Nationalsozialismus und Zeugen Jehovas

Nationalsozialismus und Zeugen Jehovas
KZ-Kennzeichnung „Bibelforscher“

Die Geschichte der Zeugen Jehovas im Nationalsozialismus ist geprägt von den Konflikten mit den nationalsozialistischen Staatsorganen, unter anderem wegen ihrer Verweigerung des Wehrdienstes und des Hitlergrußes. Während der Herrschaft des Nationalsozialismus vom 30. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945 wurden die Zeugen Jehovas (früher „Ernste Bibelforscher“ genannt) vor allem deswegen verfolgt.

Inhaltsverzeichnis

Vorgeschichte 1918–1933

Die Verfolgung der Bibelforscher, wie sich Zeugen Jehovas vor 1931 nannten, kam in Deutschland nicht unerwartet. Schon im Ersten Weltkrieg fielen die Bibelforscher durch ihre kriegsgegnerische Haltung gegenüber dem Staat und der Kirche auf. In den 1920er Jahren machten sie weiterhin durch ihre offensive Missionierung und Anklage der Kirchen auf sich aufmerksam. Im verarmten und traumatisierten Nachkriegsdeutschland fanden sich rasch viele neue Anhänger (1918: 3.900 Gläubige, 1919: 5.500 Gläubige, 1926: 22.500 Gläubige). Die Bibelforscher fanden dabei nicht nur Anhänger, sondern stießen auch auf deutliche Ablehnung.

Die Anschuldigungen der völkisch-nationalen Presse konzentrierte sich im Kern darauf, die Bibelforscher als von Juden oder Freimaurern finanzierte Organisation darzustellen, die eine bolschewistische Revolution vorbereite. Auch die Herkunft aus den USA wurde als Bedrohung ausgelegt. Die Bibelforscher verkündeten den Untergang aller staatlichen Organisationen und Kirchen, die ihrer Auffassung nach Teil der Welt sind, über welcher Satan der Herrscher sei. Sie betonten zwar ihre politische Neutralität und erklärten ausdrücklich, dass die Vernichtung von Staaten und Kirchen nur durch Jesus und Jehova erfolgen sollte. Dennoch interpretierten Ankläger Schriften der Bibelforscher so, dass sie meinten, mit ihnen den angeblichen jüdischen, kommunistischen und umstürzlerischen Charakter der Bibelforscher untermauern zu können. Es kursierten mehrere Weltverschwörungstheorien, die den Bibelforschern zentrale Positionen im geplanten Umsturz zuschrieben.

Kirchliche Stellen lieferten sich mit den Bibelforschern einen regelrechten Schlagabtausch, wobei die evangelische Kirche mehr Einsatz zeigte als die katholische Kirche. Materialdienste und apologetische Abteilungen beider großen Kirchen beschäftigten sich intensiv mit der Lehre der Bibelforscher, um Pastoren Argumentationshilfen zu bieten. Flugblattaktionen griffen jeweils die andere Position an. Während Bibelforscher vor Kirchen und Friedhöfen predigten oder Flugblätter verteilten, versuchten Geistliche während der Vorträge der Bibelforscher Diskussionen zu erzwingen. Kirchliche Stellen griffen teilweise auch Argumente der völkisch-nationalen Presse auf. Als die Kirchen erhebliche Austritte von Freidenkern erfuhren, brachten sie die Bibelforscher mit diesen Verbänden in Verbindung.

Andererseits wurden die Angriffe der Bibelforscher gegen die Kirchen als maßlose Kritik empfunden. So wurde das Buch über die katholische Kirche, „Die größte Geheim-Macht der Welt“, das der höchste Funktionär der Bibelforscher Paul Balzereit verfasst und unter dem Pseudonym P.B.Gotthilf in einem neutralen Verlag veröffentlicht hatte, allgemein als hetzerisch empfunden. In dem Buch wurde dem Vatikan die Schuld an der bedauerlichen Lage des deutschen Volks gegeben und die Bibelforscher als Feind Roms hingestellt, der dadurch der Menschheit einen großen Dienst erweise. Das Buch wurde verboten, die Religionsgemeinschaft zu einer Geldstrafe verurteilt.

Die rechtlichen Mittel gegen die Bibelforscher waren jedoch sehr begrenzt. Obwohl jährlich hunderte Gerichtsverfahren wegen unerlaubtem Hausierens oder Verstößen gegen die Gewerbeordnung stattfanden, wurden nur in wenigen Fällen tatsächlich Geldstrafen verhängt. Ein erster Wegbereiter für die staatliche Verfolgung ist die von kirchlichen Kreisen forcierte „Verordnung des Reichspräsidenten zur Bekämpfung politischer Ausschreitungen“ von 1931, die auch ein polizeiliches Einschreiten gegen Beschimpfung oder Verächtlichmachung von religiösen Bräuchen oder Gegenständen erlaubt. Bayern war Vorreiter darin, auf Basis dieser Verordnung den Bibelforschern Veranstaltungsverbote auszusprechen und Beschlagnahmungen durchzuführen.

Die Bibelforscher selbst sahen all diese Maßnahmen gegen sie als Bestätigung ihrer Auffassung, dass Staat und Kirche vom Teufel gelenkt gegen sie kämpften. Sie sahen sich als Nachfolger der ersten Christen, die ähnlich verfolgt wurden. Sie begriffen die Situation als Bestätigung der Worte Jesu im Johannesevangelium 15,19: „Wäret ihr von der Welt, so hätte die Welt das Ihre lieb. Weil ihr aber nicht von der Welt seid, sondern ich euch aus der Welt erwählt habe, darum hasst euch die Welt.“ (wiedergegeben nach der Luther-Bibel). Nach einer unerfüllten Erwartung von Harmagedon (dem Endkrieg Gottes, den die Bibelforscher sehnlichst erwarteten) im Jahre 1925, stagnierte zunächst das Wachstum und ab 1928 sanken auch die Mitgliederzahlen. In den letzten drei Jahren vor der Machtergreifung Hitlers war jedoch wieder eine erhebliche Zunahme der Mitgliederzahlen zu verzeichnen. Trotz des relativ hohen Wachstums machten die Zeugen Jehovas beim Machtantritt der Nationalsozialisten 1933 mit 25.000 bis 30.000 Mitgliedern nur etwa 0,038 Prozent der Bevölkerung des Deutschen Reiches aus.

