Israelitische Gartenbauschule Ahlem

Israelitische Gartenbauschule Ahlem

Die Israelitische Gartenbauschule Ahlem war eine 1893 als „Israelitische Erziehungsanstalt zu Ahlem bei Hannover“ gegründete jüdische Schule in Ahlem bei Hannover. Sie diente der jüdischen Bevölkerung als überregionale, internatsmäßige Bildungseinrichtung für Gartenbau und Handwerksberufe. Gründer war der hannoversche Bankier Alexander Moritz Simon. 1919 wurde die Einrichtung in „Israelitische Gartenbauschule Ahlem“ umbenannt. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden Gebäude auf dem Gelände als Judenhaus und Dienststelle sowie Gefängnis der Gestapo genutzt. Heute gehört das Gelände der Landwirtschaftskammer Niedersachsen und ist Sitz der Justus-von-Liebig-Berufsschule. Außerdem ist es zentrale Mahn- und Gedenkstätte der Region Hannover für die nationalsozialistische Judenverfolgung.

Das Gelände der Israelitischen Erziehungsanstalt um 1900

Inhaltsverzeichnis

Vorgeschichte

Ehemaliges Direktorenhaus an der Straßenfront, rechts das Eingangstor mit Mahnmal

Zum Ende des 19. Jahrhunderts wanderten Tausende von Juden aus Osteuropa ins Deutsche Reich ein. Sie lebten in den Städten meist in Armenvierteln oder in ärmlichen Verhältnissen. In Hannover stieg die Personenzahl binnen eines Jahrhunderts von 500 um das Zehnfache auf etwa 5000 Menschen jüdischen Glaubens zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Der wohlhabende jüdische Bankier Alexander Moritz Simon bemühte sich seit den 1880ern um eine Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Lage seiner Glaubensgenossen in Hannover – nach seinem Motto: „Nicht durch Almosen, sondern durch Erziehung zur Arbeit kann unseren armen Glaubensgenossen geholfen werden.“[1] In einer von ihm gestifteten Schule in Hannover in der Ohestraße begann er mit praktischem Unterricht. Der von ihm 1884 gegründete Verein zur Förderung des Gartenbau- und Handfertigungsunterrichts in Jüdischen Volksschulen erreichte seine Ziele jedoch nicht.

Israelitische Erziehungsanstalt (1893–1919)

Das um 1900 erbaute Mädchenhaus

Im Herbst 1884 erwarb Alexander Moritz Simon bei Hannover im damals noch selbständigen Dorf Ahlem in der Heisterbergallee 8 ein 18 ha großes Grundstück und begann mit dem Aufbau einer Gartenbauschule. Neun Jahre später, am 2. Juni 1893, wurde sie unter dem Namen Israelitische-Erziehungs-Anstalt zu Ahlem bei Hannover eröffnet. Die Schule war für 150 Schüler ausgelegt. Zur Verbesserung ihrer sozialen Lage konnten hier jüdische Schüler praktisch-gewerbliche Berufe erlernen, die ihnen traditionell verwehrt waren. Während der Ausbildung waren die Schüler auf dem Gelände internatsmäßig untergebracht.

Es entstand eine Reihe von Gebäuden auf dem Gelände, wie das Direktorenhaus, das Schusterhaus, das Mädchenhaus, ein Gebäude "Laubhütte" und weitere Wirtschaftsgebäude sowie Gewächshäuser. Auf dem Gelände wurden Felder und Beete sowie eine Baumschule und Obstplantagen angelegt. Die Gärtnerei der Schule umfasste die Bereiche Gemüse (für Märkte in Hannover), Plantage (mit Obstbäumen) und Landwirtschaft (Hackfrüchte, Getreide). Vermittelt wurden anfangs die Bereiche Gartenbau, Landwirtschaft und Handwerk (Schuster, Bäcker, Schneider, Tischler, Klempner, Elektriker) für männliche Jugendliche. Später kam der Hauswirtschaftsbereich für Mädchen hinzu. Die dreijährige Ausbildung zum Gehilfen endete für die Schüler mit einer Prüfung vor der Landwirtschaftskammer.

Unter den Ausbildern wurden einige später sehr bekannt: Julius Höxter arbeitete von 1893 bis 1896 als Lehrer und Erzieher in der Anstalt; Heinrich Zeininger war von 1898 bis 1902 Garteninspektor der Plantage.

