Venus vom Hohlefels

Venus vom Hohlefels
Venus vom Hohlefels

Die Venus vom Hohlefels (auch Venus vom Hohle Fels, siehe Namensgeschichte) ist eine etwa sechs Zentimeter hohe, aus Mammut-Elfenbein geschnitzte Venusfigurine, die im September 2008 bei Ausgrabungen in der Karsthöhle Hohler Fels (historisch auch Hohlefels) am Südfuß der Schwäbischen Alb bei Schelklingen entdeckt wurde.

Die Schichtenfolge (Schicht Va und Vb) des Aurignacien, in der Fragmente der Venusfigurine gefunden wurden, kann naturwissenschaftlich auf mindestens 31.000, höchstens 35.000 14C-Jahre datiert werden, was einem kalibrierten Kalenderalter von 35.000–40.000 Jahren entspricht.[1][2] Somit ist die Venus vom Hohlefels die weltweit älteste gesicherte Darstellung eines Menschen. Zwei noch ältere Fundstücke aus Israel bzw. Marokko, die von einigen Archäologen ebenfalls als Venusfigurinen gedeutet wurden (Venus von Berekhat Ram und Venus von Tan-Tan), werden mehrheitlich als Naturspiele gewertet.[3]

Inhaltsverzeichnis

Fundgeschichte

Ausgrabung im Hohlen Fels

Die archäologischen Ausgrabungen im Hohlen Fels werden seit 1977 jährlich von Archäologen der Universität Tübingen im Auftrag des Landesamtes für Denkmalpflege Baden-Württemberg durchgeführt, seit 1997 unter Leitung von Nicholas Conard. Im September 2008 wurden von Mitarbeitern insgesamt sechs bearbeitete Elfenbeinstücke geborgen. Die Einzelteile wurden innerhalb der wissenschaftlich untersuchten Grabungsfläche gefunden, die etwa 20 Meter vom Höhleneingang entfernt im Höhleninneren liegt. Die Schichtenfolge V befindet sich etwa 3 Meter unter der heutigen Höhlenbodenoberfläche. Die Fragmente der Figur lagen dicht beieinander, auf einer Fläche von etwa einem Viertelquadratmeter mit einer Höhendifferenz von etwa 10 Zentimetern.

Am 13. Mai 2009 wurde die „Venus vom Hohlefels“ auf einer Pressekonferenz vorgestellt.[4] Erstmalig öffentlich zu sehen war das Original in der baden-württembergischen Landesausstellung „Eiszeit − Kunst und Kultur“ des Jahres 2009 im Kunstgebäude Stuttgart.[5]

Beschreibung

Die 33,3 Gramm schwere Figur ist 59,7 Millimeter hoch, 34,6 Millimeter breit und nahezu vollständig erhalten, nur der linke Arm samt Schulter fehlen.[1] Sie besitzt keinen Kopf, stattdessen eine Art Öse über den Schultern, welche die Vermutung nahe legt, dass die Figur als Anhänger getragen wurde – hierauf deuten auch entsprechende Polituren in der Öse hin.[1]

Die Beine sind kurz, spitz und asymmetrisch, da das linke Bein um einiges kürzer ist als das rechte. Auffällig sind die überdimensionierten Brüste, ein akzentuiertes Gesäß sowie der deutlich hervorgehobene Genitalbereich. Die Furche zwischen den Gesäßhälften ist tief ausgeführt und zieht sich bis zur Vorderseite ohne Unterbrechung durch, wo die Großen Schamlippen zwischen den geöffneten Beinen betont ausgeführt sind. Conard sieht hierin eine „bewusste Überhöhung der sexuellen Merkmale der Figurine“ („…deliberate exaggeration of the sexual features of the figurine.“)[6] Auffällig sind des Weiteren die kurzen Arme und die sorgfältig geschnitzten Hände, die unterhalb der Brüste auf dem Bauch liegen.[1] Ob diese Handhaltung in den Augen der altsteinzeitlichen Träger der Figur eine besondere Bedeutung hatte, ist unbekannt.

Zusätzlich zu den sorgfältig ausgeführten anatomischen Details weist die Figur eine Reihe von Ritzlinien und Kerben auf, die in ihrer Komplexität unter den Elfenbeinfiguren der Schwäbischen Alb einzigartig sind. Die Figur weist keinerlei Spuren auf eine frühere Einfärbung auf.[1]

