Israelitische Religionsgesellschaft (Karlsruhe)

Israelitische Religionsgesellschaft (Karlsruhe)

Die Israelitische Religionsgesellschaft Karlsruhe (auch Adass Jeschurun, עדת ישורון) war die einzige neo-orthodoxe jüdische Austrittsgemeinde in Baden. Ihre strenggläubigen Initiatoren wandten sich vehement gegen die von Reformströmungen praktizierten Neuerungen wie Orgelmusik und gemischten Chorgesang in der Synagoge sowie gegen Änderungen im Gebetbuch.

Synagoge der Israelitischen Religionsgesellschaft in Karlsruhe, um 1900
Inneres der Synagoge der Israelitischen Religionsgesellschaft in Karlsruhe, um 1900

Inhaltsverzeichnis

Geschichte

Ein großes Vorbild für die toratreuen Karlsruher war Nathanael Weil, genannt Korban Nesanel, ab 1750 dortiger Oberlandrabbiner; sein Talmud-Kommentar ist bis heute Gemeingut. Ein Wegbereiter der „modernen“ Orthodoxie war der gebürtige Karlsruher Jakob Ettlinger, der ab 1823 dort kurze Zeit ein Lehrhaus leitete, aber in Baden noch keinen Rückhalt für seine radikale Haltung fand und Rabbiner in Altona wurde. Seine Schüler wie Samson Raphael Hirsch entwickelten später das Konzept „Tora im derech eretz“ (hebr. תורה עם דרך ארץ, dt. etwa: „Tora zusammen mit weltlicher Bildung“), dem auch die orthodoxe Fraktion in Karlsruhe bald folgte.

Nach jahrelangen Debatten um Reformen in Liturgie und Siddur kam es zwischen reformerisch Gesinnten und Strenggläubigen zum Bruch über die Frage des Einbaus einer Orgel, als die Synagoge in der Kronenstraße vergrößert und neu gestaltet werden sollte. Eine Gruppe von Mitgliedern um Baruch Hayum Wormser (1809-1872) und den Familien Altmann, Ettlinger, Kaufmann, Straus, Weil u.a. protestierte gegen die (wohl vom Protestantismus angeregten) Neuerungen. Als die Gemeinde-Mehrheit nicht auf ihre Sorgen einging, erklärte diese orthodoxe Fraktion 1869 ihren Austritt aus der Israelitischen Kultusgemeinde. Ein Gutachten des Frankfurter Rabbiners Samson Raphael Hirsch bestärkte sie in ihrer gesetzestreuen Haltung, es kam zur Zivilklage. Zunächst schien es, dass die „Austrittler“ die Kultussteuern weiter zahlen müssten, um nicht ihre Rechte bezüglich sozialer Unterstützung und Friedhof zu verlieren. Der Verwaltungsgerichtshof hob jedoch ein entsprechendes erstinstanzliches Urteil auf und betonte „ungestörte Gewissensfreiheit“: Kein Badener könne zur Mitgliedschaft in einer religiösen Gemeinschaft rechtlich gezwungen werden.

Die Gruppe um Baruch Wormser trat nun auch aus der Landessynagoge aus und gründete 1870[1] nach den Ideen von S. R. Hirsch die Israelitische Religionsgesellschaft (Adass Jeschurun), behelfsmäßig in Form eines als Aktiengesellschaft verfassten religiösen Vereins[2]. Mit diesem weit reichenden Schritt war Karlsruhe im deutschsprachigen Raum in einer Pionierrolle[3]. Während es in den Wohltätigkeitsvereinen und an der Basis sicherlich bei mancher Zusammenarbeit mit der (zumeist liberalen) Mehrheitsfraktion blieb, wurde in der Ausübung der jüdischen Religionsgesetze und der Halacha, wirtschaftlich und institutionell eine klare Trennung vollzogen.

