Ostjudentum

Ostjudentum

In Mittel- und Osteuropa lebte jahrhundertelang die weltweit größte Zahl jüdischer Gemeinden, welche eigens geprägte und besonders intensive Formen der traditionellen jüdischen Gelehrsamkeit und religiösen Praxis ausübten.

Die ersten Juden siedelten sich im damaligen Polen und Großfürstentum Litauen im 12. Jahrhundert an. Im frühen 16. Jahrhundert lebten in Osteuropa etwa 50.000 Juden, vor allem in Polen, Litauen, in der Moldau und der Bukowina, zum geringeren Teil auch in den Ländern der böhmischen Krone mit dem Zentrum in Prag, sowie in Ungarn. Die alten Gemeinden waren im Mittelalter oft parallel und in Konkurrenz zu christlichen Siedlungen im Osten entstanden. In Posen, Krakau, Lublin, Lemberg, Vilnius besaßen die Juden Privilegien für eine weitreichende autonome Gemeindeverwaltung und so waren diese Städte zu Ballungszentren der jüdischen Bevölkerung geworden.

Ende des 18. Jahrhunderts lebten bereits etwa 1,5 Millionen Juden in Osteuropa. Teils war dieser Zuwachs der Einwanderung aus dem Westen zu verdanken, teils den günstigen Lebensbedingungen. Die Rechtssicherheit der Juden war hier größer als im Westen, und sie besaßen größere und geschlossene Siedlungsgebiete. Sie konnten weitgehend unter sich leben und waren dadurch in der Lage, ihre kulturelle Eigenständigkeit zu bewahren und zu pflegen. Die Gemeinden waren groß, aber nur wenige Juden waren vermögend. Das Spektrum der Berufe, die ihnen zugestanden wurden, war gering, und daher auch die Erwerbsmöglichkeiten.

Von hier stammten einige der wichtigsten und einflussreichsten jüdischen religiösen und erzieherischen Einrichtungen. Vor dem Überfall auf Polen 1939 lebten über 3,4 Millionen Juden in Polen, weitere 4 Millionen lebten im Gebiet der europäischen Sowjetunion. Besonders der Westen der heutigen Ukraine war jüdisch geprägt. In vielen Städten stellten Juden bis zu 30 % der Bevölkerung. In Minsk machten Juden 1897 sogar 52 % der Stadtbevölkerung aus. Insgesamt lebten in den beiden Ländern etwa 3 Mio. Juden.

Während der Shoa wurde die überwiegende Mehrheit der Juden in Osteuropa umgebracht.

Inhaltsverzeichnis

Anfänge: Chasaren und Karäer

Die Herkunft der ersten Juden, die sich in Polen und im Großfürstentum Litauen niederließen, ist umstritten. Darunter waren nicht nur aschkenasische Juden aus Westeuropa, sondern auch Chasaren und Karäer. Die Chasaren waren nomadisierende Turkstämme, deren König Bulan um das Jahr 740 zum Judentum übertrat. Die Karäer trennten sich im 8. Jahrhundert vom rabbinischen Judentum, indem sie die talmudischen und halachischen Überlieferungen verwarfen. Im 11. und 12. Jahrhundert gelangten einige Karäer von ostwärts nach Russland und von dort aus weiter westwärts nach Polen.

Im Laufe des 14. und 15. Jahrhunderts assimilierten sich die meisten chasarischen Abkömmlinge innerhalb der jüdischen Gemeinde Polens, die vorwiegend aschkenasischer Herkunft war. Die Karäer hingegen trennten sich nach und nach vollständig von den aschkenasischen Juden. In Trakai in der Nähe der litauischen Hauptstadt Vilnius gibt es bis heute eine kleine karäische Gemeinde mit Synagoge und Kulturzentrum.

Aschkenasisches Judentum

Im späten 13. und 14. Jahrhundert flohen zahlreiche Juden in verschiedenen Wellen aus Westeuropa, hauptsächlich aus Deutschland und Böhmen, nach Polen und Litauen. Im Laufe des 15. Jahrhunderts kamen zusätzliche Juden aus Böhmen hinzu.