Datierung

Die Aurignacien-Schichten Va und Vb des Hohlen Fels, aus denen die sechs Bruchstücke der Figur stammen, sind mit neuen AMS-Daten des Oxforder Labors (Oxford Radiocarbon Accelerator) datiert worden. Eines der sechs Fragmente wurde an der Basis der oberen Schicht Va gefunden, die anderen fünf Fragmente in der unteren Schicht Vb. Die einzelnen Datierungen ergaben in aufsteigender Reihenfolge: 31.140 ± 310 BP, 31.290 ± 180 BP, 31.380 ± 180 BP, 31.760 ± 200 BP (Schicht Va), 34.570 ± 260 BP, 34.720 ± 280 BP und einen offensichtlichen Ausreißer von 40.000 ± 500 BP.[7] Das ergibt bei Kalibrierung der jüngeren Datengruppe ein Minimalalter von 35.000 Jahren vor heute. Die herausragende Bedeutung der Figur liegt in der Tatsache, dass sie mindestens 6000 Jahre älter ist als alle bekannten – und meist ebenfalls dickleibigen – Venusfigurinen des Gravettiens. Eine etwa gleichalte Figur gibt es mit der Venus vom Galgenberg (Österreich).

Die Gruppe der vier jüngeren AMS-Daten (um 32.000 BP) ist im Prinzip identisch mit der bereits bekannten Elfenbein-Kleinkunst der Schwäbischen Alb, wie den Figuren vom Vogelherd, dem Geißenklösterle oder dem Löwenmensch vom Hohlenstein-Stadel. Wenngleich andere Kleinkunstwerke, die in den letzten Jahren im Hohlen Fels gefunden wurden, aus der darüber liegenden und damit jüngeren Schicht IV stammen, ist die zeitliche Differenz ihrer Einlagerung im Sediment möglicherweise unerheblich und eine nahezu gleichzeitige Herstellung denkbar. Aus der Umgebung dieser Kunstwerke, eines Wasservogels und einer kleinen anthropomorphen Figur aus Elfenbein, wurden in den AMS-Labors Kiel und Oxford neun Daten gewonnen, die alle zwischen 30.000 und 33.000 BP liegen.[8] Das zeigt einen Überlappungsbereich mit der jüngeren Datengruppe zur Venus vom Hohlefels.

Interpretationen

Der Fundbeschreibung in der Zeitschrift Nature vom 14. Mai 2009 wurde ein Filmtrailer unter der Überschrift „Prehistoric pin-up“ beigefügt.[9] In derselben Nature-Ausgabe kommentiert der englische Prähistoriker Paul Mellars den Neufund mit dem Fazit, dass die figürlichen Merkmale nach Maßstäben des 21. Jahrhunderts an Pornographie grenzen würden (…"that by twenty-first-century standards could be seen as bordering on the pornographic.")[10] Teile der Medien nutzten diese Sichtweise als Schlagzeile.[11][12] Dem steht die traditionelle Bewertung der paläolithischen „Venusfigurinen“ als Fruchtbarkeitssymbol gegenüber.[13] In diesen Kontext kann auch eine aus der Völkerkunde bei den Bantu bekannte Funktion als umgehängter Talisman während der Schwangerschaft gestellt werden.[14]

Eine denkbare humanethologische Interpretation bietet außerdem die aus der Völkerkunde in verschiedenen Regionen belegte Abwehrgeste der sogenannten „Brüstehalterin“ bzw. „Brustweiserin“.[15][16] Sofern die Figur eine typische Geste der Übelabwehr zeigt, ließe sich diese mit der Interpretation von Joachim Hahn in Einklang bringen, nach der „Kraft und Aggression“ die Botschaft der Körpersprache aurignacienzeitlicher Statuetten gewesen sei.[17] Wenngleich sich diese von Hahn 1986 publizierte Sichtweise nur auf die damals bekannten Tierfiguren aus der Vogelherdhöhle, Tierfiguren und den „Adoranten“ vom Geißenklösterle sowie den Löwenmenschen aus dem Hohlenstein bezogen hatte, kann die Interpretation einer angespannten bzw. abwehrenden Körpersprache auch bei der jüngst gefundenen Venus vom Hohlefels eine Erklärung bieten.[18]

In der Scientific community der Paläolithforschung besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass die figürliche jungpaläolithische Kleinkunst ausschließlich mit dem anatomisch modernen Menschen (in Europa auch Cro-Magnon-Mensch genannt) in Verbindung steht.[19] Insgesamt gibt es etwa 600 figürliche Kunstwerke von mindestens 20 Fundstellen aus der Zeit zwischen 35.000–30.000 BP, hingegen kein einziges figürliches Kunstwerk aus der Zeit davor.[20] Die mögliche kulturelle Beeinflussung des Neandertalers durch den Cro-Magnon-Mensch beschränkt sich auf wenige, nicht figurale Schmuckobjekte des Châtelperroniens.[21]

