Verselbstständigte Bürokratien

Verselbstständigte Bürokratien

Verselbstständigte Bürokratien ist ein Begriff aus der Bürokratiekritik, der von dem Rechts- und Verwaltungswissenschaftler Gunnar Folke Schuppert geprägt wurde.

Inhaltsverzeichnis

Definition

Bürokratie abzubauen und die sogenannten bürokratischen Lasten für Bürger und Unternehmen zu reduzieren, ist ein erklärtes Politikziel nicht nur der Bundesregierung, sondern auch der Europäischen Kommission. Die bisherigen bürokratiekritischen Bemühungen konzentrieren sich vor allem auf die Bundes-, Landes- und Kommunalverwaltung und versuchten – z. B. durch die Reduzierung von Informationspflichten – die Bürokratiekosten zu senken. Vernachlässigt wurde und wird dabei aber der verborgene öffentliche Sektor, in dem zahlreiche verselbstständige Bürokratien beheimatet sind, die nicht nur öffentliche Aufgaben wahrnehmen, sondern zudem von ihren Mitgliedern finanziert werden, die sich diesen bürokratischen und finanziellen Lasten wegen der bestehenden Zwangsmitgliedschaft nicht entziehen können. Beispiele sind etwa die in Deutschland weit verbreiteten Kammern, aber auch Absatzförderungs- und Stabilisierungsfonds im Bereich der Wirtschaft sowie die Landesmedienanstalten und andere „Agencies“.

Als verselbstständigte Bürokratien kann man daher solche Gebilde begrifflich zusammenfassen, die im verwaltungswissenschaftlichen Sprachgebrauch als verselbstständigte Verwaltungseinheiten bzw. als Trabanten des Verwaltungssystems bezeichnet werden. Wegen ihrer Tendenz zur Verselbstständigung und der damit verbundenen Gefahr, sich demokratischer Kontrolle zu entziehen, waren und sind sie auch stets Gegenstand des verfassungsrechtlichen Interesses. Besonders intensiv wurden diese Verwaltungstrabanten aber immer unter dem Gesichtspunkten des Haushaltsrechts und der Finanzwissenschaft in den Blick genommen: die entstandenen und entstehenden Nebenbürokratien wurden haushaltsrechtlich als Nebenhaushalte und finanzwissenschaftlich als sog. Parafisci kritisch unter die Lupe genommen, da sie häufig über ein eigenes Budget verfügen und auf diese Weise die Haushaltsgrundsätze der Einheit und Vollständigkeit des Haushalts durchbrechen.

Pluralisierung und Binnendifferenzierung als Megatrend der Verwaltungsentwicklung

Alle Kenner der öffentlichen Verwaltung sind sich in dem Befund einig, dass seit langem ein Prozess der Pluralisierung und Binnendifferenzierung der Verwaltung zu beobachten ist, und zwar vor allem in Gestalt der Privatisierung und organisatorischen Verselbstständigung von Verwaltungsaufgaben.

Wichtig für den hier zu skizzierenden Befund ist, dass es sich bei der Ausfransung des Verwaltungssystems keineswegs nur um ein deutsches Phänomen handelt und dass dieser Ausdifferenzierungsprozess weiter in vollem Gange ist:

Ein besonders dramatischer Ausfransungsprozess ist in Großbritannien zu beobachten, ein Befund, der in der einschlägigen Literatur als „organisatorische Revolution“ bezeichnet worden ist. Die britische öffentliche Verwaltung ruht – so die übereinstimmende Situationsbeschreibung – inzwischen auf drei Säulen, den „government-departments“, den „executive agencies“ und den sogenannten „non-departmental public bodies“. Während die Abspaltung von immer neuen „agencies“ aus der unmittelbaren Ministerialverwaltung schon ein vertrauter Prozess ist, sind das Neue die sogenannten NDPBs, die „Non-Departmental Public Bodies“, von denen im März 2006 die folgenden 838 Gebilde existierten: „This figue was made up by 199 Executive NDPBs, 448 Advisory NDPBs, 40 Tribunal NDPBs, 149 Independent Monitoring Boards, 21 Public Corporations, The Bank of England, 2 Public Broadcasting Authorities and 23 National Health Service Bodies“. Soweit zu dem britischen Beispiel.

Was die Aktualität des Ausfransungsprozesses angeht, so ist sie nicht nur ungebrochen, sondern zeigt sich in dem offenbar unaufhaltsamen Wachstum von “Agencies” aller Art, insbesondere von sog. „Regulatory Agencies“, die als typische Organisationsform des Regulierungsstaates gelten und inzwischen auch in Deutschland als Agenturen bezeichnet werden, wie nicht nur die Umbenennung der Bundesanstalt für Arbeit, sondern auch Gebilde wie die Bundesnetzagentur oder die „Deutsche Arzneimittelagentur“ (DAMA) zeigen. Manche Autoren sprechen daher schon von der ansteckenden Krankheit des „Agency Fever“ bzw. – etwas weniger dramatisch – vom „Regieren mit Agenturen“.

Finanzierung verselbstständigter Bürokratien durch Sonderabgaben

Die deutsche Finanzverfassung kennt als öffentliche Abgaben vor allem die Steuer, aber auch Gebühren und Beiträge. Wegen der Regelfinanzierung der öffentlichen Haushalte durch das Steueraufkommen bezeichnet man den auf diese Weise finanzierten Staat als Steuerstaat, in den anderen Finanzierungsarten als die Steuer, Gebühren und Beiträge prinzipiell rechtfertigungsbedürftig sind. Dies gilt vor allem für die sogenannten Sonderabgaben, durch deren Erhebung verselbstständigte Bürokratien in aller Regel finanziert werden (Kammerbeiträge, Beiträge zur Finanzierung von Förderungsanstalten, etc.).