Orientierung 1933–1939

Am 30. Januar 1933 wurde Adolf Hitler zum Reichskanzler berufen und die Nationalsozialisten erhielten zunehmend staatliche Macht. Am 28. Februar erging die „Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat“, die Reichstagsbrandverordnung. Sie sollte als Grundlage für viele Verbote, auch gegen Zeugen Jehovas, dienen, die von April bis Juni in den verschiedenen Ländern des Reiches ausgesprochen wurden.

In den ersten Jahren war, neben den allgemein bekannten Vorwürfen, die Verweigerung des Hitlergrußes, die Wahlverweigerung und das Fernbleiben von staatlichen Organisationen (Reichsluftschutzbund, Deutsche Arbeitsfront) Anlass zu Entlassungen und diversen Formen öffentlicher Erniedrigung.

Schulpflichtige Kinder von Zeugen Jehovas waren von Anbeginn enormem Gruppenzwang ausgesetzt. Von Lehrern wie Schülern ausgegrenzt, verspottet und oft körperlich angegriffen, wurden nationalsozialistische Rituale, die sie durch ihre Erziehung als Götzendienst empfanden, zum täglichen Spießrutenlauf.

Bemüht darum, die von der völkisch-nationalen Presse oder den Kirchen vorgebrachten und von den Nationalsozialisten aufgegriffenen Anklagen zu entkräften, versuchten die Zeugen Jehovas bereits seit Februar 1933 ihren unpolitischen Charakter offiziell herauszustellen. Da man aber auch für die Gleichheit der Menschen und das messianische Königreich (mit dem jüdischen König Jesus Christus) einstand, trugen diese Stellungnahmen nicht zur Versöhnung bei. In der deutschen Zentrale der Zeugen Jehovas, in Magdeburg, wurden bereits Anfang April 1933 Vorbereitungen für den Fall des Verbotes getroffen.

Am 8. Juni 1933 sandte die Zentrale der Zeugen Jehovas in Magdeburg ein Schreiben an den Reichsinnenminister Wilhelm Frick. Auszugsweise heißt es darin:

„Die unterfertigte Gesellschaft gibt sich die Ehre, den verehrten Herrn Minister zu bitten, ihren Präsidenten Herrn Richter J. F. Rutherford, Brooklyn N. Y., dann vorher in nachstehend näher erklärten Angelegenheit empfangen zu wollen, wenn in der Angelegenheit eine gegen uns gerichtete Entschließung beabsichtigt ist.“ (Bundesarchiv ZBI – 1046 A1 Bl. 24).

Im weiteren Verlauf dieser Ausführungen werden die bereits in einzelnen Ländern des Deutschen Reiches (außer Preußen) ausgesprochenen Verbote genannt. Hatte Hitlers Reichskanzlei noch die zuvor übermittelte Mitteilung über die Gründung einer „Norddeutschen und Süddeutschen Bibelforschervereinigung“ als neue Rechtspersönlichkeiten, mit der satzungsmäßigen Bestimmung, nur gebürtige Deutsche hätten in ihr Sitz und Stimme, empfangsbestätigt; so blieb die Offerte vom 8. Juni 1933 offenbar ohne Rückantwort.

Am 24. Juni 1933 wurden Jehovas Zeugen durch Adolf Hitler in Deutschland verboten. Die Veranstaltung vom 25. Juni 1933 in den Tennishallen zu Berlin-Wilmersdorf war offenbar eine Reaktion auf diese Sachlage. Auf ihr wurde eine Erklärung (englisch „Declaration of Facts“, bekannt als „Wilmersdorfer Erklärung“ publiziert.[1] Sie wurde später in dem in der Schweiz erschienenen „Jahrbuch 1934 der Zeugen Jehovas“ dokumentiert. Darüber hinaus gab es auch ein separates Anschreiben an den Reichskanzler Hitler.[2]

Man hoffte mit der „Erklärung“, die „in der Luft liegenden“ Anschuldigungen zu widerlegen. Man distanzierte sich auch deutlich von dem Vorwurf, eine von Juden finanzierte Organisation zu sein. Die Leitung hielt es zu diesem Zweck für notwendig darauf hinzuweisen, es seien die „Handelsjuden des Britisch-Amerikanischen Weltreiches, die das Großgeschäft aufgebaut und benutzt haben als ein Mittel der Ausbeutung und der Bedrückung vieler Völker.“ Zeitgenössische Antisemiten konnte dies jedoch nicht überzeugen. Es wurden aus den Reihen der Zeugen Jehovas Stimmen laut, die diese Erklärung als zu zurückhaltend gegenüber den Nationalsozialisten empfanden.

Eskalation

Im Verlaufe des Jahres 1933 scheint sich die deutsche Leitung der Wachtturm Bibel- und Traktatgesellschaft unter Paul Balzereit in dem Bemühen, zumindest das Verlagswesen in die Legalität zurück zu holen, zunehmend von der Basis und schließlich auch von dem aus der Weltzentrale in Amerika gewünschten Kurs zu entfernen. Während sich einige Zeugen Jehovas enttäuscht distanzierten, begannen andere – entgegen der ausdrücklichen Weisung der Leitung – das Predigen in der Illegalität fortzusetzen. Im Februar 1934 erklärte Joseph Franklin Rutherford die Verhandlungen für gescheitert und setzte dem Reichskanzler Hitler ein Ultimatum, nachdem man mit der Veröffentlichung der Menschenrechtsverstöße seiner Regierung beginnen wolle. Reichsleiter Balzereit setzte weiterhin darauf, die Verlagstätigkeit der Wachtturm-Gesellschaft zu legalisieren und erzielte Ende 1934 erste Erfolge. Zeitgleich wurde jedoch auch die Wiederaufnahme der Tätigkeit zum 7. Oktober 1934 in der Illegalität beschlossen. Man schätzt, dass sich über 10.000 Zeugen Jehovas zur Teilnahme an der verbotenen Religionsausübung bereit erklärten.

Beginnend mit dem 8. Oktober 1934 wurden den Postämtern etwa 20.000 Telegramme und Briefe aus der ganzen Welt an Adolf Hitler zugestellt.

