Menschliche Sexualität

Menschliche Sexualität
Darstellung eines Sexualaktes aus einer Kāmasūtra-Handschrift

Die Sexualität des Menschen dient im biologischen Sinne der Neukombination von Erbinformationen zwischen Mann und Frau.

Im sozio- und verhaltensbiologischen Sinn bezeichnet der Begriff die Formen dezidiert geschlechtlichen Verhaltens zwischen Geschlechtspartnern. Beim Menschen - wie bei vielen Wirbeltieren - hat das Sexualverhalten zusätzliche Funktionen im Sozialgefüge der Population hinzugewonnen, die nichts mit dem Genomaustausch zu tun haben, so dass die beteiligten Partner unter diesem sozio-sexuellen Gesichtspunkt nicht unterschiedlichen Geschlechts sein müssen.

Im weiteren Sinn bezeichnet Sexualität die Gesamtheit der Lebensäußerungen, Verhaltensweisen, Emotionen und Interaktionen von Lebewesen in Bezug auf ihr Geschlecht.

Zwischenmenschliche Sexualität wird in allen Kulturen auch als ein möglicher Ausdruck der Liebe zwischen zwei Personen verstanden.

Inhaltsverzeichnis

Grundlagen

Hauptartikel: Sexualität

Die Entwicklung eines durch Hormone gesteuerten Systems war ein wichtiger Schritt zur Herausbildung sexueller Verhaltensweisen. Neben der Fortpflanzung mittels Austausch von Erbinformationen hat geschlechtlicher Verkehr bei höheren Organismen teils auch eine soziale Bedeutung, insbesondere bei den Primaten (wie dem Menschen und den Bonobos).

Menschliche Sexualität

Beim Menschen scheint die Sexualität im Gegensatz zu fast allen Tieren kein reines Instinktverhalten zu sein, sondern auch bewussten Entscheidungsprozessen zu unterliegen. Menschen drücken ihre sexuelle Anziehung zum Anderen durch unterschiedliche Formen und Aspekte aus: Zärtlichkeiten, Worte, verschiedene sexuelle Praktiken, durch besitzergreifendes Verhalten. Die Sexualität des Menschen beeinflusst seine Psyche, seine persönliche Entwicklung, die Formen seines Zusammenlebens sowie - auch beeinflusst von der Sexualmoral - die gesamte Sozialstruktur, also die Kultur und Gesellschaft, in der er lebt. Da zwischen der Sexualität des Mannes und der Sexualität der Frau teils erhebliche Unterschiede bestehen, führt diese Diskrepanz bei der Heterosexualität zu mannigfaltigen Abstimmungsschwierigkeiten zwischen den Geschlechtern. Folgen mangelnder Anpassung auf beiden Seiten können sich auch in sexuellen Funktionsstörungen bei Frau und Mann niederschlagen.

Außer der am weitesten verbreiteten Ausrichtung des Sexualverhaltens, der Heterosexualität, weist das Sexualverhalten des Menschen weitere sexuelle Orientierungen auf. Dazu gehören zum Beispiel die Homosexualität, d.h. die Ausrichtung des Sexualtriebs auf das eigene Geschlecht, die Bisexualität, die sich auf beide Geschlechter richtet, die Asexualität, wo kein Verlangen nach Sex - weder mit dem männlichen noch weiblichen Geschlecht - besteht oder im queeren Verständnis die Pansexualität als Begehren unabhängig vom Geschlecht (z. B. sexuelles Interesse an Transsexuellen oder Transgendern). Außerdem gibt es die fetischistische Sexualität, die sich auf unbelebte Gegenstände oder bestimmte Handlungen richtet. Früher teilweise tabuisiert und verboten, gewinnen diese Ausrichtungen heute in aufgeklärten Gesellschaften zunehmend an Akzeptanz und sind in vielen Ländern heute gesetzlich legal.

Siehe auch: Evolution des Sexualverhaltens, Pubertät (Sexualität des Kindes und Jugendlicher)

Geschichtlich-/gesellschaftliche Aspekte

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Vor und Frühgeschichte

Venus von Willendorf

Viele archäologische Funde - wie die Venus von Willendorf - zeugen davon, dass die Beschäftigung mit der Sexualität schon früh Teil der menschlichen Kultur war. Ihr Stellenwert lässt sich an der übergroßen Darstellung und Einfärbung von Geschlechtsteilen der historischen Artefakte erkennen. Vulva- und phallusartige Steinsetzungen können als Zeichen der Verehrung von Geschlechtsorganen interpretiert werden.

