Lebenslage

Lebenslage

Der Begriff Lebenslage bezeichnet die allgemeinen Umstände und den Rahmen der Möglichkeiten, unter denen einzelne Personen oder Gruppen in einer Gesellschaft leben, einschließlich der dabei eingenommenen sozialen Position. Zum Wesen des Begriffs gehört, dass er unterschiedliche Aspekte (mehrere Dimensionen) umfasst. Hierzu zählen beispielsweise die Familiensituation, die Arbeitssituation, die Einkommens- und Vermögenssituation, der Gesundheitszustand, die Wohnverhältnisse oder die Bildung.

Das soziologische Verständnis des Terminus Lebenslage unterscheidet sich von dem alltagssprachlichen Gehalt des Begriffes und von dessen Verwendung im Rahmen der Organisation kommunaler Aufgabenstrukturen (siehe Lebenslagenprinzip). Verwendung findet er vorrangig in der soziologischen Armutsforschung als auch (eher randständig) in der Sozialstrukturanalyse.

Inhaltsverzeichnis

Begriff

Eine frühe Verwendung fand der Begriff der Lebenslagen bei Marx/Engels in deren Beschreibung der Situation des Proletariats.[1] Seine erste theoretische Ausformulierung in den Sozialwissenschaften erhielt der Begriff durch den Philosophen und Nationalökonomen Otto Neurath. Dieser äußerte im Jahre 1909 Kritik an den Arbeiten des Vereins für Sozialpolitik, da diese zu einseitig an den „Zahlen der Geldrechnung“ ausgerichtet sein. Vielmehr solle jedoch für sozialpolitische Erwägungen die „Gesamtlage einer Menschengruppe“ berücksichtigt werden, also lebenswichtige Teilaspekte, deren Zusammenschau Neurath Lebenslage nannte.

„Die Lebenslage ist der Inbegriff aller Umstände, die verhältnismäßig unmittelbar die Verhaltensweisen eines Menschen, seinen Schmerz, seine Freude bedingen. Wohnung, Nahrung, Kleidung, Gesundheitspflege, Bücher, Theater, freundliche menschliche Umgebung, all das gehört zur Lebenslage.“[2]

Dieser Gedankengang wurde in der Nachkriegszeit von Gerhard Weisser übernommen, der davon ausging, dass über das Wirtschaftssystem nicht lediglich Einkommen, sondern Lebenslagen verteilt werden.[3] Wie Neurath war er daran interessiert, aufgrund gleicher objektiver Konstellationen von lebenslagenspezifischen Merkmalen Lebenslagentypen zu bilden, deren Verteilung in der Gesellschaft zu betrachten und somit Erkenntnisgewinn über die bestehende Sozialstruktur zu erhalten.

„Als Lebenslage gilt der Spielraum, den die äußeren Umstände dem Menschen für die Erfüllung der Grundanliegen bieten, die ihn bei der Gestaltung seines Lebens leiten oder bei möglichst freier und tiefer Selbstbesinnung zu konsequentem Handeln hinreichender Willensstärke leiten würden.“[4]

Aus der Verwendung der Spielraummetapher wird ersichtlich, dass Weisser in der Lebenslage eher eine potentielle als eine realisierte Größe sah. Gemäß seinem Bekenntnis zu „freiheitlichem Sozialismus“ und somit einer vielgestaltigen Gesellschaft, betrachtete er Lebenslagen als Lebensgesamtchancen, deren Wert umso höher sei, je mehr Erfüllungsmöglichkeiten für sinnstiftende Grundanliegen in der individuellen Lebenssituation vorhanden sind. Mit der Fokussierung auf die Verteilung von Chancen und Realisierungsmöglichkeiten für Bedürfnisse und Interessen zur Analyse sozialer Ungleichheit nahm er somit einen Großteil des populären Capability Approaches des Ökonomen und Nobelpreisträgers Amartya Sen vorweg.