„Ihre schlechte Behandlung der Zeugen Jehovas empört die guten Menschen und entehrt Gottes Namen + Hören Sie auf Jehovas Zeugen weiterhin zu verfolgen sonst wird Gott Sie und Ihre nationale Partei vernichten.“

Hitler soll darauf hin gesagt haben: „Diese Brut wird in Deutschland ausgerottet.“ Damit war die Zeit der Verhandlungen und Zugeständnisse endgültig abgeschlossen. Es gab vermehrt Polizeiberichte über die Tätigkeit der verbotenen „internationalen Bibelforscher“. Die fortgesetzte Zurückhaltung Balzereits wurde von den übrigen Zeugen Jehovas zunehmend feindselig betrachtet. Im Mai 1935 wurde Balzereit von den Nazis verhaftet und 1936 offiziell von den Zeugen Jehovas ausgeschlossen, weil er und seine Mitangeklagten im Gerichtsverfahren keine Stellung für die Lehre der Zeugen Jehovas bezogen hätten.

Der relativ geringe Erfolg rechtlicher Schritte gegen die Zeugen Jehovas wurde zu diesem frühen Zeitpunkt durch juristische Formfehler und das Beharren von Juristen auf der in der Weimarer Verfassung gewährten Religionsfreiheit bestimmt. Auch die Tatsache, dass die Wachtturm Bibel- und Traktatgesellschaft – im Gegensatz zu den Bibelforschervereinigungen – eine US-amerikanische Zweigstelle war, die durch den Deutsch-Amerikanischen Freundschaftsvertrag geschützt war, konnten die Zeugen Jehovas zur Verwirrung der Strafverfolgungsbehörden einsetzen.

Kirchen als Unterstützer der staatlichen Verfolgung

Die Kirchen begegneten - von wenigen Solidaritätsbekenntnissen abgesehen - den staatlichen Verboten und Verfolgungsmaßnahmen gegenüber den Bibelforschern mit Dankbarkeit und mit aktiver Unterstützung. Die Staatspolizei erhielt in sektenkundlichen Fragen Unterstützung.

Am 9. Juni 1933 fand eine Zusammenkunft zwischen Vertretern der Ministerien, der Gestapo und mit Vertretern der katholischen und der evangelischen Kirche in Berlin statt, um Maßnahmen für das Verbot der Zeugen Jehovas in Preußen zu besprechen. Der katholische Domkapitular Piontek bat um „strenge staatliche Maßnahmen“ gegen diese Gemeinschaft, und der evangelische Oberkonsistorialrat Fischer wollte ein Verbot der Zeugen Jehovas wegen der Gefahr für das „deutsche Volkstum“ erwirken. Darüber hinaus vertrat er die Auffassung, dass die Kirche den Zeugen Jehovas auch „mit ihren eigenen Mitteln“ entgegentreten müsse.[3]

Von offizieller evangelischer Seite wurden bereits im August 1933 Vorschläge unterbreitet, mit welchen Sekten ähnlich verfahren werden könnte. „Das Evangelische Deutschland“, das in Berlin erscheinende „maßgebliche Organ auf protestantischer Seite“ (Auflage: 20 000; Schriftleiter: Professor August Hinderer, der Direktor des Evangelischen Pressedienstes), kommentiert am 10. September 1933 das Verbot der Zeugen Jehovas durch die Nationalsozialisten mit Dankbarkeit und fordert weitere Verbote: „Die Kirche wird dankbar anerkennen, dass durch dieses Verbot eine Entartungserscheinung des Glaubens beseitigt worden ist […]. Damit ist jedoch noch keine vollständige Bereinigung der Sekten erreicht. Erwähnt seien nur die Neuapostolischen.“[4]

Zur sich intensivierenden Zusammenarbeit zwischen Gestapo und Kirchen schrieb der Leiter der evangelischen Apologetischen Centrale, der bayerische Pfarrer Walter Künneth, am 16. Dezember 1933 an die Reichskirchenregierung: „Der Materialaustausch zwischen dem Geheimen Staatspolizeiamt und der Apologetischen Centrale hat bereits begonnen. Auch mit dem Propaganda-Ministerium wurde Fühlung aufgenommen. Es besteht die Aussicht, dass auch hier eine Arbeitsverbindung zu Stande kommt. Auch das Reichsinnenministerium hat in den vergangenen Monaten der Apologetischen Centrale wiederholt wichtiges Material zur Durchprüfung und praktischen Ausnutzung zur Verfügung gestellt.“[5]

Die Evangelisch-Lutherische Kirche gab in Bayern nach einer Bekanntmachung des Kultusministeriums am 4. April 1934 eine Anweisung zur Verpflichtung von Religionslehrern zum Hitlergruß heraus. Darin heißt es: „Der Lehrer tritt zu Beginn jeder Unterrichtsstunde vor die stehende Klasse und grüßt als erster, indem er den rechten Arm erhebt und dabei die Worte ‚Heil Hitler‘ spricht. Die Klasse erwidert den Gruß in der gleichen Weise. Am Schlusse der Schulstunde wiederholt der Lehrer den deutschen Gruß vor der stehenden Klasse. Diese antwortet in gleicher Weise.“ – „Wir weisen unsere Religionslehrer an, der Bekanntmachung des Kultusministeriums entsprechend zu verfahren. Ev.-Luth. Landeskirchenrat; D. Meiser“.[6]

Im August 1937 ruft der Vertreter des Landesbischofs der Bremischen Evangelischen Kirche dazu auf, Aktivitäten von Zeugen Jehovas umgehend an die Gestapo zu melden.[7]

Als am 22. Oktober 1939 Zeugen Jehovas eine Flugschrift mit dem Titel „Krieg oder Frieden?“ vor die Tür eines evangelischen Vikars aus dem Münsterland ablegen, verständigt dieser sofort die Polizei und teilt mit, wer nach seiner Meinung als Täter in Frage kommen könnte.[8]

Religionsausübung trotz Verbot

Zeugen Jehovas wurden aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur Bibelforschervereinigung oder der Verweigerung des Hitlergrußes oder der Wahlen als staatsfeindlich oder politisch unzuverlässig betrachtet. Daher wurde schon früh damit begonnen ihnen Arbeitsstellen, Gewerbescheine, Wandergewerbescheine, ihren Beamtenstatus, Grundstücke, Häuser, Fahrzeuge, Landwirschaftserlaubnis oder Betriebsgenehmigungen zu entziehen oder zu verwehren. Renten, Pensionen, Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe wurden verwehrt oder gemindert. Jehovas Zeugen galten als unvermittelbare asoziale Elemente, denen folglich keine Arbeitslosenunterstützung zustand.

