Lebensraumpolitik

Lebensraumpolitik
„Sicherung des deutschen Lebensraums im Osten“ als „Aufgabe und Verpflichtung“ für die Pioniere nach dem Krieg: nationalsozialistische Propaganda-Ausstellung Die grosse Heimkehr, 1942

Lebensraum im Osten ist ein politischer Begriff, der mit der „germanischen“ beziehungsweise „arischen“ Besiedlung von Gebieten außerhalb der deutschen Grenzen, vor allem im (nördlichen) Osteuropa, verbunden ist. Er wurde von der völkischen Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich geprägt und von der nationalsozialistischen Bewegung in Deutschland rassenbiologisch interpretiert. Er lieferte den ideologischen Hintergrund für den von Reichsführer-SS Heinrich Himmler in Auftrag gegebenen Generalplan Ost, der die Vertreibung der „rassisch unerwünschten“ Bevölkerung der besetzten Ostgebiete, ihre Germanisierung und wirtschaftliche Ausbeutung vorsah.

Inhaltsverzeichnis

Ideologische Vorläufer der Nationalsozialisten

Friedrich Ratzel (1844–1904) popularisierte erstmals in seinen wissenschaftlichen Werken Politische Geographie (1897) und Der Lebensraum (1901) den Begriff „Lebensraum“, der in kontinentaler Grenzkolonisation zu erschließen sei.[1] Er übertrug Darwins Theorien vom Überlebenskampf auf die Geographie und verstand Staaten als Lebewesen, die in einem permanenten Kampf um Lebensraum begriffen wären und deren Existenz von dessen Bestehen abhinge.

Die völkische Bewegung und der Alldeutsche Verband griffen den Terminus auf und benutzten ihn im Zusammenhang mit den Auslandsdeutschen, dem Deutschtum in den Grenzgebieten und der Expansion des deutschen Volkes: deutsches Land dürfe nicht verloren gehen, und die Neugründung deutscher Siedlungen müsse Ziel sein. Den etablierten Kolonialgesellschaften in Deutschland standen sie ablehnend gegenüber: die deutsche Kolonialpolitik sei beinahe ausschließlich von wirtschaftlichen Erwägungen geprägt und stünde unter starkem jüdischen Einfluss. Es gehe um besiedlungsfähigen Raum für eine alldeutsch und allgermanisch orientierte Siedlungspolitik großen Stils. Außereuropäische Kolonien spielten dabei keine große Rolle. Es gehe um den Osten, der sich an das deutsche Mutterland unmittelbar anschließt. Dorthin weist uns das Schicksal: der Kompaß der Germanen zeigt nach Osten. Die deutschen Amerikaauswanderer müssten nach Osten umgeleitet und zur Lösung der sozialen Frage Arbeiter und städtisches Proletariat dort angesiedelt werden. Gängige völkische Vorstellung war ein germanischer Rassestaat auf dem Volksboden Mitteleuropas, besiedelt von deutschen Bauern und Handwerkern, den Vätern zukünftiger Krieger. Paul de Lagarde hatte bereits 1875 diese Vision eines deutschen Reiches beschrieben, dessen Grenzlinien

„im Westen von Luxemburg bis Belfort, im Osten von Memel bis zum alten Gotenlande am Schwarzen Meer zu gehen, im Süden jedenfalls Triest einzuschließen haben, und das Kleinasien für künftiges Bedürfnis gegen männiglich freihält“.[2]

Auch der paramilitärische Stahlhelm foderte in einer Botschaft vom 8. Mai 1927 neuen Lebensraum:

„Die wirtschaftliche und soziale Not unseres Volkes ist verursacht durch den Mangel an Lebens- und Arbeitsraum. Der Stahlhelm unterstützt jede Außenpolitik, welche dem Bevölkerungsüberschuß Siedlungs- und Arbeitsgebiete eröffnet und welche die kulturelle, wirtschaftliche und politische Verbindung dieser Gebiete mit dem Kern- und Mutterland lebendig erhält. Der Stahlhelm will nicht, dass das durch seine Not in Verzweiflung getriebene deutsche Volk Beute und Brandherd des Bolschewismus wird.“[3]