Israelitische Gartenbauschule (1919–1942)

1919 wurde die Schule in „Israelitische Gartenbauschule Ahlem“ umbenannt. An der Leitung beteiligte sich Manfred Berliner. Ein bekannter Schüler und späterer Lehrer (1927–28) war Martin Gerson, ein deutscher Vorkämpfer für die Hachschara. Unmittelbar nach der Machtergreifung 1933 durch die Nationalsozialisten stieg die Zahl der Aufnahmegesuche enorm an. Für die knapp 100 Ausbildungsplätze jährlich gab es 1935 über 500 Anmeldungen. Seit 1933 war die Ausbildung hauptsächlich auf die Auswanderung nach Palästina ausgerichtet. Die abgelegene Schule war in der Zeit des Nationalsozialismus ein verhältnismäßig sicherer Rückzugsort für jüdische Jugendliche. Seitens der Nationalsozialisten wurde die Israelitische Gartenbauschule bis zu ihrem Verbot 1942 aus zwei Gründen geduldet: Sie lag weit ab der Besiedlung und sie bereitete die Schüler auf ihre Auswanderung aus Deutschland vor. Viele Schulabsolventen wanderten nach Palästina (dem späteren Staat Israel) aus. Dort gründeten sie Gärtnereien und leisteten Entwicklungsarbeit. Dabei bildeten viele ehemalige Schüler die ansässige Bevölkerung in der Landwirtschaft sowie im Garten- und Landschaftsbau aus. Auch waren Schüler aus Hannover an der Planung und Gründung von neuen Siedlungen beteiligt.

Die Schule hatte eine überregionale und internationale Bedeutung, da die Schüler aus ganz Deutschland, Osteuropa, in Einzelfällen auch aus Palästina kamen. Insgesamt haben in den fast 50 Jahren, in denen die Schule bestand, etwa 2000 Jungen und Mädchen eine Ausbildung erhalten.

Judenhaus und zentrale Sammelstelle (1941–1945)

Schulgebäude von 1897, später Judenhaus

Beim Novemberpogrom 1938 wurde in Hannover die Synagoge in Brand gesteckt und es kam zu Zerstörungen an rund 120 Geschäften sowie Wohnungen jüdischer Bürger. Die außerhalb der Stadt und isoliert von der Bebauung des Dorfes Ahlem liegende Gartenbauschule überstand die Übergriffe unbeschadet. Der Schulbetrieb lief weiter und wurde erst 1942 eingestellt, als im gesamten Deutschen Reich jüdische Schulen geschlossen wurden. Am 3. und 4. September 1941 kam es durch die „Aktion Lauterbacher zu einer Ghettoisierung der jüdischen Familien in Hannover. Sie wurden in 15 Judenhäuser eingewiesen, eines davon befand sich auf dem Gelände der Gartenbauschule. Von Dezember 1941 bis Januar 1944 verließen acht Transporte mit insgesamt rund 2200 jüdischen Kindern, Frauen und Männern Hannover in Richtung der östlichen Konzentrations- und Vernichtungslager. Das Schulgelände in Ahlem fungierte dabei als zentrale Sammelstelle von Juden in den Regierungsbezirken Hannover und Hildesheim. Der erste Transport brachte 1001 Menschen nach Riga. Vor dem Transport waren sie über Tage in Gewächshäusern zusammengepfercht. Der Abtransport erfolgte über den Bahnhof Linden-Fischerhof. Insgesamt wurden 2174 Juden, darunter 277 Ahlemer, in die Ghettos Riga, Warschau, Theresienstadt und das KZ Auschwitz deportiert. In dem Judenhaus auf dem Gelände der Gartenbauschule überlebten die letzten 27 jüdischen Bürger Hannovers den Krieg bis zum Einmarsch amerikanischer Truppen am 10. April 1945. Es handelte sich um in Mischehe lebende Personen.