Die Inhaftierung Balzereits im Mai 1935 stand am Beginn einer Reihe von zentralen personellen Neubesetzungen der Bibelforschervereinigung. Sein Nachfolger war Reichsdiener Fritz Winkler. Er wurde bei der ersten Verhaftungswelle August/September 1936 inhaftiert. Sein Nachfolger Erich Frost wurde bei der zweiten Verhaftungswelle am 21. März 1937 inhaftiert. Der schon im Voraus bestimmte Nachfolger Heinrich Dietschi wurde bereits mit der dritten Verhaftungswelle im August/September 1937 inhaftiert. Die personelle Notlage wurde auch durch die zunehmende Besetzung von Führungspositionen mit Zeuginnen Jehovas deutlich.

Die Zeugen Jehovas eigneten sich schnell die nötigen Fähigkeiten konspirativer Untergrundtätigkeiten an. Ihr Predigtdienst wurde wegen häufiger Denunzierungen immer seltener klassisch „von Haus-zu-Haus“, sondern zunehmend in kleinen organisierten Blitzaktionen durchgeführt, um den Ort vor Ankunft der Gestapo zu verlassen. Auf diese Weise wurden bis 1937 auch reichsweit abgestimmte Aktionen durchgeführt. Mit zunehmender Verfolgung wurde auch die Organisationsstruktur beeinflusst. Nachrichten wurden kodiert, Personen und Veröffentlichungen der Wachtturmgesellschaft erhielten Tarnnamen. Publikationen, wie die Zeitschrift „Der Wachtturm“, mussten oft aus dem Ausland eingeschmuggelt und illegal vervielfältigt werden. Zuletzt gab es nur noch Zellen bis zu einer Größe von etwa sechs Personen. Zeugen Jehovas in leitenden Positionen kannten nur wenige andere Leiter, um bei Geständnissen nicht zu viele Identitäten zu enttarnen.

Staatliche Maßnahmen

Auch die Nationalsozialisten stellten sich auf die Situation ein. Wiederholt wurden amtliche Stellen, sowohl Richter als auch Polizei und Gestapo, auf die Gefahr hingewiesen, die von den Bibelforschern ausgeht. Insbesondere den Juristen wurde durch Anweisungen und Veröffentlichungen in Fachzeitschriften dargelegt, welche Urteile gegen Bibelforscher erwünscht wären.

Die Nationalsozialisten wendeten den Sorgerechtsentzug als eine Möglichkeit zur Einflussnahme auf die Zeugen Jehovas an.

Gestapo-Erlass ordnet Schutzinhaftierung von Zeugen Jehovas an, falls das Gericht keinen Haftbefehl erstellt

Die Gestapo verlängerte verhängte Strafmaße durch die so genannte Schutzhaft. Im Juni 1936 bildete die Gestapo ein eigenes Sonderkommando zur Bekämpfung der Zeugen Jehovas. Die Praxis der urteilskorrigierenden Schutzhaft wurde ab dem 5. August 1937 durch das Geheime Staatspolizeiamt in Berlin (Gestapa) als Erlass an die Dienststellen gegeben.

Die Haftverlängerung war jedoch nicht einziges Ziel der Gestapo. Die „Verpflichtungserklärungen“ („Reverse“), mit denen ein Zeuge Jehovas sich die „Schutzhaft“ ersparen konnte, war ein erster Test, die Staatstreue zu prüfen. Personen, die die Unterschrift leisteten, wurden – zumindest bei geringfügigen Vergehen – von der Schutzhaft verschont und unter Beobachtung freigelassen. Offenbar unterschrieben viele Zeugen Jehovas aus taktischen Gründen, um sich oder ihre Angehörigen zu schützen, ohne sich jedoch innerlich vom Glauben zu trennen. Dies war vielen möglich, weil die „Verpflichtungserklärung“ anfangs von der „Internationalen Bibelforschervereinigung“ sprach, sie sich selbst aber als Zeugen Jehovas betrachteten. Die Gestapo veränderte den genauen Wortlaut der Erklärungen mehrmals, so dass es Zeugen Jehovas zunehmend schwerer fiel diese zu unterzeichnen.

Richter sahen durch diese nachträglichen Urteilskorrekturen der Gestapo jedoch die Würde des Gerichts angegriffen. Mitarbeiter des Strafvollzugs fühlten sich durch die Korrekturen bei ihren „Umerziehungsmaßnahmen“ behindert, die Bibelforscher zu „wertvollen Mitgliedern der Volksgemeinschaft“ machen sollten. Insbesondere das Abführen von gerade freigesprochenen Bibelforschern aus dem Gerichtssaal oder die Verbüßung einer nachgelagerten „Schutzhaft“ in derselben Gefängniszelle führten zu Beschwerden.

Der zuständige Ministerialdirektor des Reichsjustizministeriums, Dr. Wilhelm Crohne, leitete die Beschwerden der Generalstaatsanwälte an die Gestapo weiter. Bei der Chefpräsidentenbesprechung teilte Crohne das Ergebnis mit: die Anweisung zur allgemeinen Schutzhaft müsse von der Justiz hingenommen werden. Die Gestapo erklärte sich bereit, dass die „Schutzhaft“ zukünftig immer in den KZ und eine Verhaftung zur Schutzhaft nicht mehr im Gerichtssaal erfolgen werde. Crohne wies die Richter im Zusammenhang darauf hin, die Strafen gegen Bibelforscher entsprechend hoch zu bemessen, um diese „notwendigen Korrekturen“ zukünftig zu vermeiden.

Nicht nur die Richterschaft, auch die Bevölkerung sollte über den vermeintlichen Charakter der „jüdisch-pazifistischen Sekte“ aufgeklärt werden. Die Nationalsozialisten engagierten daher Experten der völkisch-nationalen Presse, um die „geheimen Machenschaften“ aufzudecken. So wurden Gutachten erstellt, die nicht nur die Kontakte zu den Freimaurern belegen sondern auch beweisen sollten, dass Zeugen Jehovas Josef Stalin als den Stellvertreter Jehovas betrachten.

