Mittellateinische Sprache

Mittellateinische Sprache
Seite mit mittellateinischem Text aus den Carmina Cantabrigiensia (Cambridge University Library, Gg. 5. 35), 11. Jhd.

Unter dem Begriff Mittellatein werden die vielfältigen Formen der lateinische Sprache des europäischen Mittelalters (etwa 6. bis 15. Jh.) zusammengefasst, in unscharfer Abgrenzung einerseits zum vorausgehenden Latein des späten Altertums und andrerseits zum in der Renaissance aufkommenden, meist deutlich am sogenannt klassischen Latein ausgerichteten Neulatein.

Ausgehend von der Literatursprache der spätantiken Kaiserzeit, der Sprache der Jurisprudenz und der Kirchenväter, zuweilen, jedoch keineswegs durchgängig, beeinflusst von den romanischen Sprachen oder der jeweiligen Muttersprache des Autors, aber entgegen verbreiteten Vorurteilen ("Küchenlatein") immer wieder auch im Kontakt mit der antiken Literatur der klassischen Periode, insbesondere der Dichtung, entstand ein äußerst heterogenes Sprachmaterial, das die ganze Spannbreite von umgangssprachlicher, kolloquialer, pragmatischer Diktion bis zu hochrhetorischer oder dichterischer Stilisierung auf höchstem Niveau umfasst und in seinen Spitzenerzeugnissen den Vergleich mit der antiken, viel stärker durch die Selektion des Überlieferungsprozesses gefilterten Literaturproduktion genauso wenig zu scheuen braucht wie den mit der des gleichzeitigen oder späteren volksspachigen Literaturbetriebes.

Inhaltsverzeichnis

Allgemeines

Das Mittellatein, d. h. genauer die vielgestaltigen Sprachformen, die zwischen Spätantike und Humanismus (ca. 550–1500) als Schriftsprache verwendet wurden, nimmt in der Wissenschaft und auch in der Schule nicht den ihm zukommenden Platz ein, weil man seine Inhalte, sein Wesen und seinen Wert nicht genügend kennt. In der Geschichte der Philologien wurde es oftmals als minderwertiges Anhängsel der klassisch-römischen Literatur oder als bedauerliche Verdrängung der Muttersprache betrachtet.

Als sich die Schriftsteller zu Beginn des Mittelalters mit Antike und Christentum zu befassen hatten, stand ihnen in der Romania, also in dem Gebiet, in dem sich das Latein als Umgangssprache hatte festsetzen können, nur das Latein als ausgebildete Schrift- und Buchsprache zur Verfügung; die romanischen Buchliteraturen sollten sich erst im späteren Mittelalter (ca. ab 12./13. Jhr.) herausbilden. Auch die Germania vermochte mit keiner geeigneteren Schriftsprache aufzuwarten, als es das Latein war, zumal die germanischen Sprachen eine von der Mittelmeerwelt ganz abweichende Kultur und (meist mündliche) Überlieferung entwickelt hatten. Da außerdem der Geistliche, der damals zugleich der Schreibende war, täglich von Berufs wegen mündlich und schriftlich mit jenem Latein umging, war es nur nachvollziehbar, dass man diese Sprache als Schriftsprache übernahm. Dieses Mittellatein unterscheidet sich nun in zahlreichen Punkten vom klassischen Latein. Diese Abweichungen von der klassischen Norm haben verschiedene Ursachen:

  • Neben dem Latein als Schrift- und Bildungssprache haben sich in der Romania allmählich verschiedene Volkssprachen entwickelt, die alle Weiterentwicklungen des sogenannten Vulgärlateins sind. Jeder Verfasser von Texten lässt nun Elemente der eigenen Muttersprache in seine Schriftsprache einfließen. Dies gilt auch für Leute nicht-romanischer Zunge. Das Ausmaß solcher Einflüsse hängt natürlich in starkem Maße von der Ausbildung des jeweiligen Verfassers ab. Aufs Ganze gesehen halten sich die volkssprachlichen und vulgärlateinischen Einflüsse, zumal solche, die nicht durch das Bibellatein vermittelt sind, jedoch in Grenzen. Daher zerfällt das Mittellatein trotz einigen identifizierbaren nationalen Besonderheiten nicht in Dialekte oder Regionalsprachen, sondern weist eine horizontale Gliederung nach Stilniveau und Gattungen auf. Weniger ausgeprägt in Morphologie und Syntax, deutlich dagegen in der Wortbildung lassen sich innerhalb des Mittellateins epochenspezifische Entwicklungen beobachten.
  • Da das Latein – trotz aller sprachlicher Kompetenz und Differenzierungsfähigkeit vieler Schriftsteller – für alle eine erlernte Sprache ist, wird es (vor allem in der Syntax) allmählich vereinfacht. Typisch lateinische Erscheinungen werden, vor allem wenn sie in den romanischen Sprachen bereits aufgegeben worden sind oder in der jeweiligen Muttersprache nicht existieren, aufgegeben oder zumindest seltener, so z. B. der AcI, der Ablativus absolutus und die Vielfalt und Verschachtelung der Nebensätze.
  • Die neuen sozialen und politischen Strukturen (Christentum, Feudalismus) wirken auch auf die Sprache, vor allem im Bereich des Wortschatzes, wo zahlreiche Neuschöpfungen nötig werden und viele Wörter mit neuen Bedeutungen gefüllt werden.

