- Lychen II
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Das Kernwaffendepot bei Himmelpfort in Brandenburg wurde umgangssprachlich als Lychen II bezeichnet. Dieses Depot war eines von vier zentralen Raketenwaffendepots (Himmelpfort, Stolzenhain, Waren und Bischofswerda) von insgesamt 21 Kernwaffendepots auf dem Gebiet der DDR. Auf russisch wurde es auch wegen seiner abgeschiedenen Lage und wegen der russischen Bezeichnung für die Trägerrakete 9K79 als Totschka (Punkt) bezeichnet. Da das Gelände zu Zeiten der DDR der höchsten Geheimhaltungsstufe unterlag, bei der Übergabe 1992 an das Bundesfinanzministerium keinerlei Unterlagen von der roten Armee hinterlassen wurden und die Aktivitäten der russischen Truppen an diesem Standort bis heute in Russland noch unter die Regelung der 50-jährigen Staatsgeheimnisse fallen, ist die offizielle militärische Bezeichnung nicht sicher zu ermitteln. Einige Quellen bezeichnen den Standort Lychen II auch als Kernwaffendepot 5 oder als Basis des 64. Atomwaffen Lager-, Wartungs- und Instandsetzungskommandos.
Inhaltsverzeichnis
Truppengattungen
Nach Auskunft des militärhistorischen Vereins Nord-Brandenburg sind mindestens drei Truppengattungen am Standort Lychen II stationiert gewesen:
- NVA-Soldaten, welche die Anlage bewachten, abschirmten und die Koordination der Übergabe der Sprengköpfe an die Truppen der DDR übernahmen.
- Soldaten der 4. Luftarmee der UdSSR, welche den Standort betrieben, den Fuhrpark für den Transport der Kernwaffen warteten sowie die innere Sicherheitszone bewachten.
- eine Spezialeinheit des KGB, welche ausschließlich im Innern der Bunker arbeitete.
Arten von Sprengköpfen
Am Standort Lychen wurden die Gefechtsköpfe, Zünder und Transportbehälter für das Kurzstreckenraketen-Nuklearwaffenarsenal (SRBM) der GSSD gelagert. Hiebei handelte es sich um Sprengköpfe vom Typ AA-60 mit 0,3 bis 20 kT Sprengkraft oder AA-75 mit 10-50 kT Sprengkraft für taktische SS-1 Scud und operativ taktische SS-21 Scarab bis SS-23 Spider Waffensysteme. Der letzte Befehlshaber der NVA soll nach 1992 geäußert haben, ihm sei zwar bekannt gewesen, dass am Standort Lychen II die jeweils jährlich in Moskau geplanten Mittel (Einsatzkapazitäten) lagerten, jedoch habe er niemals deren Existenz überprüfen können.
Depotbunker
Auf dem Gelände des Standorts Lychen II stehen für eine Kaserne typische Wohn- und Funktionsgebäude. Das eigentliche Kernwaffendepot liegt hiervon getrennt in einer eigenen Sicherheitszone. Das Depot besteht aus zwei einzelnen Bunkern, die in ca. 60 Metern Entfernung, rechtwinklig zueinander angeordnet sind. Jeder der Bunker verfügt über jeweils zwei gegenüberliegende, oberirdische Zugangsschleusen. Durch die unterschiedliche Ausrichtung der Bunker und Zugänge hätte bei einer einzelnen Kernwaffendetonation in der unmittelbaren Nähe so nur maximal eine Drucktür beschädigt werden können. Obwohl die Bunker keinem direkten Kernwaffentreffer standgehalten hätten, wurde die Schutzklasse so gewählt, dass konventionelle Waffen und Naturkatastrophen die Lagerkavernen nicht beschädigt hätten.
