Mikrotonalität

Mikrotonalität

Mikrotonale Musik arbeitet mit mikrotonalen Intervallen, die unterhalb eines Halbtons bzw. die zwischen den Halbtönen liegen. Derartige Töne werden zwar stetig auch in klassischer Musik oder in Pop und Jazz eingesetzt (in Trillern, Glissandi, Portamenti etc.), trotzdem spricht man hier nicht von mikrotonaler Musik. Eine derartige Musik muss mit einem mikrotonalen Tonsystem verbunden sein, oder sie muss mikrotonale Zeichen enthalten, die nicht nur sporadisch eingesetzt werden. Es brauchen nicht zwangsläufig mehr als zwölf Töne pro Oktave vorhanden zu sein.

Inhaltsverzeichnis

Abgrenzung

Wenn in Musikstilen, wie etwa im Grunge-Rock, verstimmte Gitarren eingesetzt werden, spricht man eher von „mikrotonalen Elementen“ als von mikrotonaler Musik.

Geschichte

11. bis 20. Jahrhundert des Westens

In der Handschrift Montpellier H 159 (11. Jahrhundert) finden sich innerhalb der dort aufgezeichneten gregorianischen Gesänge Mikrotonzeichen, die auf altgriechische Tonhöhenzeichen zurückführbar sind (Joseph Gmelch: Die Vierteltonstufen im Meßtonale von Montpellier, phil.Diss. Freiburg/Schweiz, Eichstätt 1911). Gmelch gibt als Beispiele: Offertorium: Afferentur, 198,3 und Graduale: Miserere mihi, 184,2 und 4. Gmelch schreibt S.11/12 zu diesen Spezialzeichen: „Über ihre Herkunft kann kaum ein Zweifel obwalten; sie sind geradeso konstruiert, wie in der altgriechischen Tonschrift aus einem Urzeichen durch Umlegen neue Zeichen sich ergaben, ja sie sind nichts anderes als altgriechische Tonzeichen und kommen als solche in den Tabellen des Alypius aus dem 4. Jh. nach Chr. vor ... Nur die Bedeutung ist hier eine andere. Man wird sie auf nicht-diatonische Tonstufen beziehen müssen, von denen Guido im 10. Kapitel des Micrologus spricht.“ Willi Apel: Gregorian Chant, London o. J. (Burns&Oates), S. 110 ff vermutet für einige Neumen (salicus, oriscus und pressus) einen mikrotonalen Bezug und nimmt auf S. 122 f Bezug auf Montpellier H 159.

Die in Montpellier H 159 vorkommenden mikrotonalen Zeichen sind:

Mikrotonzeichen aus der Handschrift Montpellier H 159

Die mitteltönige Stimmung der Renaissance versuchte, naturreine Terzen mit annähernd reinen Quinten zu versöhnen, musste aber die sogenannte Wolfsquinte in Kauf nehmen. Um diese zu umgehen oder in weit entfernte Tonarten zu verschieben, wurden einige Tasten des Keyboards geteilt. Guillaume Costeley schrieb 1558 einen Chromatischen Chanson, Seigneur Dieu ta pitié, benutzte darin 19 temperierte Stufen pro Oktave mit mikrotonalen Intervallen (63 Cent-Schritte).

Ein weiterer Ansatz zu mikrotonaler Musik stammte vom italienischen Renaissancekomponisten Nicola Vicentino, der bei dem von ihm entwickelten Archicembalo 36 Tasten pro Oktave verwendete. Allerdings galt sein Interesse in erster Linie der klassischen griechischen Musiktheorie und dem Bestreben, akustisch reine Intervalle innerhalb chromatischer Kompositionen zu verwenden. Ein ähnliches Instrument benutzte Gesualdo di Venosa zur Komposition seiner hochchromatischen Madrigale. Der Begriff „Mikroton“ war zu dieser Zeit aber noch nicht bekannt.

Johann Kuhnaus Cembalo-Komposition Der Kampf zwischen David und Goliath, um 1700 entstanden, benutzt die in der Mitteltontemperatur entstehenden exotischen Intervalle, namentlich auch die Wolfsquinte. In dieser Tradition stehen viele Barockkomponisten wie etwa auch François Couperin.

