Demokratiekompetenz

Demokratiekompetenz

Demokratiekompetenz (auch: Demokratiefähigkeit) als Begriff der Politikdidaktik ist die erforderliche Gesamtheit von Wissen und Befähigungen zur Wahrnehmung der Bürgerrolle in der Demokratie. Diese bedarf als lebendige Selbstbestimmung des Staatsvolkes der kontinuierlichen Verwirklichung durch dessen Angehörige.

Zur Demokratiekompetenz werden gemäß neuerer sozialwissenschaftlicher Literatur konkret gezählt: Die Fähigkeit

  • zur Perspektivübernahme
  • zur politischen Responsibilität
  • des sozialwissenschaftlichen Analysierens
  • des politisch wertenden Urteilens
  • der Vermittlung konfligierender Urteile in sozialer Auseinandersetzung und schließlich
  • die Bereitschaft zur performativen Realisierung der einzelnen Kompetenzen.

Zu der Bereitschaft der performativen Realisierung gehört das Wissen und die Akzeptanz um den Wert des demokratischen Gedankens mindestens im Sinne der "schlechtesten Regierungsform mit Ausnahme von allen übrigen" (Winston Churchill) und das Wissen um die Notwendigkeit, dass der kontinuierliche Einsatz eines größeren, in der Zusammensetzung repräsentativen Teils der Bürger in guten wie in schlechten Zeiten per definitionem nicht nur für die lebendige Demokratie, sondern auf längere Sicht für die Demokratie an sich Existenz begründend ist, ebenso wie die freiheitlich, demokratische und rechtsstaatliche Verfassung des demokratischen Staates selbst.

Dabei ist die Teilnahme an Wahlen und Abstimmungen um Themen und um die Besetzung verantwortlicher Funktionen im Gemeinwesen nur ein Aspekt, der jedoch bereits, um wirklich demokratisch zu wirken, wichtige Kompetenzen voraussetzt, wie Offenheit (gegenüber alternativen, möglicherweise neuen politischen Lagern und Konzepten) bei gleichzeitiger Widerspenstigkeit durch Nicht- oder Abwahl z.B. gegenüber nur Gemeinwohl freundlich maskierten Spezialinteressen oder freiheitsfeindlichen Bestrebungen. Die Grundlage für eine möglichst unabhängige, fundierte persönliche Urteilsbildung ist selbstverständlich besonders auch in einer hinreichenden, möglichst breiten Allgemeinbildung oder zumindest Lebenserfahrung zu sehen.

Beispielsweise ist es darüber hinaus entscheidend für eine freiheitliche Demokratie, dass von vernachlässigten Interessen Betroffene oder sonstwie benachteiligte Menschen ihre Not und ihre Forderungen im pluralistischen Konzert der freien Meinungsbildung ausreichend und effektiv zur Geltung bringen (Responsibilität). Dieses scheint z.B. in Deutschland heute vor allem bei Umweltthemen und im Extremfall von Firmenschließungen zu gelingen. Effektivität kann dabei aus nachvollziehbaren Gründen sozialer Effizienz nur gemeinschaftlich organisiert erzielt werden, was gewisse Sozialisierungstechniken und das dazugehörige Wissen, aber auch die Tugend voraussetzt, mitfühlende Solidarität mit Anderen empfinden zu können (Perspektivübernahme).

Neben zusätzlichen, entsprechenden kommunikativen Grundfertigkeiten und allgemeineren Sozialkompetenzen sind ähnliche Tugenden auch die Voraussetzung für die Vermittlung konfligierender Urteile in sozialer Auseinandersetzung.

Allgemein wird auch in der Politikdidaktik bemängelt, dass es derzeit noch nicht genügend theoretisch fundierte Werke zu Konzept und Förderung der Demokratiekompetenz gibt, so dass es bis vor Kurzem nicht möglich schien, z.B. in der PISA-Studie diese für unser Gesellschaftssystem so entscheidende Fähigkeit ähnlich ländervergleichend zu untersuchen, wie Lesekompetenz, mathematische oder naturwissenschaftliche Kompetenz. Die oben beschriebene Charakterisierung der Demokratiekompetenz wird deshalb derzeit auch in der Wissenschaft als offen z.B. für Erweiterungen angesehen. Dabei ist u.a. etwa die Fragestellung interessant, inwieweit das beschriebene Kompetenz-Set auf einer gewissen Abstraktionsebene auch für das erfüllende persönliche Gestalten gilt der durch die freiheitliche Demokratie und die ihr eigenen Grundprinzipien von Subsidiarität und Pluralismus gegebenen individuellen Lebensfreiräume.