Gestapo-Dienststelle und -gefängnis (1943–1945)

Grundmauern der Laubhütte, von der Gestapo zur Hinrichtungsstätte umfunktioniert

1943 wurden im Direktorenhaus und im benachbarten Internatsgebäude eine Dienststelle sowie ein Gefängnis der Gestapo eingerichtet. Grund war die Ausbombung der Gestapodienststelle durch die Luftangriffe auf Hannover. Im Gefängnis waren zeitweise bis zu 1.200 Personen inhaftiert. Überwiegend handelte es sich um ausländische Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene, die wegen Verfehlungen eingeliefert wurden. In der Endphase des Zweiten Weltkriegs richtete die Gestapo Inhaftierte in der "Laubhütte" der Gartenbauschule durch Erhängen hin. Nachgewiesen sind Hinrichtungen an 86 Zwangsarbeitern aus Italien, Polen und der Sowjetunion. Den Erinnerungen des Gefängnisleiters nach, eines später verurteilten SS-Angehörigen, sollen es insgesamt um 400 Personen gewesen sein.

Nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 wurden in Hannover etwa 90 Personen in Schutzhaft genommen und im Gestapo-Gefängnis in Ahlem inhaftiert. Es handelte sich überwiegend um Politiker der SPD und der KPD, darunter Kurt Schumacher, Karl Wiechert und Richard Borowski.

Kurz vor der Einnahme Hannovers am 10. April 1945 verbrannten Angehörige der Gestapo-Dienststelle belastendes Material, unter anderem zu den Hinrichtungen, in der Laubhütte der Gartenbauschule. Davon zeugen noch heute Brandnarben an einem benachbarten Baum. Am 6. April kam es durch Angehörige der Gestapo-Dienststelle zu einem Verbrechen der Endphase. Sie trieben Gefangene der Gartenbauschule, vorwiegend sowjetische Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter, auf den Seelhorster Friedhof in Hannover, wo sie 154 Menschen töteten.

Mahn- und Gedenkstätte Ahlem (seit 1987)

Mahnmal mit Inschrift und Kränzen am alten Eingangstor neben dem ehemaligen Direktorenhaus

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Grundstück der Gartenbauschule vom Land Niedersachsen verwaltet, da die Eigentumsrechte gesperrt waren. 1952 wurde das Grundstück an die Jewish Trust Corporation übergeben, die es 1955 an die Landwirtschaftskammer Niedersachsen veräußerte. Seit 1987 besteht die Mahn- und Gedenkstätte Ahlem auf dem Gelände. Sie dokumentiert im Wesentlichen die Geschichte dieses Ortes sowie die der Einwohner jüdischen Glaubens der Stadt Hannover und des ehemaligen Landkreises.[2][3] Ein Raum der Mahn- und Gedenkstätte Ahlem ist nach Martin Gerson benannt.[4]

Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es auf dem Gelände mehrere bauliche Veränderungen. Das Schusterhaus am Eingang sowie ein Nebengebäude des Direktorenhauses wurden abgerissen. Das Eingangstor wurde von der Straßenfront neben das Direktorenhaus zurückversetzt.

Justus-von-Liebig-Schule

Die nach Justus von Liebig benannte Schule wurde etwa in den 1980er Jahren auf einem Teil des Geländes der Gartenbauschule erbaut. Es handelt sich um eine Berufsbildende Schule, die am Standort Ahlem Ausbildungen im Bereich Floristik, Gartenbau, Landwirtschaft und Tierpflege anbietet.