Zeitungsannonce im Israelit, 1925

Josef Altmann (1818−1874), einer der Austrittswilligen der ersten Stunde und seit 1849 Stiftsrabbiner in Karlsruhe, war als Mitglied des Oberrats der Israeliten Badens um Ausgleich bemüht, sah sich aber für seine Kompromissposition auch heftiger Kritik ausgesetzt. So griff ihn S. R. Hirsch in einem „Sendschreiben“[4] scharf an, weil er trotz seiner aus orthodoxer Sicht hohen theologischen Kompetenz im Oberrat die Reformen gebilligt hatte.

Zunächst nutzten die ausgetretenen Familien für Minjan private Betsäle und Lehrhäuser. 1881 wurde ein eigener Synagogenbau errichtet, entworfen von Gustav Ziegler. Im aus der Weinbrenner-Zeit stammenden Vorderhaus Karl-Friedrich-Straße 16 waren Rabbiner-Wohnung, Religionsschule, Kindergarten und zeitweilig auch eine „Hebräische Buchhandlung“[5] untergebracht, deren Inhaber Isaak Rabinowitz zugleich Religionslehrer der Kehilla war. Im Hof entstand in schlichten Formen ein Bau mit Mikwe und Einrichtungen für die Schechita. Das Haus bot schätzungsweise 200 Menschen Platz. Die Ausrichtung nach Osten brachte es mit sich, dass hinter dem Mittelrisalit der Toraschrein stand:

„Links war ein Treppenaufgang zur Galerie für Frauen, rechts der Eingang für Männer. Im Innern, neben dem Vorbeterpult, zu beiden Seiten, führten einige Treppen [6] zum Aron HaKodesch, der in der Wand eingebaut war. In der Mitte war die Bimah (Estrade) mit dem Pult für die Vorlesung der Wochen-Sidra. [...] Im Vorderhaus wohnte unser Kantor und Religionslehrer Herr Rabinowitsch s.A. Ein Teil seiner Wohnung diente dem jüdischen Kindergarten. Im 3. Stock wohnte der Rabbiner Dr. Michalski s.A.“[7]

Zur Austrittsgemeinde gehörten u.a. der Israelitische Kindergartenverein (Dr. Sinai Schiffer-Stiftung), die Beerdigungsbruderschaft Chevra Kadischa (Gmilut Chassadim), der 1876 gegründete Jugend-Lernverein Chinuch Neorim und der Wohltätigkeitsverein Dower Tow[8]. Ab 1872 nutzte die Israelitische Religionsgesellschaft einen eigenen Neuen Friedhof am Rintheimer Feld.

Die meisten Mitglieder der Austrittsgemeinde gehörten zum gehobenen, deutschen Bürgertum. Die im 1. Viertel des 20. Jahrhunderts aus Russland, Polen und Österreich-Ungarn zugewanderten „ostjüdischen“ Familien gehörten meist eher zur Alt-Orthodoxie und fanden nur vereinzelt zu den „Israeliten“, wie die Mitglieder der Austrittsgemeinde umgangssprachlich hießen. Einer der prägendsten und bekanntesten Menschen in der Karlsruher Austrittsorthodoxie war Maier ha-Cohen Altmann (1852-1932), Sohn des Oberrats Joseph Altmann und Weinhändler am Zirkel. 48 Jahre lang war er im Gemeindevorstand, davon die letzten Jahrzehnte als Parnas. Postum erhielt er den Titel des Morenu.[9] Weitere Mitglieder des Vorstands in den 1930er Jahren waren Jakob und Josef Altmann (Söhne des zuvor Genannten), Markus Stern (zugleich verantwortlich für die Ortsgruppe des Erziehungsfonds Keren HaTora) und Leopold Schwarz.

Ab Herbst 1936 bestand in der Karlsruher Lidellschule in der Markgrafenstraße 28 eine „Jüdische Schulabteilung“ mit acht Klassen für die über 200 aufgrund der Rassengesetze aus den regulären Schulen ausgeschlossenen Kinder. Die verantwortliche Schulkommission war paritätisch mit Delegierten der liberalen Gemeinde und der orthodoxen Religionsgesellschaft besetzt. Die Orthodoxie war dort mit Rabbiner Michalski, Jakob Altmann und dem Arzt Dr. Wilhelm Weil vertreten; im Kollegium waren dies u. a. Max Ottensoser und Jakob Lupolianski (Vater von Uri Lupolianski).[10]