Wichtig ist zu betonen, dass das Latein durch das ganze Mittelalter hindurch eine durchaus lebendige Sprache war, die in den gebildeten Schichten nicht nur schriftlich, sondern auch mündlich fließend beherrscht wurde, wozu auch die aktive Beherrschung der Versformen und Metrik gehörte. Alle, die über eine gewisse Bildung verfügten, waren also zweisprachig: Sie sprachen zum einen ihre jeweilige Muttersprache, zum andern Latein, das deshalb oft auch als „Vatersprache“ des Mittelalters bezeichnet wird. Wie bereits gesagt, breitete sich das Mittellatein weit über die Grenzen des Imperium Romanum aus, so bis nach Ostdeutschland, Jütland, auf die dänischen Inseln, nach Schweden, Norwegen und Island, auch in die slawischen Gebiete bis ins eigentliche Russland hinein und nach Ungarn und Finnland.

Die „Vatersprachlichkeit“ äußerte sich darin, dass man antike Wörter mit neuen Bedeutungen ausstattete, neue Ableitungen und Wörter bildete und überhaupt mit der Sprache wie mit einer Muttersprache, die sich ja auch ständig wandelt, umging, ohne allerdings je die Vorbilder der klassischen Zeit zu vergessen, denen man immer stark verpflichtet blieb. Die Abweichungen vom klassischen Latein berechtigen also in keiner Weise dazu, das Mittellatein als minderwertig, die Schriftsteller und Dichter als halbgebildete Stümper und die Literatur dieser Zeit als banal und naiv abzustempeln.

Mit dieser Sprache trachteten nun die Schriftsteller und Dichter hauptsächlich danach, eine Literatur hervorzubringen, deren Blick weniger auf die Antike als vielmehr auf die Gegenwart mit all ihren tiefgreifenden sozialen, kulturellen und politischen Umwälzungen gerichtet war. Die literarischen Gattungen, die gepflegt wurden, sind fast zahllos. Neben den traditionellen, wie Geschichtsschreibung, Biographie, Brief, Epos, Lehrgedicht, Lyrik, Satire und Fabel, kommen neue, wie die Heiligenlegende, der Translationsbericht, die Mirakelsammlung, der Visionsbericht, die Homilie, das Figurengedicht, der Hymnus und die Sequenz, Rätseldichtung sowie das geistliche Spiel und die vom antiken Drama ganz unabhängige Comedia. Vereinzelt stehen die Dramen der Hrotswith von Gandersheim als kontrastimitative Auseinandersetzung mit dem Vorbild des Terenz. Das vom Christentum aufgrund seiner Verbindung mit dem heidnischen Kult abgelehnte und an die Voraussetzung der antiken Stadtkultur gebundene Drama hat von dieser Ausnahme abgesehen zunächst keine Fortsetzung erfahren. Weit verbreitet ist die nur durch wenige antike Beispiele vertretene Parodie. Eine große Bedeutung kam natürlich der religiösen Literatur zu, die sowohl Prosa als auch poetische Werke beinhaltet und die teils ein breiteres Publikum, teils die gebildeten Eliten als Zielpublikum hatte. An ersteres richteten sich die populären Fassungen von Heiligenlegenden (z. B. die Legenda aurea von Jacobus de Voragine) Wundergeschichten und andere Exempla (z. B. die Werke von Caesarius von Heisterbach), die zum Teil schon früh in die Volkssprachen übersetzt wurden und auch auf dem Umweg über Predigten, für die sie als Materialsammlungen dienten, ihr Zielpublikum erreichten, an letztere z. B. theologische Traktate, Bibelkommentare und die meisten poetischen Werke, die ihren Ort vor allem im Schulbetrieb, zum Teil auch in der Hofgesellschaft und in der Umgebung gebildeter Bischöfe hatten. Weitgehend unabhängig vom Thema werden Prosa und Vers je nach Anlass und Zielpublikum eingesetzt. Formtypen, die Prosa und Vers in unterschiedlicher Weise kombinieren, sind Opus geminum und Prosimetrum. Für die Dichtung stehen zwei grundsätzlich verschiedene Verstechniken, die in der antiken Tradition weitergeführte metrische, d. h. durch Regulierung der Abfolge der Silbenlängen (Quantität) organisierte Technik und die aus der volkssprachigen Dichtung stammende silbenzählend-akzentrhythmische Technik nebeneinander zur Verfügung und werden nicht selten vom selben Autor wahlweise zur Anwendung gebracht. Die metrische Dichtung steht aufgrund der zu ihrer fehlerfreien Handhabung unverzichtbaren intensiven Auseinandersetzung mit klassischen Vorbildern wie Vergil und Ovid sowie den christlichen Dichtern der Spätantike auch sprachlich-stilistisch am stärksten in der Tradition der antiken Dichtersprache.