Konzentrationslager

Mahntafel im KZ Mauthausen
Generelles Schreibverbot für Bibelforscher

Konzentrationslager standen unter Leitung der SS. Zeugen Jehovas wurden im Rahmen von „Schutzhaftmaßnahmen“ inhaftiert und seit 1935/1936 als eigene Gruppe an der Kleidung, meist durch blaue Punkte oder Kreise, markiert. 1938 wurden die Farbcodes vereinheitlicht und die Bibelforscher erhielten ein violettes Dreieck („Lila Winkel“). Bis Kriegsbeginn stellten die Zeugen Jehovas in vielen KZ oft einen beträchtlichen Teil der Insassen; in den Frauen-KZ stellten sie 1939 die größte Gruppe. Die Anzahl der Zeugen Jehovas, die in Auschwitz inhaftiert waren, ist im Unterschied zu allen anderen Konfessionen recht genau bekannt, es waren mindestens 387.[9] Allerdings trifft dies nicht zugleich für die Zahl der Ermordeten zu, sie ist weiter unbekannt.

Die Lagerleitungen der KZ beabsichtigten zwar keine systematische Vernichtung der Zeugen Jehovas wie beispielsweise bei Juden, Roma und Sinti, dennoch war der KZ-Alltag von Schwerstarbeit, Misshandlung, Krankheit, Unterernährung und Tod geprägt. Viele Schikanen der SS provozierten zudem den vorzeitigen Tod auch gesunder Häftlinge.

Die beharrliche Weigerung, die „Besserungsmaßnahmen“ der SS-Leitung anzunehmen, brachte den Zeugen Jehovas oftmals viele zusätzliche Angriffe durch die Lagerleitung ein. So wurden die üblichen Sanktionen wie Isolation von anderen Gefangenengruppen, besonders lange Dienstzeiten in Strafkompanien, Kürzung der Essensration, Einkaufssperren und Verweigerung der Krankenbehandlung bei Zeugen Jehovas in einigen Lagern zum Normalzustand. Auch brachten ihnen ihre offen bekundeten Glaubensansichten Probleme. Jede Verweigerung des Hitler- oder Fahnengrußes, jede Verweigerung des Wehrdienstes und jede Beantwortung der Frage nach dem Glauben zogen Prügel – oft durch mehrere SS-Männer – nach sich. Wurden schon gesunde Zeugen und Zeuginnen durch diese Misshandlungen schwer mitgenommen, bedeuteten sie für ältere Zeugen und Zeuginnen Jehovas schnell den Tod.

Die Zeugen Jehovas hatten ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl. Praktisch alles, was legal oder illegal in die Baracken gebracht wurde, wurde in Geld- und Paketgemeinschaften solidarisch geteilt. Dies half nicht nur Minderbemittelten oder solchen, die keine Angehörigen in Freiheit hatten, sondern vermied auch Neid und Diebstahl. Da Zeugen Jehovas oft der Zugang zur Krankenversorgung verwehrt blieb, waren Kranke darauf angewiesen, von ihren Mitgläubigen gepflegt zu werden. Dies brachte den Zeugen Jehovas bei vielen Mithäftlingen Respekt ein. Auffallend waren auch die Ordnungsliebe und umfassende Hygiene-Regeln, die einen gewissen Schutz gegen Krankheiten boten. Die Ordnungsliebe wurde verschiedentlich von der SS-Leitung genutzt, um von dem Zustand der Lager ein geschöntes Bild zu vermitteln, indem nur die Bibelforscher-„Musterblöcke“ besichtigt wurden.

Kooperationen mit anderen Häftlingen bildeten die absolute Ausnahme. Die Zeugen Jehovas versuchten ihre Neutralität auch im KZ zu bewahren. Wegen ihrer glaubensbedingten Verpflichtung zur Wahrheit und Friedfertigkeit mieden sie die Häftlinge des aktiven Widerstands ebenso wie diese die Zeugen Jehovas. Kooperationen fanden auch deshalb kaum statt, weil die Lagerleitung bestrebt war, die Zeugen Jehovas wegen der unentwegten Missionierungsversuche von anderen Gefangenengruppen fern zu halten. Gelang ihnen dies nicht, kam es auch im KZ zu Bekehrungen.

Zweiter Weltkrieg 1939–1945

Am 1. September 1939 begann mit dem Polenfeldzug der Zweite Weltkrieg. Damit trat die Kriegssonderstrafrechtsverordnung vom 17. August 1938 in Kraft.

Übliches Todesurteil gegen Kriegsdienstverweigerer

Zeugen Jehovas wurden zwar schon seit 1936 von Wehrmachtsgerichten wegen Wehrdienstverweigerung verurteilt. Doch mit Kriegsbeginn wurde für die gleichen Vergehen nun statt ein bis zwei Jahren Haft die Todesstrafe das normale Strafmaß. Der Zeitpunkt, zu dem der Einzelne seine Weigerung bekanntgab, war unterschiedlich, jedoch stellte die Vereidigung vor Gott auf Hitler als absoluten Führer für das Gewissen der meisten Zeugen Jehovas ein unüberwindliches Hindernis dar. Weder die noch nicht erfolgte Gestellung noch „Wehrunwürdigkeit“ noch Dienstunfähigkeit, noch geistige Unzurechnungsfähigkeit, noch die Bereitschaft, waffenlosen Dienst zu leisten, waren für einen Zeugen Jehovas ein sicherer Schutz davor, für seine kriegsfeindliche Gesinnung voll zur Verantwortung gezogen zu werden. Die Strafe war „Tod, Verlust der Wehrwürdigkeit und dauernden Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte“.

Die von der Militärjustiz erwartete abschreckende Wirkung dieser Strafe trat bei den meist „unbelehrbaren“ Bibelforschern nicht ein. Im ersten Jahr des Krieges machten Zeugen Jehovas unter den Verfahren wegen „Zersetzung der Wehrkraft“ 14 Prozent (152 absolut) aus. Bei den wegen dieser Straftat gefällten Todesurteilen stellten sie 95,7 Prozent (112 absolut). Die in der „Bibelforscherfrage“ verunsicherten Richter wurden von Hitler im August 1942 mit dem Hinweis unter Druck gesetzt, dass es in der Tierwelt schließlich auch so sei, dass asoziale Elemente ausgemerzt würden.