Soziologische Armutsforschung

Bei der operationalen Umsetzung des Lebenslagenbegriffes im Rahmen der soziologischen Armutsforschung wird in der Regel auf eine Weiterentwicklung des Begriffes von Ingeborg Nahnsen Bezug genommen, die zwecks einer vereinfachten praktischen Verwertbarkeit den Weisser'schen Gesamtspielraum in fiktive Einzelspielräume unterteilt, die mittels Indikatoren gemessen werden können. Armut wird dann als Unterschreiten von Mindeststandards bzw. Unterversorgung in zentralen Lebenslagendimensionen verstanden. Als zentrale Lebenslagendimensionen gelten z.B. Einkommen, Erwerbslage, Bildung, Wohnsituation, Gesundheit und soziale Einbindung und Partizipation.

Häufig wird der Lebenslagenansatz konträr zum gängigen Ressourcenkonzept betrachtet, wonach Armut in der Regel als Einkommensarmut verstanden wird und weniger greifbare Dimensionen wie z.B. Arbeitszufriedenheit oder Einbindung in soziale Netzwerke vernachlässigt werden. Bei dem Konzept der Lebenslage werden neben ökonomischen auch weitere Ressourcen, insbesondere infrastrukturelle und soziale Ressourcen, berücksichtigt.

In der Praxis lassen sich Ressourcen- und Lebenslagenansatz jedoch nicht immer trennscharf voneinander abgrenzen, da bis dato verwendete Lebenslagenmodelle in der Regel erweiterte Ressourcenansätze sind, die neben der zentralen Ressource Einkommen die tatsächliche Versorgungslage anderer wichtiger materieller sowie immaterieller Ressourcen erheben. Gemäß dem ideellen Gehalt des Lebenslagenansatzes nach Weisser und Nahnsen ist jedoch nicht die tatsächliche Versorgungslage eines Individuums oder Haushalts für den Wert der Lebenslage relevant, sondern vielmehr dessen Chancen und Möglichkeiten zwischen verschiedenen Versorgungslagen gemäß seinen Interessen zu wählen. Empirisch ist es jedoch problematisch, Spielräume und Chancen über geeignete Messinstrumente zu erfassen, da diese potentielle und keine realisierten Größen sind, so dass allein schon aus praktischen Gründen Handlungschancen und Spielräume über die tatsächliche Versorgungslage abgeschätzt werden müssen.

Schwerpunkte der empirischen Lebenslageforschung sind zum einen die Erforschung der sozialen Ungleichheit[5] sowie die Armutsforschung[6]. Der Lebenslagenansatz bildet die Grundlage für die aktuelle Armuts- und Reichtumsberichterstattung der Bundesrepublik Deutschland mit dem Titel „Lebenslagen in Deutschland“ (siehe: Weblinks).

Eine methodische Alternative bietet hier der Ansatz der Verwirklichungschancen von Amartya Sen, der zwischen realisierten Verwirklichungschancen und potentiellen Verwirklichungschancen unterscheidet und nicht wie Weisser lediglich äußere (sozialstrukturelle) Umstände sondern auch individuelle Dispositionen in die Analyse des individuellen Entfaltungsspielraums mit einbezieht. Sowohl der Lebenslagenansatz nach Weisser als auch der Capability-Ansatz nach Sen haben gemeinsam, dass Armut bzw. extreme soziale Ungleichheit als ein Mangel an Verwirklichungschancen zu verstehen ist.

