- Normabweichung
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Als Devianz (von frz. dévier) oder abweichendes Verhalten werden in der Soziologie und in der Sozialen Arbeit stigmatisierte Eigenschaften (Behinderung, Hautfarbe, Kleidung) und Verhaltensweisen (Sexualität, politische, religiöse oder kulturelle Tätigkeiten) bezeichnet, die aufgrund von Etikettierungen, mittels Sozialer Kontrolle, durch Fremdzuschreibungen von einer dominanten Gruppe auf einer Minderheitengruppe oder vor dem Hintergrund amtlicher Kriterien (Moralstrafrecht, Anti-Social Behaviour Order) als Abweichung von in einer bestimmten Zeit gültigen Normen und Wertvorstellungen beurteilt werden. Die Bezeichnung eines Verhaltens als deviant ist immer mit einem Werturteil, also mit gesellschaftlichen Prozessen der Normbildung und Subjektivierung und ihren Techniken verbunden. Mit der Wirksamkeit von Normen tritt stets der soziale Tatbestand auf, dass von ihnen abgewichen wird; in diesem Sinne ist Devianz 'normal' und ein Ergebnis der Sozialisation. Devianz, die Abweichung von der Norm, begründet in den Theorien des Rechts und des Verbrechens die Delinquenz.
Inhaltsverzeichnis
Theorien
Es gibt eine Reihe von Erklärungsansätzen für deviantes Verhalten im Allgemeinen und Kriminalität im Besonderen. Starke Überschneidungen bestehen daher mit der Kriminalsoziologie; wozu sich Fachvertreter je und je zählen, kann durchaus unterschiedliche (Wert-)Haltungen gegenüber der Strafrechtspolitik signalisieren.
Überblick
Im 19. Jahrhundert dominierten vor allem biologische Erklärungsansätze. 1897 führte Émile Durkheim die Anomietheorie ein, nach der Normen und Regeln der modernen Gesellschaft nach und nach verfallen, ohne durch neue ersetzt zu werden. Diese Erosion der sozialen Ordnung führt demnach zu Angst und Unzufriedenheit.
In einer Weiterentwicklung dieses Konzeptes entstand die Spannungstheorie (Robert K. Merton, 1938), die deviantes Verhalten als Folge des Wettbewerbs von Individuen um knappe Annehmlichkeiten (Geld, Arbeitsplätze, Sexualpartner usw.) entsteht, d.h. einer Diskrepanz zwischen der Menge an verfügbaren Vorteilen und normkonformen Mitteln sie zu erreichen; da nach dieser Theorie eine Änderung der Normen und Regeln nur sprunghaft, d.h. revolutionär, erfolgen kann, wurde sie auch von marxistischen Theoretikern aufgegriffen. Die Subkulturtheorie (Albert K. Cohen 1955, Richard A. Cloward & Lloyd E. Ohlin 1960) befasst sich besonders mit kriminellem Verhalten und insbesondere der Bandenkriminalität: Demnach haben bestimmte Gruppen besonders schlechte Chancen, normkonform im Wettbewerb zu bestehen, und entwickeln Subkulturen, in denen organisiertes kriminelles Verhalten dominiert.
Der Etikettierungsansatz von Howard S. Becker (1973) erklärt die Entstehung von Devianz als Interaktion zwischen Personen mit deviantem und nicht-deviantem Verhalten: Demnach führen Stigmatisierung, Vorurteile und andere Ettikettierungen von Menschen mit Nomabweichung zu einer Verstärkung der Devianz, die schließlich in kriminelles Verhalten mündet.
Labeling Approach (Etikettierungstheorie)
Nach der Labeling Approach Theorie ist Delilnquenz bzw. abweichendes Verhalten etwas, das die so markierten Menschen von außen als deviant etikettiert. Von Devianz wird in dieser Theorie dann gesprochen, wenn zwischenmenschliches Verhalten oder kollektive Reaktionen auf den als sozial abweichend markierten Menschen dazu führen, dass dieser Mensch ("Individuum") behandelt, isoliert, bestraft oder einer "Besserung" unterzogen wird. Devianz wird als ein Prozess zwischen bestimmten Verhaltensweisen und Reaktionen der Gesellschaft auf dieses Verhalten interpretiert: ausgelöst z.B. durch soziale Kontrolle bestimmter Verhaltensweisen führt diese zu Reaktionen auf die betroffene Person oder Gruppe. Es kann zur Auflehnung gegen diese Kontrolle kommen, zur Gewöhnung an die Kontrolle und auch zur völligen Akzeptanz der Normen im eigenen Selbstbild, die durch Kontrolle auf das Individuum einwirken.