Die Richter versuchten dennoch wiederholt, die Zeugen Jehovas von der Notwendigkeit des Kriegsdienstleistens zu überzeugen. Doch weder die Belehrungen von Offizieren über die Wichtigkeit des Wehrdienstes noch verlängerte Wartezeit in den Todeszellen, noch das Einwirken von Pfarrern beider Konfessionen, noch juristische Sanktionen gegen Familienangehörige, noch Scheinexekutionen, noch das Arrangieren von Familientreffs (insbesondere mit andersgläubigen Mitgliedern) zeigten die erhoffte Wirkung. Und wenn doch, wurde der Entschluss oft nachträglich widerrufen.

In ihrer Weltanschauung und unter den enormen psychischen Zwängen, die ihnen ihr Gewissen bereitete, sahen viele Bibelforscher in der Exekution eher eine Erlösung. Es gab sogar Familienangehörige die, um die geistigen Qualen ihres Ehemannes und Vaters wissend, dies ebenso sahen und den Verurteilten bei arrangierten Begegnungen zur Treue gegenüber Jehova ermunterten. Dies taten sie nicht nur in dem vollen Bewusstsein, dass es den sicheren Tod für den Ehemann bedeutete, sondern auch, dass sie sich der Wehrkraftzersetzung schuldig machten. Diese Bibelforscher glaubten, dass ihr Tod zur Rechtfertigung des Namens Jehovas beitrüge.

Dabei konnten die Zeugen Jehovas das Urteil abwenden, wenn sie sich zum Wehrdienst bereit erklärten. Sie wurden in diesem Fall in Straf- und Bewährungsbatallionen an den gefährlichen Frontabschnitten eingesetzt.

Am 15. September 1939 wurde der erste deutsche Wehrdienstverweigerer exekutiert. Er war dabei jedoch nicht nach der Kriegssonderstrafrechtsverordnung verurteilt worden, sondern hatte eine „Sonderbehandlung“ gemäß dem Runderlass vom 3. September 1939 an alle Staatspolizeistellen wegen Zersetzungsäußerungen und Kriegsdelikten erfahren. Der 29-jährige Zeuge Jehovas August Dickmann erhielt seinen Wehrpass ins KZ nachgesandt. Auf seine Weigerung hin, diesen zu unterschreiben, wurde er nicht nur – wie nach derartigen Befragungen üblich – verprügelt, sondern in Einzelhaft gebracht und schließlich vor dem gesamten Lager erschossen. Auf Grundlage dieses Runderlasses und der Kriegssonderstrafrechtsverordnung konnten Zeugen Jehovas sowohl im KZ als auch in Freiheit wegen Wehrdienstverweigerung rechtmäßig exekutiert werden.

Da nach dieser öffentlichen Hinrichtung nicht nur die „fanatischen“ Bibelforscher in ihrem Glauben gestärkt wurden, sondern sogar andere Gefangenengruppen Solidarität mit dem Erschossenen empfanden, wurden derartige „Sonderbehandlungen“ danach überwiegend abseits durchgeführt.

Die ersten Kriegsjahre 1939 und 1940 waren im KZ durch eine weitere Steigerung der Misshandlungen der Zeugen Jehovas geprägt. Mehrfach suchten sich SS-Führer einzelne Zeugen Jehovas heraus, um an ihnen eine Demonstration zu vollführen. Ziel war das Abschwören vom Glauben. Dieses Kräftemessen endete meist mit dem Tod des Bibelforschers.

Die Funktion des „Reichsdieners“ blieb nach der Inhaftierung Heinrich Dietschis bis Kriegsende unbesetzt. Die Bereiche Südwest- und Westdeutschland wurden hiernach von Ludwig Cyranek, der am 6. Februar 1940 verhaftet und am 3. Juli 1941 enthauptet wurde, Österreich von Peter Gölles, Verhaftung am 12. Juni 1940, geleitet. Die Koordination übernahm Robert Arthur Winkler aus den Niederlanden. Narciso Riet, welcher 1944/1945 in Dachau getötet wurde, und Julius Engelhard, hingerichtet am 14. August 1944, waren später für Süd- und Westdeutschland, Österreich und das Protektorat Böhmen und Mähren zuständig. Zusammen mit Wilhelm Schumann in Magdeburg und Franz Fritsche (inhaftiert Herbst 1943) in Berlin waren sie nach der Verhaftung R. A. Winklers am 21. Oktober 1942 auf die Leitung durch das europäische Zentralbüro in Bern angewiesen. Der Tätigkeitsschwerpunkt verlagerte sich zunehmend auf die Übersetzung und Versorgung insbesondere der Inhaftierten mit Literatur der Wachtturm-Gesellschaft.

Ab 1942 erhöhten sich die Überlebenschancen für Zeugen Jehovas in KZ aus mehreren Gründen. Während die KZ zunehmend mit ausländischen Häftlingen belegt wurden, wurden qualifizierte erfahrene deutsche Häftlinge rar, da sie zur Wehrmacht berufen wurden. Hatten sich die überwiegend deutschen Zeugen Jehovas bisher nicht um Vertrauensstellungen in der Häftlingsselbstverwaltung und Lagerbewirtschaftung bemüht, wurde nun auf sie zurückgegriffen. Schließlich waren die Eigenschaften der Zeugen Jehovas für die Lagerleitung von Vorteil, sofern ihr Gewissen die Tätigkeit zuließ. Ihre Gewissenhaftigkeit bei der Erledigung ihnen übertragener Aufgaben und ihre Gewaltablehnung machte sie zu verlässlichen Häftlingen, von denen weder Flucht, noch Intrigen noch Schiebungen zu erwarten waren. Wegen solcher Beobachtungen stellte der Reichsführer-SS Heinrich Himmler zeitweise Überlegungen an, Zeugen Jehovas nach dem Krieg im Osten anzusiedeln, um dort ihren Pazifismus zu verbreiten und „die russische Gefahr“ zu bannen.