Eine These ist, dass sich durch die Neolithische Revolution das Verhältnis des Menschen zur Sexualität geändert haben könnte. Diesem Konzept nach betrachtete der Mann die Sexualität der Frau als zunehmend gefährlich und einer Kontrolle bedürftig. Es wird in diesem Zusammenhang darüber spekuliert, dass die Aufzucht der Jungen nur noch lohnend ist, wenn es der eigene, genetisch verwandte Nachwuchs gewesen sei. In diesem Zusammenhang soll der Umstand eine Rolle gespielt haben, dass die Frau eine verdeckte Befruchtung hat: da der Mann nicht im Nachhinein kontrollieren kann, ob er der Erzeuger der Kinder war, fing er an, die weibliche Sexualität mit Tabus und Verboten zu belegen. Nicht erklärt werden kann in dieser naturalistisch-biologistischen Sichtweise, warum auch alle anderen Formen der Sexualität mit Tabus und Verboten verbunden wurden.

Altertum und Antike

In Altertum und Antike ist das Verhältnis zur Sexualität je nach Kultur und Epoche äußerst unterschiedlich. Von einigen Hochkulturen (z. B. Griechenland) ist bekannt, dass Prostitution und offene Homosexualität in ihnen gesellschaftsfähig waren.

Mittelalter

Gleichgeschlechtliche Sexualität

Die christliche Moral der Kirche ist seit dem Mittelalter stark sexualfeindlich geprägt; Sexualität sollte ausschließlich der Zeugung von Kindern dienen. Wollust galt gemeinhin als sündhaft, Homosexualität als abartig krankhaft und widernatürlich; vielmehr wurde die rigide Einhaltung der Keuschheit propagiert und die Sexualität in den Nimbus des Diabolischen gestellt.

Neuzeit

Während im spätmittelalterlichen Europa und in bestimmten Phasen der frühen Neuzeit - von den mittelalterlichen Badehäusern bis zu den absolutistischen Höfen - recht ungezwungene Sitten herrschten, breiteten sich erst mit dem Puritanismus und den Moralvorstellungen des viktorianischen England oder wilhelminischen Deutschland repressive Moralvorstellungen aus, mit denen man der Sexualität insgesamt misstrauisch gegenüberstand. Sie wurde z. B. als animalisch, roh und gefährlich angesehen, da sie die Grenzen der Vernunft zu sprengen drohte. Insbesondere in diesen Zeiten wurde der Frau keine selbstbestimmte Ausübung ihrer Sexualität zugestanden.

Im 19. Jahrhundert setzte eine massive Sexualerziehung ein, die vor allem an junge Männer adressiert war. In Handbüchern wie The Young Man's Guide (William Andrus Alcott, 1833) und Lecture to Young Men on Chastity (Sylvester Graham, 1834) wurden diese eindringlich vor den vermeintlichen gesundheitsschädlichen Folgen der Masturbation, aber auch vor homosexuellen Handlungen gewarnt.

20. Jahrhundert

Konzept nach Freud

Von wichtiger wissenschaftsgeschichtlicher Bedeutung ist das Konzept der Triebtheorie des Wiener Arztes und Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud. Dieser sah die Psyche und die Entwicklung des Menschen zu einem erheblichen Teil von dem Sexualtrieb bestimmt. Freud beschrieb den Sexualtrieb zwar als biologisch begründet, erforschte ihn aber hauptsächlich in seiner psychologischen Ausprägung. Die psychologische Erscheinungsform des Sexualtriebes bezeichnete er als Libido. Dieses Konzept spielte in der „klassischen“ Psychoanalyse eine wesentliche Rolle, da man dort annimmt, dass die psychische Entwicklung des Kindes erheblich durch seine Sexualität beeinflusst wird. Erhebliche Störungen in der psychosexuellen Entwicklung können zu Neurosen und Psychosen führen. Ganz im Gegensatz zu den kirchlichen Kritikern, die in der Entstehungszeit der Psychoanalyse, Freud vorwarfen, er würde Pansexualismus und Unzucht fördern und zur Verrohung der Sitten beitragen, sah Freud die reine Anerkennung der individuellen Sexualität als Merkmal für psychische Gesundheit. Hierbei muss die Sexualität nicht ausgelebt werden. Auch wurde Freuds frühes, und später verworfenes, Konzept der Katharsis als Aufruf zur sexuellen Aktivität missverstanden. Freud legte durch seine enge Verknüpfung der Sexualität und der psychischen Entwicklung auch den Grundstein zur psychologischen Untersuchung der Perversionen, die heute als Paraphilien bezeichnet werden. Paraphilien bezeichnen sexuelles Verhalten, welches von der Norm abweicht.