Arten
Untersucht wird die Devianz und das deviante Verhalten vor allem in der Soziologie. Hier wurden die verschiedenen Arten der Devianz herausgefiltert.
So unterscheidet man zwischen primärer und sekundärer Devianz. Die primäre Devianz bezeichnet die ursprünglich normverletzende, abweichende Handlung. Dagegen beruht die sekundäre Devianz auf einer, in der Folge dieses Verhaltens vorgenommenen Rollenzuschreibung seitens des sozialen Umfelds.
Bedeutung
Der Devianz werden sowohl eine progressive (voran bringende) als auch eine regressive (selbstzerstörerische) Bedeutung zugesprochen. Als Beispiele für progressive Devianz gelten gesellschaftliche Umwälzungen, die bestehende Normen und Werte, die ihre Gültigkeit überlebt haben, erneuern oder ersetzen. Reformation und Aufklärung stehen für diese Art von Devianz.
Als regressive Devianz nicht nur als gegen die Gesellschaft gerichtet gedeutet, sondern auch als eine zerstörerische Wirkung auf die als deviant markierte Person. Angeführt werden dazu Beispiele wie Alkoholismus.
Die Zuschreibung und Wahrnehmung von Devianz ist immer mit den herrschenden Werten und Normen einer Gesellschaft verbunden. So stellt zum Beispiel die Familie selbst einen gesellschaftlichen Mikrokosmos dar, in dem es Normen und Werte gibt, die bestimmend für den Einzelnen sind. Wenn zum Beispiel die Mitglieder der Familie streng gläubig sind und eine fundamentalistische Religionspraxis ausüben, indem sie z.B. ihre Kinder nicht am öffentlichen Schulunterricht teilnehmen lassen, werden die gesellschaftlichen Institutionen wegen deviantem Verhalten eingreifen, andererseits werden die Familienmitglieder die Gesellschaft ihrerseits als deviant empfinden. Insofern ist beim gesellschaftlichen Umgang mit dem Fremden (etwa zugewanderte Bevölkerung, aber auch psychisch Kranke) im Auge zu behalten, dass abweichendes Verhalten immer aus Sicht der herrschenden Werte und Normen definiert wird. Deutlich wird dies etwa bei der gegenwärtigen Auseinandersetzung um kopftuchtragende Musliminnen im deutschen Schuldienst, bei der das Kopftuch zum Symbol einer unerwünschten Werteordnung wird und Kopftuch tragen zunächst im öffentlichen Dienst, dann im Arbeitsbereich allgemein als deviant definiert wird (siehe: Kopftuchstreit).
Bedeutung für die Strafpraxis
Als sich im 18. und 19. Jahrhundert die "Ökonomie der Züchtigung" (Foucault: Überwachen und Strafen) "revolutionierte", entstanden neue Theorien des Rechts und des Verbrechens. Die neuen Formen der Strafpraxis bedurften einer neuen politischen und moralischen Rechtfertigung durch die Wissenschaften. Zu diesen Wissenschaften zählte die Anthropologie und die Soziologie. In diesem Rahmen nahmen Devianz-Theorien bis heute ihren Einzug in der Soziologie und der Sozialarbeit. Mit den neuen Theorien (Foucault: "Wissensformationen" / "Formierung von Wissen") über Normabweichungen und Verbrechen (Kriminologie) entstanden auch verfeinerte Disziplinierungstechniken. Die Kontrollgewalten und Sanktionsgewalten wurden nicht mehr allein von der Justiz übernommen, sondern verlagerten sich auf die Medizin, die Psychologie, die Erziehung, die Führsorge und die Sozialarbeit. Gleichzeitig rechtfertigte die Justiz ihre neue Strafpraxis durch Theorien aus der Medizin, der Psychologie, der Pädagogik und der