Ab Ende 1944 wurden offizielle Aufzeichnungen der Lager-Verwaltungen zunehmend rar. Viele Vorgänge konnten nur noch aus mündlichen Überlieferungen von Augenzeugen erfasst werden. Zu den dramatischsten Vorgängen in dieser Zeit gehört sicherlich die planmäßige Tötung der KZ-Insassen durch die SS. Auch unter Zeugen Jehovas forderten diese Aktionen Todesopfer. Dabei gab es eine bekannte Ausnahme. In den zwei Wochen nach dem 21. April 1945 starben bei der Evakuierung des KZ Sachsenhausen von den 33.000 Lagerinsassen etwa 6.000 Personen. Den 230 Zeugen Jehovas wurde ausnahmsweise gewährt, eine Gruppe zu bilden. Ihre bereits im KZ erprobte Gemeinschaft und ihr Organisationstalent erwiesen sich auf diesem buchstäblichen Todesmarsch als lebensrettend. Die 230 Zeugen Jehovas, die diesen Marsch antraten, hatten keine Opfer zu beklagen. Die Zeugen Jehovas betrachteten dies als Rettung durch Jehova. Einige Zeugen Jehovas, die mit der Cap Arcona und der „Thielbek“ in der Neustädter Bucht untergingen, ertranken.

Anzahl der Opfer

In den 12 Jahren von 1933 bis 1945 wurden unter der Diktatur Hitlers 11.300 deutsche und ausländische Zeugen Jehovas inhaftiert. Zählt man diejenigen Personen dazu, die Geldstrafen, Rentenentzug, Misshandlungen betroffen waren, steigt die Zahl auf 13.400. 2.000 Personen davon kamen in Konzentrationslager. 950 deutsche und 540 ausländische Verfolgungsopfer überlebten die Haftbedingungen nicht, wurden getötet oder hingerichtet. Unter diesen 1.490 Toten befinden sich auch die 270 als Kriegsdienstverweigerer exekutierten Zeugen Jehovas (alle Zahlenangaben sind circa-Werte). Da die Forschungsarbeiten nicht abgeschlossen sind, werden die Zahlen immer noch nach oben korrigiert.[10]

Während der Anteil der Zeugen Jehovas in den KZ vor Kriegsbeginn durchschnittlich 5 bis 10 Prozent betrug, stellten die Zeuginnen Jehovas in vielen Frauen-KZ die größte Gruppe – im Frauen-KZ Moringen zeitweise fast 90 Prozent der Inhaftierten. Besonders belastend dürften für die Frauen auch die vielen Hundert Sorgerechtsentzüge gewesen sein. 652 Fälle sind namentlich erfasst, Zeugen Jehovas gehen insgesamt von mindestens 860 Fällen aus, aber manche Historiker schätzen die Zahl noch höher.

Wertungen

Die Verfolgung der Zeugen Jehovas im Dritten Reich hat Historiker schon zu unterschiedlichsten Schlussfolgerungen angeregt, da die Umstände und Art der Verfolgung sehr ungewöhnlich waren. Einige Historiker sahen sich veranlasst, die harte Verfolgung der Zeugen Jehovas mit der der Juden zu vergleichen, während ihnen andere eine weitgehende Kollaboration mit den Nazis unterstellen. Die Eigenarten der Zeugen Jehovas und ihrer Verfolgung, die sie von anderen Verfolgten-Gruppen unterscheidet, ließen sogar vereinzelt Uneinigkeit darüber aufkommen, ob das Bestreben, seine Religionsfreiheit gegen alle Hindernisse zu bewahren, tatsächlich dem (aktiven) Widerstand zuzuordnen sei. Schließlich wurden Jehovas Zeugen nicht vorrangig für das verfolgt, was sie taten, sondern für das, was sie ablehnten. Die Zeugen Jehovas betrachten ihre Opfer des Nationalsozialismus vorrangig als Märtyrer, denn „ein Opfer leidet [...] zumeist unfreiwillig, ein Märtyrer hingegen freiwillig.“

Nach Detlef Garbe eignen sich die Zeugen Jehovas nur bedingt für das übliche Verständnis von Widerstand im Dritten Reich:

„Die couragierte Haltung der Zeugen Jehovas [...] eignet sich als Leitbild in einer demokratisch verfassten Gesellschaft nur bedingt. Ihr Handlungsmotiv war die Loyalität zur Theokratie, nicht die Wiedererlangung von Freiheit und Demokratie.““

[11]

Weitgehend unbestritten sind jedoch folgende Besonderheiten bei der Verfolgung dieser vergleichsweise sehr kleinen Gruppe durch die Nationalsozialisten:

  • Zeugen Jehovas wurden, obwohl sie sich als unpolitisch verstanden, als erste Religionsgemeinschaft durch die Nationalsozialisten verboten und verfolgt.
  • Sie verweigerten unbeugsam ihre Zusammenarbeit mit dem Regime und erlitten hohe Verluste.
  • Ihnen wurde ein eigenes Abzeichen in den Konzentrationslagern (1 von 6) zugeteilt, während selbst Priester im Allgemeinen den politischen Häftlingen zugeordnet wurden.
  • Das NS-Regime verfolgte sie unnachgiebig, obwohl die Zeugen Jehovas nicht mehr beanspruchten, als ihren Glauben ausleben zu dürfen.
  • Nach 1942 verbesserte sich die Überlebenschance für Zeugen Jehovas in den Konzentrationslagern deutlich.
  • Zeugen Jehovas waren die einzigen Insassen der KZ, die sich durch eine Willenserklärung, in der sie ihren Glauben abschworen, hätten freikaufen können und so die KZ hätten verlassen dürfen.