Diese jüdischen Gemeinden behielten bis zum Holocaust ihren ausgeprägt aschkenasischen Charakter. Die Liturgie und die religiösen Traditionen der Juden aus Polen und Litauen, später auch aus Russland und der Ukraine, stützten sich auf mittelalterliche Überlieferungen, die ursprünglich aus dem französisch-deutschen Raum stammten. Außerdem waren bis zum 16. Jahrhundert die meisten führenden polnischen Rabbiner Emigranten aus dem Westen, die ihre Ausbildung in Jeschiwot in Deutschland und Böhmen erhalten hatten.

Im Gegensatz zu den sephardischen Juden, die im relativ toleranten und kulturell offenen islamischen Herrschaftsbereich zahlreiche philosophische und literarische Traditionen entwickelten, die von der umgebenden Kultur beeinflusst waren, sonderten sich die Juden in Osteuropa von der ihnen größtenteils feindlich gesinnten christlichen Umwelt mehr und mehr ab. Ihr geistiges Interesse beschränkte sich lange Zeit ausschließlich auf die rabbinische Literatur.

Doch trotz ihrer Absonderung von der christlichen Gesellschaft fanden Juden in Polen und Litauen zunächst viel mehr Sicherheit als in Westeuropa. Dies beruht in großem Maße auf Privilegien, die ihnen die polnischen und litauischen Könige gewährten. Die erste „jüdische Charta“ wurde von Herzog Bolesław V. im Jahre 1264 gewährt und ist als Vertrag von Kalisz bekannt. Die Rechte der Juden wurden im Jahre 1334 durch Kasimir den Großen mit dem Vertrag von Wiślica erweitert.

16. Jahrhundert: Goldenes Zeitalter

Im Laufe des 16. Jahrhunderts wurde Polen zu einem internationalen Zentrum rabbinischer Gelehrsamkeit. Von den polnischen Jeschiwot aus wurden jetzt Rabbiner nach Frankreich und Deutschland geschickt, so dass sich die Abhängigkeitsverhältnisse früherer Zeiten ins Gegenteil verkehrten.

Der Begründer der ersten großen Rabbinerschule in Polen war Jakob Polak. Er wurde in Bayern geboren und ausgebildet und war Oberrabbiner in Prag, bevor er nach Polen auswanderte. 1492 gründete er die erste polnische Talmud-Akademie in Krakau. Sein Schüler Schalom Schachna errichtete in Lublin die zweite polnische Jeschiwa. Während beinahe drei Jahrhunderten waren Lublin und Krakau die weltweit wichtigsten Zentren talmudischer Gelehrsamkeit. Einer der wichtigsten Schüler von Schachna war Moses Isserles (1530–1572). Nach einem Studium in der Lubliner Jeschiwa wurde er Oberrabiner von Krakau und ist als Verfasser von Anmerkungen zum Schulchan Aruch bekannt geworden.

Verfolgung und Messianismus

Viele Juden in Ostpolen und der Ukraine arbeiteten als kleine Geschäftsleute, Wirte und Steuereinzieher und nahmen deshalb eine undankbare Mittelstellung zwischen dem polnischen Adel und der ukrainischen bäuerlichen Bevölkerung ein. Verbunden mit ihrer religiösen, sprachlichen und kulturellen Abgesondertheit führte dies bald einmal zu offenen Feindseligkeiten seitens der Ukrainer. Der Aufstand des Kosakenführers Bogdan Chmelnizki 1648–1649 richtete sich einerseits gegen den polnischen katholischen Klerus und Adel, andererseits gegen die jüdische Bevölkerung, von denen in Pogromen etwa 100.000 umgebracht wurden.

Trotz dieser Rückfälle wuchs die jüdische Bevölkerung weiterhin an. Gemäß der Volkszählung von 1764 gab es fast 600.000 Juden in Polen, von denen über 60 Prozent im östlichen Teil des Landes und in der Ukraine wohnten. Doch die Hochblüte des 16. Jahrhunderts war unwiederbringlich vorbei. Die talmudische Gelehrsamkeit bestand zwar weiterhin, beschränkte sich jedoch immer mehr auf einen aristokratischen Kreis von Rabbinern und reichen Gemeindemitgliedern. Auf der anderen Seite gaben sich die ungebildeten Massen mehr und mehr einem Aberglauben hin, der von folkloristischen Überlieferungen geprägt war. Zahlreiche moralistische Bücher mit populärem Mystizismus, wie zum Beispiel Kav haJaschar („Die gerade Linie“), wurden zu dieser Zeit ins Jiddische übersetzt.