Dieser Finanzierungsmodus der Sonderabgaben hat das Bundesverfassungsgericht wiederholt beschäftigt, so dass eine reichhaltige Rechtsprechung zu ihnen vorliegt, in der die Grenzen ihrer Verwendung eindeutig gezogen worden sind. Danach müssen für die Zulässigkeit von Sonderabgaben die folgenden drei Kriterien kumulativ erfüllt sein: Zunächst muss es sich bei den Zahlungspflichtigen um eine abgrenzbare besondere gesellschaftliche Gruppe handeln, die durch eine gemeinsame Interessenlage oder durch besondere gemeinsame Gegebenheiten von der Allgemeinheit und anderen Gruppen abgrenzbar ist. Außerdem muss es zwischen dem Zweck der Abgabe und der Gruppe eine bestimmte Verbindung geben. Die mit der Abgabe belastete Gruppe muss dem mit der Abgabenerhebung verfolgten Zweck evident näherstehen als jede andere Gruppe oder die Allgemeinheit der Steuerzahler; andernfalls wäre die Sonderbelastung der durch die Abgabe in Anspruch genommenen Gruppe schon mit dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz nicht zu vereinbaren. Und die Abgabe muss gruppennützig sein, d.h. das Abgabenaufkommen muss überwiegend im Interesse der belasteten Gruppe verwendet werden.

Diese Generallinie ist auch in der jüngsten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 3. Februar 2009 zum Absatzförderungsfonds der deutschen Land- und Ernährungswirtschaft eindrucksvoll bestätigt worden (Urteil des Zweiten Senats, 2 BvL 54/06). Diese Entscheidung hat die skizzierten Kriterien nicht nur quasi formelhaft wiederholt, sondern unter dem Stichwort des Gruppennutzens die Frage aufgeworfen, ob die Werbetätigkeit der Centralen Marketinggesellschaft der deutschen Agrarwirtschaft mbH, der CMA, einer Tochter des Absatzförderungsfonds, überhaupt noch im Interesse der belasteten Gruppe erforderlich ist; das Gericht hat diese Frage im Ergebnis verneint.

Dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat der Landwirt Georg Heitlinger erstritten. Die Zwangsabgabe wurde daraufhin abgeschafft. Für seinen Verdienst wurde er 2010 mit dem Werner-Bonhoff-Preis wider den §§-Dschungel ausgezeichnet.

Solche Sonderabgaben spielen beim näheren Hinsehen überall dort eine besonders prominente Rolle, wo es um Maßnahmen der Wirtschaftsförderung und Wirtschaftslenkung geht und in denen die belastete Gruppe aus Unternehmern eines bestimmten Wirtschaftszweiges besteht; insoweit könnte man auch von einem Typus unternehmensfinanzierter Nebenbürokratien sprechen.

Weiterer Forschungsbedarf

Angesichts der ständig wachsenden Zahl von Trabanten des Verwaltungssystems erscheint es unter dem Gesichtspunkt einer wirksamen Bürokratiekritik unerlässlich, auch den Typus der verselbstständigten Bürokratien auf den Prüfstand zu stellen.

Dazu erscheint es zunächst einmal erforderlich, eine umfassende und dauernd fortzuschreibende Bestandsaufnahme dieses Bürokratietyps vorzunehmen, da in den letzten Jahren eine Vielzahl neuartiger Gebilde entstanden ist, vom Öko-Audit bis zu dem aus dem Boden schießenden Zertifizierungsstellen. Mit einer solchen Bestandsaufnahme hat die Werner-Bonhoff-Stiftung mit Hilfe von Meldungen aus der Bevölkerung 2010 begonnen. Eine solche Dokumentation kann nur ein erster Schritt in dem Bemühen sein, die „neue Unübersichtlichkeit“ im Bereich verselbstständigter Bürokratien transparenter zu machen, um so der interessierten Öffentlichkeit ein Urteil darüber zu erlauben, was in diesem Bereich des verborgenen öffentlichen Sektors vor sich geht.

Literatur

  • Bach, Tobias/Jan, Werner, Animals in the Administrative Zoo: Organizational Change and Agency Autonomy in Germany, in: International Review of Administrative Sciences, 2010, S. 443-468.
  • Döhler, Marian, Vom Amt zur Agentur? In: Werner Jann/Marian Döhler (Hrsg.), Agencies in Westeuropa, Wiesbaden 2007, S. 12 ff.
  • Hood, Christopher, The Hidden Public Sector. The “Quangocratization” of the World?, in Franz Xaver Kaufmann et al. (Hrsg.), Guidance, Control, and Evaluation in the Public Sector, Berlin und New York 1986, S. 183-207.
  • Pollitt, Christopher et al. (Hrsg.), Agencies. How Governments Do Things Through Semiautonomous Organizations, New York, 2004.
  • Schuppert, Gunnar Folke, Die Erfüllung öffentlicher Aufgaben durch verselbstständigte Verwaltungseinheiten, Göttingen 1981.
  • Smekal, Christian, Die Finanzwirtschaft intermediärer Gruppen, Wien, 1969.

Weblinks


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