Ebenso sprach auch der Reichskanzler Heinrich Brüning auf einer Ministerbesprechung am 8. Juli 1930 bei der Formulierung der Antwortnote auf den Europaplan des französischen Ministerprädidenten Aristide Briand davon, dass Deutschland ausreichend Lebensraum brauche:

Die „Voraussetzungen für eine gerechte und dauerhafte Ordnung Europas, in dem Deutschland seinen ausreichenden natürlichen Lebensraum haben müsse, seien klarzulegen. In wirtschaftlicher Hinsicht dürfe man sich auch nicht zu optimistisch äußern und dürfe man nicht unterlassen, die bevorstehenden Schwierigkeiten nachzuweisen. Man müsse bedenken, daß Deutschland weder landwirtschaftlich noch industriell konkurrenzfähig sein würde, sobald die europäischen Zollschranken fallen würden.“[4]

Stark popularisiert wurde die Idee des Lebensraumes durch den 1926 erschienenen Roman von Hans Grimm „Volk ohne Raum“.

Mein Kampf

In seiner 1924/1925 geschriebenen programmatischen Schrift Mein Kampf entwickelte Adolf Hitler in einem besonderen Kapitel über „Ostorientierung oder Ostpolitik“ ausführlich seine Lebensraumpläne. Er rief dazu auf, dem deutschen Volk den „ihm gebührenden Grund und Boden auf dieser Erde zu sichern“ und bekundete:

„Damit ziehen wir Nationalsozialisten bewußt einen Strich unter die außenpolitische Richtung unserer Vorkriegszeit. Wir setzen dort an, wo man vor sechs Jahrhunderten endete. Wir stoppen den ewigen Germanenzug nach dem Süden und Westen Europas und weisen den Blick nach dem Land im Osten. Wir schließen endlich ab die Kolonial- und Handelspolitik der Vorkriegszeit und gehen über zur Bodenpolitik der Zukunft. Wenn wir aber heute in Europa von neuem Grund und Boden reden, können wir in erster Linie nur an Rußland und die ihm untertanen Randstaaten denken.“[5]

In seinem zu Lebzeiten unveröffentlichten zweiten Buch sprach er bereits davon, die in den annektierten Gebieten ansässige Bevölkerung kurzerhand zu „entfernen“, um „den dadurch freigewordenen Grund und Boden“ an die eigene Bevölkerung übergeben zu können.

Maßgebend für diese Idee war, ausgehend von der Rassenideologie, Hitlers Glaube an eine überlegene nordische Rasse und unterlegene andere Rassen, zu denen auch die Slawen gehörten. Für die Umsetzung der Besiedlungvisionen des Generalplans Ost wurden während des Russlandfeldzuges bewusst Vertreibung und Massenmord der dort lebenden Bevölkerung in Kauf genommen.

Schlüsseldokumente für Hitlers Lebensraumprogramm

Eine umfangreiche Liste von Schlüsseldokumenten bezeugt, dass Hitler konsequent an seinen Kriegszielvorstellungen festhielt.