Zitate

  • Die Zeugen Jehovas bewahrten sich ihre Integrität, weil sie starke religiöse Überzeugungen besaßen. Sie waren beispielhafte Kameraden, hilfsbereit, korrekt und verlässlich. (Bruno Bettelheim, amerikanischer Psychologe und ehemaliger Häftling im KZ Dachau (Quelle))
  • So stellte ich mir die ersten christlichen Märtyrer vor, wie sie in der Arena auf das Zerrissen-werden durch wilde Bestien warteten. Mit völlig verklärtem Gesicht, die Augen nach oben gerichtet, die Hände zum Gebet gefaltet und erhoben gingen sie in den Tod. Alle die dies Sterben sahen, waren ergriffen, selbst das Exekutions-Kommando war benommen. (Rudolf Höß, Lagerkommandant des KZ Auschwitz; Kommandant in Auschwitz, München, 1983)
  • Seinen Namen weiß ich nicht mehr (nach Angaben seitens der Religionsgemeinschaft, handelte es sich um deren verstorbenes Mitglied „Joachim Alfermann“[12]) ... Er gehörte keiner der herrschenden Ideologien an, war weder Nazi noch Kommunist oder Sozialist. Er gehörte zu den Zeugen Jehovas. Man konnte gar nicht genau sagen, wogegen er war. Jedenfalls faßte er kein Gewehr an. Er ließ es einfach fallen, immer wieder, gleich, welche Strafe ihm angedroht und vollzogen wurde.
    Und auch dieser ungewöhnliche Mensch hat mich nicht zum Umdenken bewegen können ... bewundert habe ich seine unglaubliche Willensstärke und mich gefragt: Wie hält er das aus? Wie schafft er das bloß?
    Günter Grass in einem FAZ-Interview mit Frank Schirrmacher u.a. zur Frage ob er Widerstand erlebt und beobachtet habe.

Literatur

  • Gerhard Besier, Clemens Vollnhals: Repression und Selbstbehauptung: Die Zeugen Jehovas unter der NS- und der SED-Diktatur, Zeitgeschichtliche Forschungen (ZGF), Duncker & Humblot, 2003, ISBN 3428106059
  • Detlev Garbe: Zwischen Widerstand und Martyrium. Die Zeugen Jehovas im „Dritten Reich“. 4. Aufl., Oldenbourg, München 1999, ISBN 3-486-56404-8 (Studien zur Zeitgeschichte 42)
  • Hans Hesse: Am mutigsten waren immer wieder die Zeugen Jehovas, Edition Temmen, 2000, ISBN 3-861-08724-3
  • Hans Hesse, Jürgen Harder: ...und wenn ich lebenslang in einem KZ bleiben müßte... Die Zeuginnen Jehovas in den Frauenkonzentrationslagern Moringen, Lichtenburg und Ravensbrück, 2001, ISBN 3-88474-935-8
  • Michael H. Kater: Die Ernsten Bibelforscher im Dritten Reich; in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 17. Jg. 1969 Heft 2
  • Bernhard Rammerstorfer: Nein statt Ja und Amen. Leopold Engleitner: Er ging einen anderen Weg, Linz 1999, ISBN 3-9500718-6-5 (Kritik)
  • Friedrich Zipfel: Kirchenkampf in Deutschland 1933–1945, Berlin 1965
  • M.J. Penton: Jehovah's Witnesses and the Third Reich, 2004, ISBN 0-802-08678-0
  • Andreas Maislinger: Internationale Bibelforschervereinigung (Zeugen Jehovas). In: Widerstand und Verfolgung in Salzburg 1934–1945. Eine Dokumentation, Band 2, S. 323–351, Wien/Salzburg 1991, ISBN 3-215-06565-7
  • Hermine Schmidt: Die Gerettete Freude. Eine junge Frau geht mutig ihren Weg in einer Zeit bitterer Verfolgung, Kopenhagen, 2007, ISBN 978-87-91953-01-9 (Die Autobiografie der Autorin, die als junge Zeugin Jehovas ab dem 5. Mai 1944 im KZ Stutthof inhaftiert war, schildert ausführlich die Situation und Schikanen in der Zeit des Nationalsozialismus, im Lager sowie den Todesmarsch.)(Zweite, revidierte Auflage)
  • Kirsten John-Stucke, Michael Krenzer, Johannes Wrobel: 12 Jahre - 12 Schicksale. Fallbeispiele zur NS-Opfergruppe Jehovas Zeugen in Nordrhein-Westfalen 1933-1945, Arbeitskreis NS-Gedenkstätten NRW e.V., 2006 (PDF)

Herausragend in der zeitgenössischen Literatur zum Thema:

  • Franz Zürcher: Kreuzzug gegen das Christentum, Zürich 1938 (bis heute von keinem Reprintverlag wieder neu herausgegeben).

Weblinks

Referenzen

  1. Wilmersdorfer Erklärung. Abgerufen am 28. Juni 2008.
  2. Anschreiben an den Reichskanzler Hitler. Abgerufen am 28. Juni 2008.
  3. Protokoll der Besprechung im Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung; Ev. Zentralarchiv, 7/Generalia XII. Nr. 161; zitiert nach Detlef Garbe: Zwischen Widerstand und Martyrium – Die Zeugen Jehovas im Dritten Reich, Oldenbourg, 1998, S. 10.
  4. Das Evangelische Deutschland. Kirchliche Rundschau für das Gesamtgebiet der Deutschen Evangelischen Kirche, Nr. 37, 10. September 1933; zitiert nach Detlef Garbe: Zwischen Widerstand und Martyrium – Die Zeugen Jehovas im Dritten Reich, Oldenbourg, 1998, S. 10; vgl. Arndt, a.a.O., S. 8.
  5. Evangelisches Zentralarchiv 1/C3/392; zitiert nach Juden-Christen-Deutsche 1, a.a.O., S. 412.
  6. Amtsblatt der Ev.-Luth. Kirche in Bayern 1934, Nr. 1845.
  7. Inge Marßolek/René Ott: Bremen im Dritten Reich. Bremen 1986, S. 495, Anm. 105; hier zitiert nach Detlef Garbe: Zwischen Widerstand und Martyrium – Die Zeugen Jehovas im Dritten Reich, Oldenbourg, 1998, S. 10.
  8. Bundesarchiv R 60 II/33, Bl. 2-5; zitiert nach Detlef Garbe: Zwischen Widerstand und Martyrium – Die Zeugen Jehovas im Dritten Reich, Oldenbourg, 1998, S. 10.
  9. http://www.auschwitz.org.pl/new/index.php?tryb=news_big&language=DE&id=1229 Seite des Staatlichen Museum Auschwitz-Birkenau Mai 2007
  10. http://www.museenkoeln.de/ns-dok_neu/homepage/JZ-NS-Verfolgung-Koeln.pdf, Seite 34
  11. Detlef Garbe: Zwischen Widerstand und Martyrium – Die Zeugen Jehovas im Dritten Reich, Oldenbourg, 1998, ISBN 3486564048, Seite 28
  12. Der Wachtturm: Ausgabe vom 15.10.2007, Seite 32.

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