Die mittellateinische Literatur steht zeitlich vor der volkssprachigen Literatur und hat diese auch nachhaltig beeinflusst: Dichter wie z. B. Dante Alighieri oder Francesco Petrarca in Italien, die zum Teil noch in Latein dichteten, übertrugen Inhalte und Stil auch auf ihre italienisch geschriebenen Werke. Die germanischen Literaturen erscheinen im Licht des heute Überlieferten sogar noch unselbständiger und weisen bis ins 12. Jahrhundert fast ausschließlich aus dem Lateinischen mehr oder weniger genau übersetzte Texte auf. Dabei muss jedoch daran erinnert werden, dass gerade die stark von der kirchlichen Mittelmeertradition abweichende germanische Volks- und Heldendichtung nach Einführung des Christentums zuerst nicht mehr gepflegt worden war, bald verboten wurde und trotz vieler mittelbarer Hinweise auf ihren einstigen Reichtum nur in den seltensten Fällen (von Mönchen!) für die Nachwelt gerettet wurde (Waltharius). Allein in England, dessen Kultur sich in den ersten Jahrhunderten nach der Konversion recht frei von Bevormundung durch kontinentale Strömungen entfaltete (6.—9. Jh.), entstand bereits im frühen Mittelalter eine Buchliteratur in der Volkssprache, deren ältestes Zeugnis das Stabreimepos Beowulf ist (ähnliche Hinterlassenschaften aus dem Frankenreich, die zeitgenössische Geschichtsschreiber erwähnen, sind für uns verlorengegangen). Natürlich hat umgekehrt auch die Volksdichtung stark auf die mittellateinische Literatur gewirkt. Seit etwa dem 12. Jahrhundert gibt es sogar – z. B. in den Carmina Burana – zahlreiche Gedichte, die teils lateinisch, teils auf Deutsch geschrieben sind.

Das Ende bereiteten dem Mittellatein nicht etwa die Volkssprachen, sondern der Humanismus und das durch ihn hervorgerufene sogenannte Neulatein, das sich im 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts allmählich durchsetzte und durch eine wesentlich strengere, an wenigen klassischen Autoren, bes. Cicero und Vergil, orientierte Normierung die lebendige Sprachentwicklung lähmte, zu einer Verarmung und mangelnder Flexibilität führte und dadurch ungewollt trotz der sprachlichen Virtuosität seiner elitären Repräsentanten der Verwendung der lateinischen Sprache im Alltag allzu hohe Hürden entgegensetzte. So haben – Ironie des Schicksals – gerade die leidenschaftlichsten Verfechter und Liebhaber des Lateinischen, die Humanisten, durch ihren Kampf gegen das nach ihrer Ansicht barbarische Mittellatein und ihr Insistieren auf die Norm der klassischen Antike als alleingültigen Maßstab wesentlich zur Verdrängung der lateinischen Sprache beigetragen. Erst zu diesem Zeitpunkt beginnt das Latein als Sprache der Bildung und Politik zu erstarren und zu „sterben“.

