Wandlungsprozess, der mit dem Ja zum Nein beginnt, also mit dem Annehmen und Einverstandensein der eigenen Unvollkommenheit als Mensch, öffnet Tore zu einer höheren kreativen Intelligenz, einer Schöpferkraft, die kraftvoll und höchst kreativ wird, wenn sie authentisch ausgedrückt wird. Authentischer kreativer Selbstausdruck, sei es im Wort, der Bewegung, beim Malen, Singen, Lieben und Leben hat ein Potential, das sich auf allen Ebenen im Beruf und im persönlichen Bereich heilend auswirken kann. Diese Kreativität ermöglicht den eigenen Code wieder zu finden, den Schlüssel zur eigenen Wahrheit, dem „ich bin“. Der kreative Prozess ist ohne jegliche Wertung und nicht auf Perfektion, sondern auf Heilung und Liebe und Freude ausgerichtet. So frei fließend, können sich alte Muster der Angst und Scham nicht länger halten. Fülle und Kreativität sind die Quelle, nicht mehr Angst, Neid, Konkurrenz, Geldgier oder andere Mangelerscheinungen. Der kreative Mensch, der Lebenskünstler, weiß was er will und warum er es will. Er ist prozess- und zielorientiert zugleich, so entfaltet sich seine synergetische Kraft, aus der wunderbare Ideen, Erfindungen und Kunstwerke entstehen können.

In neuerer Zeit stehen Vorstellungen von Lebenskunst in engem Zusammenhang mit Humanismus und Aufklärung. Ausgehend von einer differenzierten Betrachtung antiker Lebenskunst-Vorstellungen gelangt Horn zu dem Ergebnis, dass diese Konzepte trotz der Epochendifferenz, die den antiken Ansatz der individuellen ethischen Beratung und Handlungsanleitung vom modernen systematisch-wissenschaftlich ausgerichteten Philosophiemodell abheben, neuerdings wieder mehr Beachtung finden und als „anschlussfähig“ gelten.

Literatur

  • Peter Bubmann, Bernhard Sill (Hg.): Christliche Lebenskunst. Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2008. ISBN 978-3-7917-2140-8
  • Fritz Ehrhardt: Das Buch der Lebensart. Ein Ratgeber für den guten Ton in jeder Lebenslage. Mit Buchschmuck von Edmund Brüning, Berlin: Verlag "Merkur" [ca. 1905]
  • Christoph Horn: Antike Lebenskunst. Glück und Moral von Sokrates bis zu den Neuplatonikern
  • Michel de Montaigne: Essais
  • Wilhelm Schmid: Philosophie der Lebenskunst. Eine Grundlegung. Suhrkamp, Frankfurt 1998, ISBN 3-518-28985-3
  • Wilhelm Schmid: Mit sich selbst befreundet sein
  • Carl Gustav Carus: Die Lebenskunst nach den Inschriften des Tempels zu Delphi, Dresden 1863
  • Arthur Schopenhauer: Aphorismen zur Lebensweisheit
  • Peter Sloterdijk: Kritik der zynischen Vernunft
  • Josef M. Werle: Klassiker der philosophischen Lebenskunst
  • Andreas Brenner/Jörg Zirfas: Lexikon der Lebenskunst
  • Michel Foucault: Ästhetik der Existenz. Schriften zu Lebenskunst
  • Michel Foucault: Hermeneutik des Subjekts, Suhrkamp, Frankfurt 2004
  • Michel Foucault: Freiheit und Selbstsorge : Interview 1984 und Vorlesung 1982, hg. Helmut Becker, Frankfurt : Materialis Verlag 1993, ISBN 3-88535-102-1
  • Wolfgang Kersting, Claus Langbehn (Hg.): Kritik der Lebenskunst, Suhrkamp, Frankfurt 2007
  • Pierre Hadot: Wege zur Weisheit - oder was lehrt uns die antike Philosophie?, Frankfurt am Main : Eichborn, 1999, ISBN 3-8218-0655-9
  • Pierre Hadot: Philosophie als Lebensform : geistige Übungen in der Antike, Berlin : Gatza 1991, ISBN 3-928262-02-5
  • Géza Alföldy u.a. (Hgg): Römische Lebenskunst, Interdisziplinäres Kolloquium zum 85. Geburtstag von Viktor Pöschl, Heidelberg : Winter 1995, ISBN 3-8253-0334-9
  • Eberhard Straub: Vom Nichtstun, wjs-Verlag, Berlin 2004, ISBN 3-937989-02-1
  • Theo Roos: Philosophische Vitamine: Die Kunst des guten Lebens, ISBN 978-3-462-03475-2
  • Robert Zimmer (Hg.): Glück und Lebenskunst. Sonderband 14 der Zeitschrift Aufklärung und Kritik, Nürnberg 2008, 278 S. (mit Beiträgen von Michel Onfray, Bernulf Kanitscheider, Malte Hossenfelder, Bernd A. Laska, Dieter Birnbacher, Wilhelm Schmid u.a.)

Weblink


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