Soziologie. Devianz-Theorien als Wissensformationen über Normalität liefern dabei Begründungen für "therapeutische" Urteile und für "Resozialisationsstrafen" im Spannungsfeld zwischen Ausschluss aus der Gesellschaft und Integration. Foucault beschreibt hierbei eine "innere Verschiebung der Richtergewalt; eine zunehmende Schwierigkeit beim Urteilen und gleichsam eine Scham vor dem Verurteilten; bei den Richtern ein rasendes Verlangen nach dem Messen, Schätzen, Diagnostizieren, Unterscheiden des Normalen und Anormalen; und der Anspruch auf die Ehre des Heilens oder Resozialisierens." [1] Neben dem Strafen durch Marter, Pranger, Gefangenschaft und anderer juristischer Sanktionen entwickeln sich Techniken, die "trösten, heilen, pflegen sollen" (Foucault), die aber gleichfalls als Techniken zur Normalisierung (Normalisierungsmacht) und damit zur Abwehr oder Resozialisierung von als deviant markierten Individuen dienen. [2]
Identitätslogik
Devianz-Theorien folgen einem identitätslogischem Konzept. Die Selbst- oder Fremddiagnose von Devianz setzt genormte Vorstellungen von dem voraus, was ich sein soll, was der Mensch sein soll. Diese Vorstellungen orientieren sich nicht nur an eine Norm, sondern auch einen Ideal. Mit der Aufstellung von Normen, die das Individuum entweder als deviant oder als der geforderten Norm entsprechend ausweisen, sind die Individuen gezwungen, sich mit bestimmten Vorstellungen zu identifizieren. In diesem Zusammenhang der Devianz folgen Identitätszuschreibungen und die Bildung der eigenen Identität den gegebenen Machtverhältnissen, die über die Mittel verfügen, Normen zu bestimmen und deren Kontrolle und Sanktion durchzusetzen. Ein bekanntes Beispiel für diese Identitätslogik ist die Frage des Richters nach dem Beruf und den Wohnort des Angeklagten. Beruf, Alter, Geschlecht, Wohnhaftsein, Nationalität werden im Zusammenhang von Kontrolle und Sanktion zu geforderten Identitäten des Befragten, der sich angesichts der Frage nach Devianz anhand zahlreicher sozialer Kategorien identifizieren muss.
Selbstbild und Fremdbild
Das Aufwerfen der Frage nach Devianz zwingt das Individuum zur Akzeptanz und Übernahme von Fremdbildern oder von vorgestellten (projektierten) Idealbildern (Idealisierungen) als Normen für sich selbst, um einer Sanktion zu entgehen. So ist es bei der Frage des Richters nach dem Beruf unwichtig, ob sich der Befragte mit seinen vielfältigen Tätigkeiten glücklich fühlt. Entscheidend ist für die Befragung, ob der Befragte eine berufliche Identität vorweisen kann. Die Ausrichtung oder Unterwerfung durch Fremdkontrolle oder Selbstkontrolle des Individuums unter den zu seiner Zeit vorgegebenen gesellschaftlichen Normen und Idealbildern bedingt einen Prozess der Identifizierung und bewirkt die Bildung des Subjekts innerhalb einer bestimmten Gesellschaft. Diese Subjektivierung des Individuums geschieht wesentlich durch die Erziehung, Führsorge, Bildung, Vermittlung von jeweils gültigem Wissen und projektiven Idealisierungen. Das führt dazu, das wir nie dem Idealbild entsprechen, dem wir meinen entsprechen zu müssen. Die Frage nach der Devianz führt hier dazu, dass wir uns ständig in Situationen der Ausnahme und der Krise befinden, in denen wir uns genötigt sehen, unser Selbstbild mit dem Idealbild abgleichen.