Merkmale des Mittellateins und Abweichungen vom klassischen Latein

Graphie und Aussprache

  • Der bereits für die antike Umgangssprache belegte phonetische Zusammenfall der Diphthonge ae mit ĕ und oe mit ē führt früh zu orthographischen Konsequenzen. Das a wird zunächst, vor allem in der Kursive, subskribiert, später entwickelt sich die sogenannte e caudata, das e mit einem Schwänzchen als Unterlänge (ę). Seit dem 12. Jhr. werden æ und œ meist durch einfaches e wiedergegeben, z. B. precepit für præcepit, insule für insulæ, amenus für amœnus. Dazu umgekehrte („hyperkorrekte“) Schreibungen wie æcclesia statt ecclesia, fœtus statt fetus und cœlum statt cælum. Die Humanisten beleben die zeitweise verschwundene e caudata wieder.
  • Vor allem im frühmittelalterlichen Latein begegnen häufig Vertauschungen von e und i.
  • y statt i und œ findet sich nicht nur in griechischen Wörtern, sondern auch in lateinischen, z. B. yems für hiems, yra für ira; vgl. den Titel Yconomica (Œconomica) Konrads von Megenberg.
  • h wird fortgelassen oder hinzugefügt, im Anlaut, z. B. iems für hiems, ora für hora und hora für ora, und auch sonst, z. B. veit für vehit; besonders nach t, p und c, z. B. thaurus für taurus, spera für sphæra, monacus für monachus, conchilium für concilium und michi für mihi.
  • Da t und c vor halbvokalischem i zusammengefallen war, werden sie auch in der Schrift sehr oft vertauscht, z. B. tercius für tertius, Gretia für Græcia.
  • Konsonantengemination wird oft vereinfacht oder abundierend gesetzt, z. B. litera für littera, aparere für apparere und edifficare für ædificare.
  • Unbequeme Konsonantengruppen werden vereinfacht, z. B. salmus für psalmus, tentare für temptare.
  • Sehr häufig und offensichtlich aus dem Vulgärlatein übernommen sind Dissimilationen, z. B. pelegrinus für peregrinus (vgl. im Deutschen Pilger; ebenso franz. pèlerin, ital. pellegrino), radus für rarus (vgl. italienisch di rado).

Morphologie

Konjugation

  • Verwechslung von „normalen“ Verben und Deponentien, z. B. (ad)mirare statt (ad)mirari, viari statt viare (= reisen).
  • Zahlreich sind Konjugationswechsel anzutreffen, z. B. aggrediri für aggredi, complectari für complecti, prohibire für prohibêre (vgl. ital. proibire), rídere für ridêre (vgl. ital. ridere) und potebat für poterat (vgl. ital. potere).
  • Beim Futur finden sich Verwechslungen zwischen b- und e-Futur, z. B. faciebo für faciam, negam für negabo.
  • Das Passiv Perfekt wird sehr oft mit fui statt sum gebildet: interfectus fuit (Aus dieser Verwendung, die im Übrigen schon im klass. Latein vereinzelt zur Bezeichnung eines Zustandes in der Vergangenheit begegnet, hat sich das franz. passé composé bzw. das ital. passato prossimo entwickelt).
  • Zusätzliche periphrastische Verbformen: libros perditos habeo; dicens sum.

Deklination

  • Es ist eine gewisse Unsicherheit beim Umgang mit den verschiedenen Deklinationen feststellbar, so dass Wörter manchmal von einer Deklination in die andere übergehen, z. B. noctuum für noctium, ignîs für ignibus. Häufiger wird auch die pronominale Dativ-Endung durch -o ersetzt: illo für illî. Allgemein besteht die Tendenz, Wörter der u-Deklination in die o-Deklination und Wörter der e-Deklination in die a-Deklination überzuführen, z. B. senatus,-i statt senatus,-us, magistratus,-i statt magistratus,-us oder materia für materies (="Bauholz"), effigia für effigies (="Bildnis").
  • Wechsel des Genus, vor allem „Niedergang“ des Neutrums (vgl. romanische Sprachen), z. B. cornus statt cornu, maris statt mare (= das Meer), fatus statt fatum, domus tuus statt domus tua, timor magna statt timor magnus.
  • Mit wenigen Ausnahmen kann (wie in den romanischen Sprachen) jedes Adjectiv durch Voransetzung von plus oder magis gesteigert werden, z. B. plus/magis nobilis und manchmal auch zusammen mit dem synthetischen Komparativ plus/magis nobilior. Seltener ist die Verwendung eines Komparativs statt des Superlativs, z. B. Venit sibi in mente, ut maiorem principem, qui in mundo esset, quæreret.