Literaturhinweise

  • Michael May: Demokratiefähigkeit und Bürgerkompetenzen. Kompetenztheoretische und normative Grundlagen der politischen Bildung. VS Verlag (Wiesbaden), 2007, ISBN 978-3-531-15271-4
  • Michael Marker: Demokratiekompetenz durch lernendes Handeln – Das Projekt „Schule als Staat“. In: Lehren und Lernen. Zeitschrift für Schule und Innovation in Baden-Württemberg. 7/2009, Neckar-Verlag, Villingen-Schwenningen, S. 14–19.

Weblink


Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Поможем решить контрольную работу

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Demokratische Erziehung — oder Demokratieerziehung oder Demokratiepädagogik bezeichnet Formen der Erziehung mit dem Anspruch, den Erziehungsprozess demokratisch zu gestalten, oder mit dem Ziel, die Demokratie als anerkannte staatliche Regierungsweise oder umfassender ein… …   Deutsch Wikipedia

  • Schule als Staat — (SaS oder SalS, fälschlicherweise auch SAS) ist ein beliebtes Schulprojekt, bei dem die veranstaltende Schule für einen bestimmten Zeitraum in einen von Schülern und Lehrern bewohnten „Staat“ verwandelt wird. Inhaltsverzeichnis 1 Vorbereitung 2… …   Deutsch Wikipedia

  • Dirk Lange — (* 1964) ist ein deutscher Politikwissenschaftler und Hochschullehrer. Inhaltsverzeichnis 1 Leben …   Deutsch Wikipedia

  • Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen — Die Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein Westfalen ist eine staatliche, parteiunabhängige Einrichtung der politischen Bildung. Sie wurde 1946 als „Staatsbürgerliche Bildungsstelle“ gegründet und am 1. Oktober 1967 in „Landeszentrale… …   Deutsch Wikipedia

  • Politikdidaktik — Die Politikdidaktik ist eine sozialwissenschaftliche Disziplin, die als Fachdidaktik die Lehr und Lernprozesse für schulische und außerschulische politische Bildung zum Gegenstand hat. Sie ist keine Unterdisziplin der Pädagogik, sondern eine… …   Deutsch Wikipedia

  • Republikanismus — Der Republikanismus (lateinisch französisch neulateinisch: aus res publica („öffentliche Sache“ oder „Gemeinwesen“) ist eine aus der Staatstheorie hervorgegangene Richtung der politischen Philosophie, für welche der demokratische Willen nicht –… …   Deutsch Wikipedia

  • Stufentheorie des moralischen Verhaltens — Die Kognitive Entwicklungstheorie des moralischen Urteils von Lawrence Kohlberg basiert unter anderem auf John Rawls moralphilosophischer Gerechtigkeitstheorie und stellt eine Weiterentwicklung von Jean Piagets Theorie der Moralentwicklung dar.… …   Deutsch Wikipedia

  • Stufentheorie moralischen Verhaltens — Die Kognitive Entwicklungstheorie des moralischen Urteils von Lawrence Kohlberg basiert unter anderem auf John Rawls moralphilosophischer Gerechtigkeitstheorie und stellt eine Weiterentwicklung von Jean Piagets Theorie der Moralentwicklung dar.… …   Deutsch Wikipedia

  • Georg Lind (Psychologe) — Georg Lind (* 1947 in Gleisweiler) ist ein deutscher Psychologe und Professor an der Universität Konstanz. Bekannt sind seine Beiträge zur Moralentwicklung im Anschluss an Lawrence Kohlberg und die Dilemma Methode KMDD ( Konstanzer Methode der… …   Deutsch Wikipedia

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”