  • Gleich nach der Machtübergabe verkündete Hitler bei seinem Antrittsbesuch bei den Generälen in der Wohnung des Generals Hammerstein-Equord am 3. Februar 1933 sein Lebensraumprogramm (Liebmann-Aufzeichnung):
„Wie soll pol. Macht, wenn sie gewonnen ist, gebraucht werden? Jetzt noch nicht zu sagen. Vielleicht Erkämpfung neuer Export-Mögl., vielleicht - und wohl besser - Eroberung neuen Lebensraums im Osten u. dessen rücksichtslose Germanisierung.“[6]
  • In seiner geheimen Denkschrift zum Vierjahresplan 1936, in der gefordert wurde, dass die deutsche Armee und die deutsche Wirtschaft in 4 Jahren kriegsbereit zu sein haben, führte Hitler aus:
„Die endgültige Lösung liegt in einer Erweiterung des Lebensraumes bzw. der Rohstoff- und Ernährungsbasis unseres Volkes. Es ist Aufgabe der politischen Führung, diese Frage dereinst zu lösen.“[7]
  • Am 5. November 1937 führte Hitler vor den wichtigsten Vertretern der Wehrmacht aus, dass die deutsche Raumfrage nur durch einen Krieg gelöst werden könne. (Hoßbach-Protokoll)
  • Am 23. Mai 1939 führte Hitler vor seinen Oberbefehlshabern aus:
„Der Lebensraum, der staatl. Größe angemessen, ist die Grundlage für jede Macht. Eine Zeit lang kann man Verzicht leisten, dann aber kommt die Lösung der Probleme so oder so. Es bleibt die Wahl zwischen Aufstieg oder Abstieg. In 15 oder 20 Jahren wird für uns die Lösung zwangsweise notwendig. Länger kann sich kein deutscher Staatsmann um die Frage herumdrücken.“[8]
  • Am 23. November 1939 führte Hitler vor seinen Oberbefehlshabern aus:
„Die steigende Volkszahl erforderte größeren Lebensraum. Mein Ziel war, ein vernünftiges Verhältnis zwischen Volkszahl und Volksraum herbeizuführen. Hier muß der Kampf einsetzen. Um die Lösung dieser Aufgabe kommt kein Volk herum oder es muß verzichten und allmählich untergehen.“[9]

In den zu erobernden Ostgebieten wollte Hitler mindestens 100 Millionen Deutsche sowie sonstige „germanische“ Einwanderer ansiedeln, dazu sollte mit dem Generalplan Ost ein Großteil der nordischen Slawen innerhalb dreier Jahrhunderte assimiliert, der Rest nach Sibirien vertrieben werden oder als Arbeitssklaven eingehen. Das NS-Regime hatte sich mit dem durch massenhaften Abtransport von Lebensmitteln und Plünderung durch Soldaten der Wehrmacht prophezeiten Hungertod sowjetischer Kriegsgefangener und russischer Zivilisten abgefunden (siehe auch: Hungerplan, Programm Heinrich).

Verwandte Themen

Einzelnachweise

  1. Sven Lindqvist, Durch das Herz der Finsternis. Ein Afrikareisender auf den Spuren des europäischen Völkermords. Mit einem Vorwort von Urs Widmer, Campus: Frankfurt a. M., New York 1999, S. 191–194. - Zum „Lebensraum“-Konzept der europäischen Kolonialmächte neuerdings: Olivier Le Cour Grandmaison, La République impériale. Politique et racisme d'État, Fayard: Paris 2009, S. 329-352.
  2. Zitate des Abschnitts „Die völkische Bewegung“ zitiert nach Uwe Puschner: Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich, Darmstadt 2001, ISBN 3-534-15052-X.
  3. Reinhard Kühnl: Der deutsche Faschismus in Quellen und Dokumenten. Köln 1978, S. 54.
  4. Bundesarchiv, Akten der Reichskanzlei, Die Kabinette Brüning I/II, Band 1, Dok. 68.
  5. Adolf Hitler, Mein Kampf, Zwei Bände in einem Band, S. 742.
  6. Walther Hofer: Der Nationalsozialismus Dokumente 1933–1945. Frankfurt am Main 1957, S. 181.
  7. Wilhelm Treue: Hitlers Denkschrift zum Vierjahresplan. in: VfZG 2/1955, S. 204.
  8. Wolfgang Michalka: Deutsche Geschichte 1933–1945. Frankfurt am Main 1999, S. 165.
  9. Wolfgang Michalka: Deutsche Geschichte 1933–1945. Frankfurt am Main 1999, S. 181.

Literatur

Weblinks


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