Syntax

  • Die Demonstrativpronomina werden meist nicht mehr so scharf geschieden wie im klassischen Latein. So können hic, iste, ipse, idem wie is verwendet werden.
  • Die beiden Partizipien præfatus und prædictus (eigtl. vorhergenannt) werden als neue Demonstrativpronomina oft wie ille gebraucht.
  • Statt der nicht-reflexiven Pronomina stehen oft die reflexiven, also se = eum, suus = eius.
  • Manche Verben werden mit einem anderen Kasus verbunden, z. B. adiuvare, iubere, sequi, vetare + Dat.; frui, uti, fungi + Akk.
  • Anstelle eines Accusativi cum infinitivo wird gern ein quod- oder gar ein quia-Satz gesetzt (so aber bereits in der Vulgata).
  • Die Konjunktion dum wird oft statt temporalem cum verwendet.
  • Erzähltempus ist nicht mehr nur Perfekt und Praesens historicum, sondern auch das Imperfekt, ja sogar das Plusquamperfekt. Man gebraucht auch das Präsens anstelle des Futur I und das Perfekt statt Futur II.
  • Die finale Verwendung des Infinitivs, die im klass. Latein selten und meist nur poetisch bezeugt ist, wird häufig, z. B. Abiit manducare für Abiit, ut ederet bzw. manducatum abiit.
  • Anstelle des Partizip Präsens Aktiv steht oft ein Gerundium im Ablativ, z. B. loquendo für loquens (vgl. das ital. und span. gerundio sowie das franz. gérondif).

Vokabular

Das Latein des Mittelalters zeichnet sich durch einen erheblich umfangreicheren Wortschatz aus, der einerseits durch lateinische Neubildungen mithilfe von Präfixen und Suffixen sowie semantische Fortbildungen bereichert wird, andererseits frei aus verschiedenen anderen zeitgenössischen Volkssprachen sowie dem Griechischen Anleihen macht. Da ein großer Teil der frühen christlichen Literatur in dieser Sprache verfasst worden und auch in der lateinischen Bibelübersetzung mancher griechische Ausdruck beibehalten worden war, war griechisches Wortmaterial bereits in der Spätantike in erheblichem Umfang in die lateinische Sprache aufgenommen worden. Wenn man sich auch von den griechischen Sprachkenntnissen der meisten mittelalterlichen Gelehrten keine übertriebenen Vorstellungen machen darf, so waren sie doch in der Lage, anhand griechisch-lateinischer Glossare oder Bilinguen weitere Neubildungen vorzunehmen. Eine weitere Quelle waren die Sprachen der germanischen Völker, die in Mitteleuropa die Nachfolge der Römer antraten. Weiterhin wurden viele klassische lateinische Vokabeln, die nicht mehr im Gebrauch waren, durch Wortneubildungen auf der Basis des Vulgärlateins und der germanischen Sprachen ersetzt.

Beispiele

  • Allzu kurze Wörter werden durch längere (und oft regelmäßigere) ersetzt, z. B. ire durch vadere, ferre durch portare, flere durch plorare, equus durch caballus, os durch bucca und res durch causa;
  • Besonders oft verdrängen sogenannte Intensiva auf -tare das zugrunde liegende Verb, z. B. adiutare statt adiuvare, cantare statt canere und natare statt nare.
  • Oft bekommen aus der Antike übernommene Wörter neue Bedeutungen: breve der Brief, die Urkunde, convertere und converti ins Kloster gehen, corpus die Hostie, plebs die (christliche) Gemeinde, homo der Untergebene, comes der Graf (vgl. franz. comte, ital. conte), dux der Herzog (vgl. franz. duc), nobilis der Freie, advocatus der Vogt;
  • Es werden auch zahlreiche neue Wörter geschaffen oder entlehnt: bannus (zu dt. Bann) die Gerichtsbarkeit, legista der Jurist, camis(i)a das Hemd; vgl. den Titel De ente et essentia.

Wichtige mittellateinische Autoren

6. Jahrhundert 7. Jahrhundert 8. Jahrhundert
9. Jahrhundert 10. Jahrhundert 11. Jahrhundert
12. Jahrhundert 13. Jahrhundert 14. Jahrhundert

Siehe auch

Literatur

  • Bernhard Bischoff: Paläographie des römischen Altertums und des abendländischen Mittelalters (Grundlagen der Germanistik 24). Erich Schmidt, Berlin 1979.
  • Franz Brunhölzl: Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters. 2 Bde., Fink, München 1975-1992.
    (Behandelt die Zeit von Cassiodor bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts.)
  • Paul Klopsch: Einführung in die mittellateinische Verslehre. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1977.
  • Max Manitius: Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters. 3 Bde., München 1911-1931 (Handbuch der Altertumswissenschaft 9,2)
  • Peter Stotz: Handbuch zur lateinischen Sprache des Mittelalters. 5 Bde., C.H. Beck, München 1996-2004 (Handbuch der Altertumswissenschaft 2,5)

Wörterbücher

Weblinks


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