Aufbau und Nutzung
Der Aufbau des Bunkers entspricht der typischen Bauweise unterirdischer Munitionslager der Roten Armee. Ein oberirdischer Teil enthält die Druckschleusen, Notausgänge und Belüftungsschächte und ist mit Erdreich von drei bis vier Metern Höhe überschüttet. Die Zugangswege von den Laderampen zu den Druckschleusen sind vollständig überdacht, um Transportaktivitäten für Luft- und Satellitenaufklärung unsichtbar zu machen. Jeder der beiden Bunker verfügt über zwei gegenüberliegende Druckschleusen. Die Schleusen- und Eingangsbereiche führen über eine äußere Panzertür in eine Druckkammer, von welcher man über die innere Panzertür auf den Verladebalkon gelangt. Hier stehen jeweils ein elektrischer und ein mechanischer Deckenkran zum Anheben und Absenken der Transportbehälter in das Untergeschoss des Bunkers bereit. Dieses Untergeschoss besteht aus einer zentralen Halle, welche von den beiden Verladebalkonen an den Stirnwänden flankiert wird. Die ins Untergeschoss abgesenkten Verladebehälter wurden in der zentralen Halle geöffnet. Hierzu gab es eine Pressluftentlüftungs- und Befüllungsanlage, welche verhinderte, dass die Pressluft oder das Helium aus den Transportbehältern in die Atmosphäre des gegenüber der Außenluft hermetisierten Bunkers entwich. Nach der Entnahme der Sprengköpfe konnten diese in drei unterirdische Lagerkavernen von ca. 30 Metern Länge verbracht werden. Diese Lagerkavernen waren durch Stahltüren von der zentralen Halle abgetrennt und konnten jeweils 18 bis 24 dieser 450 bis 750 kg schweren Gefechtsköpfe aufnehmen. Die maximale Lagerkapazität von Lychen II lag bei 144 Gefechtsköpfen. Gegenüber den Lagerkavernen befanden sich Aufenthalts- und Funktionsräume für elektrische Anlagen, Luftreinigung, Hermetisierung, Wasseraufbereitung, Drucklufterzeugung, Notstromversorgung, Massekühler und weitere, technische Funktionsräume, sowie ein WC.
Zwischen beiden Bunkern im inneren Sicherheitsgelände war eine mit Betonwabenplatten ausgelegte Fläche, welche als Landeplatz für militärische Helikopter genutzt wurde. Ob auf diesem Wege Sprengköpfe von und nach Lychen II transportiert wurden, ist nicht feststellbar. Es scheint jedoch wahrscheinlich, dass zur Zeit der Nutzung in einem eventuellen Krisenfall die im Depot eingelagerten Sprengköpfe den Kampfverbänden zur geplanten „Nutzung“ übergeben worden wären. Lychen wäre neben Stolzenhain auch das Auslieferungslager für die Raketenbrigaden der NVA gewesen. Die anderen Kernwaffen wurden zur ausschließlichen Verwendung innerhalb der GSSD gelagert. Für ca. 60 % der Sprengköpfe war die Verwendung bereits ausgewählt. Für die verbleibenden 40 % waren noch keine Ziele ausgewählt und geplant worden. Diese Reserve wäre aus naheliegenden Gründen jedoch nicht im Depot verblieben, sondern mittels der hier stationierten Castor-Transporter aus dem Tross der Roten Armee an dezentralen Orten als Munitionsreserve vorgehalten worden.
Da Kernwaffen aus spaltbaren Materialien (zumeist Uran 235 oder Plutonium 239) bestehen, wird der Zerfallsprozess natürlich durch die Kühlung mit Helium oder die Einlagerung an sich nicht unterbrochen. Die Sprengköpfe müssen also von Zeit zu Zeit (im Schnitt alle 18 bis 20 Monate) demontiert werden. Das abgelagerte Material wird dann durch „Frisches“ ersetzt.
Obwohl Lychen II über Anlagen und Räume zur Wartung und Montage von Sprengköpfen und Zündern verfügte, ist der Transport von abgelagertem Material am sichersten in den eigentlichen Sprengköpfen. Entsprechende militärische Labors und Aufbereitungsanlagen der UdSSR (heute: Rosatom) befanden sich in Lesnoi in der Nähe von Perm (Пермь), Schelesnogorsk (Железногорск), Selenogorsk (Зеленогорск) und Swerdlowsk, heute Jekaterinburg (Екатеринбург). Es scheint möglich, dass die Helikopterfläche auch zum schnellen Transport von Sprengköpfen zu anderen militärischen Einheiten, Depots oder von und zu den Aufbereitungsstellen genutzt wurde. Zeitzeugen berichten, dass Flugbewegungen von Helikoptern zu beobachten waren.
53.17656388888913.281308333333Koordinaten: 53° 10′ 36″ N, 13° 16′ 53″ O
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