Siehe auch

Literatur

  • Hans-Dieter Schmid, Marlis Buchholz, et al. (Hrsg.): Ahlem: die Geschichte einer jüdischen Gartenbauschule und ihres Einflusses auf Gartenbau und Landschaftsarchitektur in Deutschland und Israel. Edition Temmen, Bremen 2008, ISBN 978-3-86108-039-8.
  • Marc Buggeln: Hannover-Ahlem („Döbel“, „A12“). In: Wolfgang Benz, Barbara Distel (Hrsg.): Der Ort des Terrors. Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Bd. 5, Hinzert, Auschwitz, Neuengamme. C.H. Beck-Verlag, München 2007, S. 427ff., ISBN 3-406-52965-8.
  • Friedel Homeyer: 100 Jahre Israelitische Erziehungsanstalt – Israelitische Gartenbauschule 1893–1993, Mahn- und Gedenkstätte des Landkreises Hannover in Ahlem. Hannover, 1993.
  • Schriftenreihe der Mahn- und Gedenkstätte Ahlem:
    • Band 2: Matthias Horndasch: Du kannst verdrängen, aber nicht vergessen. Die Erinnerungen des Zeitzeugen und Holocaust- Überlebenden Gerd Landsberg. Region Hannover, Hannover 2005, ISBN 3-00-015808-1.
    • Band 3: Matthias Horndasch: Ich habe jede Nacht die Bilder vor Augen. Das Zeitzeugnis des Nachum Rotenberg. Region Hannover, Hannover 2006, ISBN 3-00-017910-0.
    • Band 5: Matthias Horndasch: Spuren meines Vaters. Das Zeitzeugnis der Ruth Gröne (geb. Kleeberg). Region Hannover, Hannover 2006, ISBN 3-00-020565-9.
  • Landeshauptstadt Hannover, Der Oberstadtdirektor, Kulturamt (Hrsg.), Herbert Obenaus (Verf.): „Sei stille, sonst kommst Du nach Ahlem!“: zur Funktion der Gestapostelle in der ehemaligen Israelitischen Gartenbauschule von Ahlem (1943–1945). Schriftenreihe: Kulturinformation, Hannover, Bd. 16; = Veränderter und um einen Nachtrag ergänzter Sonderdruck aus: Hannoversche Geschichtsblätter, N.F., Bd. 41, 1987, S. 301–327. Kulturamt der Landeshauptstadt Hannover, Hannover 1988.
  • Ernst Gottfried Lowenthal: The Ahlem Experiment: a brief survey of the „Jüdische Gartenbauschule“. In: Leo Baeck Institut (Hrsg.): Year Book, Bd. 14, London 1969, S. 165–181. In Deutschland erschienen als Nachdruck: Landkreis Hannover (Hrsg.): Das Experiment Ahlem: ein kurzer Überblick über die jüdische Gartenbauschule. Hannover 1969.
  • H. Hickmann: 100 Jahre Lehr- und Versuchsanstalt für Gartenbau der Landwirtschaftskammer Hannover, Justus-von-Liebig-Schule Ahlem, ehemalige Israelitische Gartenbauschule 1893–1993. Landkreis Hannover [u.a.], Hannover 1993.
  • Hans-Dieter Schmid: Auf der Suche nach der Bibliothek der Israelitischen Gartenbauschule Ahlem. In: Regine Dehnel (Hrsg. im Auftrag der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Bibliothek – Niedersächsische Landesbibliothek): NS-Raubgut in Bibliotheken. Suche, Ergebnisse, Perspektiven. Drittes Hannoversches Symposium. Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie Sonderband 94, S. 85–95, 2008.
  • Hans-Dieter Schmid: Theodor Lessing und die israelitische Gartenbauschule Ahlem: eine Legende. In: Hannoversche Geschichtsblätter, Sonderh. Bd. 52, S. 289–295, Hannover 1998.
  • Schicksalsweg einer großen Idee: vor 100 Jahren wurde die einzige israelitische Gartenbauschule eröffnet, vor wenig mehr als 50 Jahren begann ihr schreckliches Ende, nun ist wieder viel blühendes junges Leben in Ahlem. In: Niedersächsischer Heimatbund (Hrsg.) Niedersachsen: Zeitschrift für Kultur, Geschichte, Heimat und Natur seit 1895. Spezialausgabe Bd. 94, S. 17–20. Oeljeschläger, Berlin 1994.
  • Joachim Wolschke-Bulmahn, Marlis Buchholz: Die Israelitische Gartenbauschule Ahlem bei Hannover. Eine besondere Facette in der Geschichte der Gartenkultur. In: Stadt und Grün, Jg. 49, H. 4, S. 269–275. Patzer Verlag, Berlin/Hannover 2000.
  • Ruth Enis: The Impact of the „Israelitische Gartenbauschule Ahlem“ on Landscape Architecture in Israel. In: Die Gartenkunst, H. 10, S. 311–330, Wernersche Verlagsgesellschaft, Worms 1998.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Dirk Böttcher: Hannoversches biographisches Lexikon
  2. Hannover.de: Mahn- und Gedenkstätte Ahlem
  3. Hannover.de: Ein Rundgang durch Ahlem
  4. Ein Rundgang durch Ahlem
52.3776139.672786

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