Mit der Psychoanalyse von Freud kamen Anfang des 20. Jahrhunderts neue Vorstellungen der Rolle von Sexualität auf: sie sei ein natürlicher Trieb, ihre Auslebung befreiend, notwendig und positiv, ihre Unterdrückung hingegen erzeuge Neurosen.

Weitere Entwicklungen im 20. Jahrhundert

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts machte Magnus Hirschfeld in Deutschland durch seine Forderungen nach Straffreiheit für Homosexuelle auf sich aufmerksam. Er gründete in Berlin das weltweit erste Institut für Sexualwissenschaft in Berlin.

Seit den 1930er Jahren ermöglichten Antibiotika erstmals eine effektive Behandlung übertragbarer Geschlechtskrankheiten, sodass das Argument, sexuelle Freizügigkeit werde mit unheilbarer Krankheit „bestraft“, von nun an immer mehr an Bedeutung verlor.

Nach Untersuchungen der amerikanischen Historikerin Dagmar Herzog war die Haltung zur Sexualität während des Nationalsozialismus relativ liberal [1] [2] . Erst in den 50er Jahren folgte ein Schwenk zu einer deutlich konservativeren Einstellung. Bis in die 60er Jahre hinein blieb eine oftmals als bigott angesehene Moral vorherrschend. So galten z. B. Zimmerwirte als Kuppler, wenn sie unverheirateten Paaren gemeinsame Schlafräume vermittelten. Sexualität war ein Tabu-Thema, über das in der Öffentlichkeit nicht gesprochen wurde. Erst die Welle der sexuellen Befreiung der 68er führte - zusammen mit der Aufklärungsliteratur (wie der von Shere Hite) und den Aufklärungsfilmen - zu neuem Nachdenken über die sexuelle Lust.

In der Gegenwart wird die sexuelle Selbstbestimmung mehr und mehr zum Leitgedanken der Sexualmoral. Abweichende sexuelle Praktiken, Beziehungsformen und sexuelle Orientierungen sind zunehmend sozial akzeptiert oder wenigstens geduldet, solange Einverständnis zwischen den (erwachsenen) Beteiligten besteht, die Vorgaben des Strafrechts eingehalten und keine Dritten potentiell geschädigt oder belästigt werden.

Erotische Darstellungen sind Vorläufer der Pornografie - Gustave Courbet, Der Schlaf (19. Jh.)

Schon 1917 hatte Richard Oswald den Aufklärungsfilm über Geschlechtskrankheiten „Es werde Licht!“ im Auftrag des deutschen Kriegsministeriums gedreht. Der Film brachte eine Filmlawine ins Rollen. Allein dieser Film hatte drei Folgen. 1919 brachte Oswald das Problem Homosexualität und Erpressung in einer kriminalistischen Handlung unter: „Anders als die Andern“.

Weil vom Ende des Ersten Weltkriegs bis 1920 keine Filmzensur in Deutschland existierte, folgte 1919 auf die Welle der „Aufklärungsfilme“ die der eigentlichen „spekulativen Sexfilme“, damals noch „Sittenfilme“ genannt.

In den 60er Jahren wiederholte sich diese kommerziell-gesellschaftliche Entwicklung auf eine erstaunlich ähnliche Weise.

Mit der zunehmenden Enttabuisierung der Sexualität, rückte dieses Thema zunehmend in den Blickpunkt der Wissenschaft. Alfred Charles Kinsey erforschte ab den 1940er Jahren das menschliche Sexualverhalten, und stellte seine Erkenntnisse in den sog. Kinsey-Reports dar, die aufgrund ihrer Ergebnisse heftige Kontroversen auslösten. Die Erforschung der Sexualität und auch der sexuellen Störungen, welche heute als behandlungsbedürftig angesehen werden, geht vor allem auf die Pioniere Masters und Johnson zurück, welche sich als Forscherduo der Sexualität widmeten. Helen Singer Kaplan entwickelte in den 1970er Jahren die Sexualtherapie.