Die im Jahre 2010 erschienene Erzählung unter Mitwirkung des Grabungsleiters Nicholas Conard zeichnet ein anderes Bild: In dieser Dokufiktion hat eine junge Neandertalerin die „Venus aus dem Eis“ geschnitzt, nachdem sie von einer Cro-Magnon-Gruppe gerettet wurde und sich in kurzer Zeit kulturell assimiliert hat.[22] Eine Rezension in der FAZ wies auf unplausible Aspekte dieses Szenarios hin.[23] Nach Ansicht von Conard könnten Theorien zur Entstehung der Figur aufgrund der vorliegenden Daten jedoch „weder bestätigt noch widerlegt“ werden, da in den Höhlen der Schwäbischen Alb bislang keine zugehörigen Menschenreste gefunden wurden.[24]

Literatur

  • Nicholas J. Conard: A female figurine from the basal Aurignacian of Hohle Fels Cave in southwestern Germany. In: Nature, Band 459, 2009, S. 248-252 doi:10.1038/nature07995 (PDF-Download)
  • Nicholas J. Conard, Stefanie Kölbl (Hrsg.): Die Venus vom Hohle Fels. Fundstücke 1 (Museumsheft 9), Urgeschichtliches Museum Blaubeuren 2010 ISSN 1617-2655
  • Martin Porr: The Hohle Fels ‘Venus’: Some Remarks on Animals, Humans and Metaphorical Relationships in Early Upper Palaeolithic Art. In: Rock Art Research Band 27, Heft 2, 2010, S. 147-159

Weblinks

Einzelnachweise

  1. a b c d e Conard 2009, S. 248-252
  2. Nicholas J. Conard, Maria Malina: Spektakuläre Funde aus dem unteren Aurignacien vom Hohle Fels bei Schelklingen, Alb-Donau-Kreis. In: Archäologische Ausgrabungen in Baden-Württemberg 2008. Stuttgart, Theiss, 2009, S. 19-22
  3. Details zur Kontroverse
  4. Pressemitteilung der Universität Tübingen
  5. Eiszeit: Kunst und Kultur. Ausstellungskatalog. Thorbecke, 2009 ISBN 978-3799508339
  6. Conard 2009, S. 250
  7. Conard 2009, S. 250
  8. Nicholas J. Conard, Palaeolithic ivory sculptures from southwestern Germany and the origins of figurative art. In: Nature, Band 426, 2003, S. 830–832 doi:10.1038/nature02186 (PDF-Download)
  9. Prehistoric Pinup (Video)
  10. Paul Mellars: Origins of the female image. in: Nature, Band 459, 2009, S. 176-177 doi:10.1038/nature07995
  11. Spiegel-online: Steinzeit-Sexsymbol betört Forscher (13. Mai 2009)
  12. Handelsblatt.com: Das älteste Pin-up stammt aus Schwaben (14. Mai 2009)
  13. Henry Delporte: Image de la Femme dans l'Art Préhistorique. Picard, 1993
  14. Migene Gonzáles Wippler: Talismane und Amulette. Die magische Welt der Glücksbringer und Schutzsymbole. Verlag Kailash, München 2001, ISBN 3-7205-2231-8
  15. Erika Qasim: Frauenstatuetten - Zwei Gesten als Teil der Darstellung. In: ArchaeNova e.V. (Hrsg.): Erste Tempel - Frühe Siedlungen. Isensee, Oldenburg 2009, S. 161-185 ISBN 3-89995-563-3
  16. Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Christa Sütterlin: Im Banne der Angst. Zur Natur- und Kunstgeschichte menschlicher Abwehrsymbolik. Piper, München/Zürich 1992. ISBN 3-492-03387-3
  17. Joachim Hahn: Kraft und Aggression. Die Botschaft der Eiszeitkunst im Aurignacien Süddeutschlands? Archaeologica Venatoria (Band. 7) Tübingen 1986.
  18. Erika Qasim: Eine mögliche Interpretation der "Venus vom Hohlen Fels."
  19. Harald Floss: L’art mobilier Aurigacien du Jura Souabe et sa place dans l’art paléolithique/ Die Kleinkunst des Aurignacien auf der Schwäbischen Alb und ihre Stellung in der paläolithischen Kunst. In: Les chemins de l’art aurignacien en Europe/ Das Aurignacien und die Anfänge der Kunst in Europa. Colloque international/Internationale Fachtagung. Aurignac, 16-18 septembre 2005. Editions Musée-forum Aurignac, Cahier 4, 2007, S. 295-316
  20. Floss 2007, S. 314
  21. Thomas Higham et al.: Chronology of the Grotte du Renne (France) and implications for the context of ornaments and human remains within the Châtelperronian. In: PNAS, online 18. Oktober 2010 doi:10.1073/pnas.1007963107
  22. Nicholas Conard, Jürgen Wertheimer: Die Venus aus dem Eis. Wie vor 40 000 Jahren unsere Kultur entstand. Knaus Verlag, München 2010 ISBN 3-8135-0376-3
  23. Ulf von Rauchhaupt: Ein Mädchen aus dem Neandertal. (FAZ vom 2. Oktober 2010, abgerufen am 13. Oktober 2010)
  24. Conard 2009, S. 248

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