Der Lebenslagenansatz wurde 1999 durch Uta Enders-Dragässer und Brigitte Sellach im Hinblick auf die Perspektive der Geschlechter erweitert. Sie führten in die Fachdiskussion neben den fünf "klassischen" Lebenslagenspielräumen (Versorgungs- und Einkommensspielraum, Lern- und Erfahrungsspielraum, Dispositions- und Partizipationsspielraum, Kontakt- und Kooperationsspielraum, Regenerations- und Mußespielraum) drei weitere Spielräume ein (Sozialbindungsspielraum, Geschlechtsrollenspielraum, Schutz- und Selbstbestimmungsspielraum). Veronika Hammer und Ronald Lutz bestätigten im Jahr 2002 mit ihrem Sammelband „Weibliche Lebenslagen und soziale Benachteiligung“ diese geschlechterspezifische Differenzierung auf der Basis theoretischer und empirischer Beiträge. Die komplexe Lebensrealität von Frauen wurde damit generell sichtbarer sowie der Blick für frauenspezifische Lebenslagen geschärft - dies gilt speziell auch für die Familien- und Lebensformen von allein erziehenden Frauen.

Siehe auch

Literatur

  • Uta Enders-Dragässer und Brigitte Sellach 1999: Der "Lebenslagen-Ansatz" aus der Perspektive der Frauenforschung. In: Zeitschrift für Frauenforschung 4/1999, S. 56-66
  • Wolfgang Glatzer und Werner Hübinger: Lebenslagen und Armut. In: Diether Döring, Walter Hanesch und Ernst-Ulrich Huster (Hrsg.): Armut im Wohlstand, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1990
  • Veronika Hammer und Ronald Lutz (Hg.) 2002: Weibliche Lebenslagen und soziale Benachteiligung. Theoretische Ansätze und empirische Beispiele. Campus-Verlag: Frankfurt, New York
  • Karl Bernhard Hillen: Lebenslage-Forschung in den Sozialwissenschaften, insbesondere in der Sozialpolitik. Dissertation. Universität Bochum 1975
  • Ingeborg Nahnsen, Ingeborg: Lebenslagenvergleich. In: Heinrich Henkel und Ulrich Merle (Hrsg.): Magdeburger Erklärung. Neue Aufgaben in der Wohnungswirtschaft, Köln 1992
  • Otto Neurath: Empirische Soziologie. Schriften zur wissenschaftlichen Weltauffassung. Wien 1931, in: Gesammelte philosophische und methodologische Schriften, Band 1. Wien 1981, S. 423-527
  • Amartya Sen: Ökonomie für den Menschen, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 2007
  • Gerhard Weisser: Beiträge zur Gesellschaftspolitik, ausgewählt und hrsg. von Siegfried Katterle, Wolfgang Mudra und Lothar F. Neumann, Schwartz, Göttingen 1978

Einzelnachweise

  1. Karl Marx/Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, in MEW 4, 459-493, hier 470: „Mit der Entwicklung der Industrie vermehrt sich nicht nur das Proletariat; es wird in größeren Massen zusammengedrängt, seine Kraft wächst und es fühlt sie mehr. Die Interessen, die Lebenslagen innerhalb des Proletariats gleichen sich immer mehr aus, indem die Maschinerie mehr und mehr die Unterschiede der Arbeit verwischt und den Lohn fast überall auf ein gleich niedriges Niveau herabdrückt.“
  2. Otto Neurath: Empirische Soziologie, S. 512, in: Gesammelte philosophische und methodologische Schriften, Band 1. Wien 1981, S. 423-527
  3. Weisser, Beiträge, 361
  4. Weisser, Beiträge, 275
  5. Stephan Hradil: Sozialstrukturanalyse in einer fortgeschrittenen Gesellschaft. Von Klassen und Schichten zu Lagen und Milieus, Leske und Burich, Opladen 1987; Otto G. Schwenk: Soziale Lagen in der Bundesrepublik, Leske und burich, Opladen 1999
  6. Diether Döring, Walter Hanesch und Ernst-Ulrich Huster (Hrsg.): Armut im Wohlstand, Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1990; Walter Haensch, Peter Krause und Gerhard Becker: Der neue Armutsbericht der Hans-Böckler-Stiftung, des DGB und des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Reinbek, 2000

Weblinks


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