Gegenstände der Devianz-Theorien
Sexualität
Mit der Entstehung der Sexualität im 18. Jahrhundert in Europa war die Entwicklung einer Vielzahl von Machttechniken verbunden, denen Normen über ein gesundes, moralisches, "normales" und damit über ein erlaubtes und verbotenes Verhalten zugrunde lagen. Im Blickfeld der Kontrolle seitens der Kirche, der Wissenschaften, des Staates und der Ökonomie gerieten dabei die Familien als Keimzelle des Staates. Die Beziehungen zwischen Mann und Frau sowie zwischen Eltern und Kind wurden zentral für die Fragen um den "Gesellschaftskörper". Gegenstand der Normierungsprozesse und ihren Techniken wurden seit dem die Formen der Lüste, die Arten der Empfindungen, die Arten der Vereinigungen der Körper, der Status der Partner und die geschlechtlichen Rollenzuschreibungen, die Anzahl der Kinder, die Arbeits-, Reproduktions- und Konsumfähigkeit "der Körper" (Foucault). Der Devianz, die Abweichung der nun gültigen Normen, wurde mit den Kontroll- und Sanktionstechniken der Beichte / Seelsorge / Therapie und durch Pathologisierung, Pädagogisierung und Diziplinierung begegnet. Die an die Körper der Menschen gestellten Normen wurden vor allem bei der Frau (Fruchtbarkeit, Geburtenkontrolle) organisch eng mit Gesellschaftskörper verbunden. Gegenstand der Frage um Devianz und der Delinquenz wurden der Ehebruch, die "Beziehung mit Personen wider die Gesetze des Blutes oder Standes", "Legitimität oder Illegitimität des Vereingungsaktes", "Frühreife" von Kindern, die "Ökonomie der Lust und die Intensität der Empfindungen". Zu diesen Fragen gehörte auch die Frage nach der Perversion, in der auch die Homosexualität geriet. [3]
Gegenstand für Devianz und Delinquenz wurden Frauen in mehrfacher Hinsicht. Der Körper der Frau galt als vollkommen durch die Sexualität durchdrungen und wurde nach den "normalen" Maßstäben in beurteilt, qualifiziert und disqualifiziert. Foucault bezeichnet das Phänomen als die "Hysterisierung des weiblichen Körpers". Ihr Körper wurde pathologisiert und "in das Feld der medizinischen Praktiken integriert; und schließlich brachte man ihn in organische Verbindung mit dem Gesellschaftskörper (dessen Fruchtbarkeit er regeln und gewährleisten muß), mit dem Raum der Familie (den er als substantielles und funktionelles Element mittragen muß) und mit dem Leben der Kinder (das er hervorbringt und das er dank einer die ganze Erziehung währenden biologisch-moralischen Verantwortlichkeit schützen muß): Die >Mutter< bildet mitsamt ihren Negativbild der >nervösen Frau< die sichtbarste Form dieser Hysterisierung". [4] Von Kindern wurde behauptet, dass sie sich ganz überwiegen "sexueller Aktivitäten hingeben oder hingeben können". Sie gelten als "vorsexuelle Wesen". Dabei werden diese Aktivitäten sowohl als "natürlich" also auch als "widernatürlich" definiert. Daran werden Gefahren für das Individuum und für die Gesellschaft ausgemacht, die zum Schutz von Individuum und Gesellschaft eine Obhut verlangen. Diese Pädagogisierung der Kinder äußert sich über fast 200 Jahre "vor allem im Krieg gegen die Onanie". Kontrolle und Sanktion von Devianz in Bezug auf den "bedrohten Sexualkeim" werden den Eltern, der Familie, den Erziehern, Ärzten und später auch den Psychologen übertragen. [5]
Literatur
- Howard Saul Becker: Außenseiter. Zur Soziologie abweichenden Verhaltens. Fischer, Frankfurt am Main 1973, ISBN 3-10-874301-5.
- Émile Durkheim: Der Selbstmord. Luchterhand, Neuwied 1973, ISBN 3-472-72032-8.
- Albert Kircidel Cohen: Kriminelle Jugend. Zur Soziologie jugendlichen Bandenwesens. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1961.
- Sabine Hark: deviante Subjekte. Die paradoxe Politik der Identität; Opladen, 1996, 19992; ISBN 3810025860
- Robert King Merton: Soziologische Theorie und soziale Struktur. de Gruyter, Berlin 1995, ISBN 3-11-013021-1.
- Richard A. Cloward, Lloyd E. Ohlin: Delinquency and Opportunity. A Theory of Delinquent Gangs. Routledge & Kegan Paul, London 1961.
- Erving Goffman: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1967.
- Wolfgang Keckeisen: Die gesellschaftliche Definition abweichenden Verhaltens. Perspektiven und Grenzen des labeling approach. Juventa, München 1974
- Siegfried Lamnek: Theorien abweichenden Verhaltens. 7. Auflage, München 1999.
- Siegfried Lamnek: Neue Theorien abweichenden Verhaltens. 2. Auflage, München 1997.
Abweichende Bedeutung in der Geschichtsschreibung
"Devianz" wird auch im Bereich der historischen Forschung für Häresien und andere Abweichungen in stark durch Normierung geprägten Gesellschaften (vor allem des Mittelalters) verwendet.
Einzelnachweise
- ↑ Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M., 1977, Seite 392
- ↑ Vgl. Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M., 1977, Seite 397
- ↑ Vgl. Foucault: Der Wille zum Wissen. 1983, S. 103 ff. vgl. auch Sexualitätsdispositiv, Bio-Macht, Gouvernementalität
- ↑ Foucault: Der Wille zum Wissen. 1983, S. 103f
- ↑ Foucault: Der Wille zum Wissen. 1983, S. 104
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