Eine wirklich „mikrotonale“ Komposition (Air à la grecque) wurde 1760 von dem Flötisten Charles Delusse (* ca. 1723, † ca. 1774) für Flöte und Bass geschrieben. In der nur wenig mehr als eine Minute dauernden Komposition füllt er mehrfach chromatische Linien der Flöte mit Vierteltönen auf.

Sehr selten sind Experimentatoren wie etwa Jacques Fromental Halévy, der 1849 ein Werk für Soli, Chor und Orchester mit Vierteltönen schrieb: Prométhée enchaîné (nach Aischylos).

Als eigentlicher Beginn der Erweiterung des westlichen Tonsystems muss das frühe 20. Jahrhundert angesehen werden mit Komponisten wie Ferruccio Busoni (er ließ sich ein Dritteltonharmonium bauen, ohne allerdings für das Instrument zu komponieren) oder Charles Ives (Gebrauch von Vierteltönen in verschiedenen Kompositionen).

Pioniere

Bedeutende Pioniere mikrotonaler Musik sind z. B. Julián Carrillo, Alois Hába, Ivan Wyschnegradsky und Harry Partch. Andere wie Charles Ives oder Béla Bartók machten nur sporadischen, unsystematischen Gebrauch von Vierteltönen.

(verschiedene) Musiksysteme

Der Begriff wird auch auf Musiksysteme angewendet, deren Stimmung nicht auf den westlichen Halbtönen basiert (z. B.: indonesische Gamelan-Musik oder indisch klassische Musik (s. u.)).

Mikrotonale Komposition des Westens

Viele Kompositionen im 20. und 21. Jahrhundert benutzen Mikrotöne. Dabei sind zwei Hauptstränge zu beobachten: Einerseits wird die Oktave weiter geteilt, etwa in 17, 19, 31, 53, 72 temperierte Schritte (auch andere Lösungen wurden individuell gefunden), oder die Oktave wird asymmetrisch (in verschieden große Tonschritte) geteilt. Dies ist besonders in allen Lösungen zu beobachten, die sich naturreinen Stimmungen zuwenden. Des Weiteren werden etwa Sechstel-, Viertel- oder Achteltöne verwendet, um diverse harmonische oder melodische Ideen zu notieren. Es ist auch der Verzicht auf die Oktave als unumstößliches Intervall zu beobachten.

Shrutis – Mikrotöne in der indisch klassischen Musik

Während das Tonsystem der westlichen Musik die Oktave (Frequenzverhältnis 2:1 zum Grundton) in 12 verschiedene Halbtönen unterteilt, teilt die indische Musiklehre die Oktave in 22 verschiedene Töne. Diese werden Shruti (Sanskrit, f., श्रुति, śruti, Ton) genannt. (siehe dazu den Artikel Shruti (Musik)).

Notationsbeispiel

Die gebräuchlichsten mikrotonalen Zeichen sind:

gebräuchliche Mikrotonzeichen

Mikrotonale Forscher

Schriften zur Mikrotonalität haben publiziert:

  • Christiaan Huygens (1629-1695) propagiert die temperierte 31ton-Skala
  • Adriaan Daniël Fokker (1887-1972) Bezug auf Huygens, Keyboard-Design
  • Ivan Wyschnegradsky (1893-1979) Viertel- und Sechstelton-Temperierungen
  • Alois Hába (1893-1973) Temperierungen
  • Harry Partch (1901-1974) Just Intonation
  • Joel Mandelbaum (*1932) reiches Schrifttum über Mikrotonales Komponieren
  • James Tenney (1934-2006) vor allem über Just Intonation
  • Franz Richter-Herf (1920-1989) ekmelisches (feinstufiges, ek melos = außerhalb der Reihe) Komponieren, 72-stufige Skala, der Halbton wird in sechs Teile unterteilt. Siehe Weblink Internationale Gesellschaft für Ekmelische Musik.
  • Hugues Dufourt (*1943) über Denkweisen der Gruppe L'itineraire in Paris
  • Clarence Barlow (*1945) über jede erdenkliche Teilung der Oktave
  • Max Méreaux (*1946) Viertelton-Temperierungen
  • Manfred Stahnke (*1951) zu Mikrotonalität allgemein
  • Georg Friedrich Haas (*1953) zu reiner Stimmung und weiteren mikrotonalen Fragen
  • Georg Hajdu (*1960) 17ton-, 19ton-Skalen etc.
  • Bob Gilmore (*1961) Just Intonation in den USA etc.

Mikrotonale Komponisten

Siehe auch

Weblinks


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