Bei den Novemberpogromen wurde die Synagoge am 10. November 1938 früh am Morgen von organisierten Trupps (u.a. Angehörigen der SA) in Brand gesetzt. Die Feuerwehr stellte fest, dass große Mengen Benzin in das Gebäude geschüttet worden waren[11]. Raw Michalski versuchte noch, Torarollen und andere heilige Gegenstände zu retten, wurde aber in „Schutzhaft“ genommen und in den Tagen darauf zusammen mit vielen anderen jüdischen Männern in das KZ Dachau verschleppt. Die ausgebrannte Ruine musste auf Anordnung der Behörden auf Kosten der Gemeinde abgerissen werden.

Eine Gedenktafel am heutigen G.-Braun-Medienhaus auf dem Gelände der ehemaligen Synagoge erinnert an ihre Geschichte.

Innenansicht der Brandruine der Synagoge, nach dem Novemberpogrom 1938

Rabbiner und Kantoren (unvollständig)

  • Gumbel Thalmann und Nathanael Weil jr. (kommissarische Stiftsrabbiner, bis etwa 1874)
  • Dr. Heinrich (Herz) Ehrmann (um 1850−1918), Rabbiner von 1874 bis 1876
  • Dr. Gabor (Gedalja) Goitein (1848−1883), Rabbiner von 1877 bis 1883
  • Dr. Sinai Schiffer (1852−1923), Rabbiner von 1884 bis 1923
  • Israel Baruch Kwiatkowsky, genannt Israel Baruch (1863−1932), Kantor und Schochet
  • Isaak (Itzhak) Rabinowitz (1882−1968), von 1923 bis Ende 1938 Religionslehrer und Kantor
  • Dr. Abraham Julius Michalski (1889−1961), Rabbiner von 1923 bis Ende 1938.

Literatur

  • Der Israelit, 12. Januar 1870, S. 26−27; 17. Juli 1872, S. 629 ff.; 1. Dezember 1932, S. 11 Online-Version
  • Adolf Lewin: Geschichte der badischen Juden seit der Regierung Karl Friedrichs : 1738–1909. Karlsruhe : Braun, 1909, S. 388–393
  • Berthold Rosenthal: Heimatgeschichte der badischen Juden seit ihrem geschichtlichen Auftreten bis zur Gegenwart. Bühl : Konkordia Verlag, 1927, S. 373–376
  • Rahel Straus: Wir lebten in Deutschland. Erinnerungen einer deutschen Jüdin 1880–1933. Stuttgart : DVA, 1961 (2. und 3. Aufl. 1962), S. 12 ff.

Einzelnachweis

  1. B. Rosenthal: Heimatgeschichte der badischen Juden. Bühl : Konkordia, 1927, S. 373 sowie Der Israelit, 12. Januar 1870, S. 26
  2. Lewin (1909), S. 393
  3. Lt. Breuer (1986:291) war Karlsruhe die „erste völlig separate Austrittsgemeinde“.
  4. Rosenthal, Heimatgeschichte S. 374
  5. Der Israelit, 17. Januar 1924 u.ö.
  6. Gemeint sind hier: Stufen
  7. Leon Meyer: „Die Austrittsgemeinde und andere Minjanim“. In: Juden in Karlsruhe. Beiträge zu ihrer Geschichte bis zur nationalsozialistischen Machtergreifung. Karlsruhe: 2. Aufl. 1990, S. 596.
  8. Stadtarchiv Karlsruhe, Bestand 1/AEST 36; Der Israelit, 6. Januar 1927, S. 8
  9. Der Israelit, 10. März 1932, S. 7
  10. Joseph Walk: Die „Jüdische Schulabteilung“ in Karlsruhe 1936-1940. In: Heinz Schmitt (Hrsg.), Juden in Karlsruhe. Beiträge [...]. 2. Aufl. 1988, S. 311-320 und Centrum Judaicum Berlin, CJA 75 A Ka 3, 14, #4027 passim
  11. Josef Werner: Hakenkreuz und Judenstern. Karlsruhe: Badenia, 1988, S. 185

Weblinks


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