Siehe auch

Literatur

Allgemeines

  • Stephan Dressler, Christoph Zink: Pschyrembel Wörterbuch Sexualität. De Gruyter, Berlin u.a. 2003, ISBN 3-11-016965-7
  • Erwin J. Haeberle: dtv-Atlas Sexualität. Dtv, München 2005, ISBN 3-423-03235-9
  • Erwin J. Haeberle: Die Sexualität des Menschen. Handbuch und Atlas, 2003, Inhalte
  • Schülerduden: Sexualität. Duden, Mannheim 1997, ISBN 3-411-05491-3
  • Max Marcuse (Hrsg.): Handwörterbuch der Sexualwissenschaft. Enzyklopädie der natur- u. kulturwissenschaftlichen Sexualkunde des Menschen. Neuausg. [Nachdr. der 2. Aufl. 1926.] De Gruyter, Berlin u.a. 2001, ISBN 3-11-017038-8
  • Robert T. Francoeur(Hrsg.): The International Encyclopedia of Sexuality, Volume I - IV, 1997-2001, The Continuum Publishing Company, New York, online unter Humboldt-Universität Berlin

Sexualität der Gegenwart

  • Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (Hrsg.): Sexualität und Kontrazeption aus der Sicht der Jugendlichen und ihrer Eltern. Eine repräsentative Studie im Auftrag der BZgA. 3. Aufl. BZgA, Köln 2002, ISBN 3-9805282-1-9
  • William H. Masters, Virginia E. Johnson, Robert C. Kolodny: Liebe und Sexualität. Neuaufl. Ullstein, Berlin u.a. 1993, ISBN 3-548-35356-8
  • Christiane Pönitzsch: Chatten im Netz. Sozialpsychologische Anmerkungen zum Verhältnis von Internet und Sexualität. Tectum, Marburg 2003, ISBN 3-8288-8540-3
  • Queer denken. Gegen die Ordnung der Sexualität (Queer Studies), hg. von Andreas Kraß, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003 ISBN 3-518-12248-7
  • Dagmar Herzog: Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. Siedler, München 2005, ISBN 3-88680-831-9
  • Kathrin Passig und Ira Strübel: Die Wahl der Qual. Rowohlt-Verlag 2004, ISBN 3-499-61692-0
  • Arne Hoffmann: Der Kick im Kopf. Schwarzkopf & Schwarzkopf 2004 - ISBN 3-89602-455-8
  • Wilfried von Bredow und Thomas Noetzel: Befreite Sexualität? Streifzüge durch die Sittengeschichte seit der Aufklärung, Junius Verlag (1990), ISBN 3-88506-175-9
  • Godwin Lämmermann: Wenn die Triebe Trauer tragen. Von der sexuellen Freiheit eines Christenmenschen, Claudius Verlag 2002, ISBN 3-532-62278-5

Kulturgeschichte

  • Div. Autoren: Liebe und Sexualität. Klaus-Boer-Verlag, 1995, ISBN 3-924963-39-8
  • Franz X. Eder: Kultur der Begierde. Eine Geschichte der Sexualität. Beck, München 2002, ISBN 3-406-47593-0 (Rezension)
  • Philippe Ariès u.a.: Die Masken des Begehrens und die Metamorphosen der Sinnlichkeit. Zur Geschichte der Sexualität im Abendland. Fischer, Frankfurt am Main 1995, ISBN 3-596-27357-9
  • Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit. 1. Band. Suhrkamp, Frankfurt a.M. 1995, ISBN 3-518-28316-2
  • Rüdiger Lautmann, Michael Schetsche: Sexualität im Denken der Moderne. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, Sp. 730-742.

Weblinks

Quellen

  1. Dagmar Herzog: Politisierung der Lust. Siedler Verlag, München, 2005, ISBN 978-3-88680-831-1
  2. Gespräch mit der Historikerin Dagmar Herzog über Sexualität im Nationalsozialismus, taz vom 20.01.2007

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