Die verstärkten antisemitischen Verfolgungen und Pogrome im 17. und 18. Jahrhundert ebneten den Boden für messianische Erwartungen, die in der Person des angeblichen Messias Shabbetaj Zvi (1626–1676), der später zum Islam übertrat, verkörpert wurden. Der berühmteste religiöse Schwärmer aus Osteuropa selbst war Jakob Frank (1726–1791), Stifter der Bewegung der Frankisten, der seinerseits zum Christentum übertrat.

Chassidim und Mitnagdim

Auf der Grundlage des wachsenden Aberglaubens und messianischer Erwartungen wuchs seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in den Regionen Podolien und Wolhynien, die damals zum Südosten Polens gehörten, die Bewegung des Chassidismus, als deren Begründer Rabbi Israel ben Elieser, genannt Baal Schem Tow („Meister des guten Namens“), gilt. Schriftliche Aufzeichnungen sind nicht vom Baal Schem Tow selbst überliefert, jedoch von einigen seiner Schüler. Zu seinen wichtigsten Anhängern gehörten Rabbi Dow Bär, genannt „Maggid von Mesritsch“, und Rabbi Jakob Josef von Polonoje, die beide eine wichtige Position als Rabbiner hatten, bevor sie von seinen mystischen Lehren angezogen wurden. Rabbi Jacob Josef prägte den Begriff des Zaddik, des gerechten Mannes, der aufgrund seiner Lebensführung als Vorbild dient. Die intime Beziehung zwischen den Zaddikim und den Volksmassen wurde zur Grundlage des chassidischen Lebens in Osteuropa. Rabbi Dow Bär führte das Modell des chassidischen Hofes ein, in dem der Zaddik als Herrscher das Leben seiner Anhänger bestimmt. Diese Lebensweise hat sich in den heutigen chassidischen Gemeinden in den USA und Israel bewahrt.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts verbreitete sich der Chassidismus in ganz Russland, Galizien und Polen und schließlich auch in Ungarn, Rumänien, Mähren und der Slowakei.

Weitgehend unbeeinflusst vom Chassidismus blieb hingegen Litauen. Dies beruhte hauptsächlich auf der feindseligen Einstellung des Gaons von Wilna, Elijah Ben Salomon Salman (1720–1797), gegenüber dieser mystischen Bewegung. Er führte zwar ein zurückgezogenes Leben und verweigerte eine offizielle Anstellung, führte aber in seinen letzten Lebensjahren den rabbinischen Widerstand gegen die Verbreitung des Chassidismus an. Er bezeichnete von chassidischen Juden geschächtetes Fleisch als unkoscher, verbot Ehen zwischen chassidischen Juden und Mitgliedern seiner eigenen Gemeinde und ließ 1794 ein Buch namens „Testament des Baal Schem Tow“ (das aber nicht vom Baal Schem Tow selbst verfasst wurde[1]) öffentlich verbrennen. Grundlage seiner Feindseligkeit gegenüber dem Chassidismus war dessen Schwerpunkt auf religiöser Ekstase auf Kosten der Gelehrsamkeit, die bisher das Zentrum des jüdischen Lebens gebildet hatte. Die Anhänger des Gaons von Wilna wurden „Mitnagdim“ (in aschkenasischer Aussprache „Misnagdim“, d.h. „Gegner“) genannt. Diese Bewegung hat sich auch nach dem Holocaust innerhalb des orthodoxen und ultraorthodoxen Judentums erhalten.

Religiöse Reaktionen auf moderne Entwicklungen

Der Einfluss des Gaons von Wilna beschränkte sich nicht auf die Entwicklung des religiösen Lebens in Litauen, sondern legte auch den Boden für die Ausbreitung des Rationalismus und der jüdischen Aufklärung. Im Gegensatz zu Westeuropa und Galizien, wo die Aufklärung oftmals zu radikalen Reformen des jüdischen Ritus und zu Assimilation führte, prägte sich in Litauen und später auch in Russland ein spezifisch jüdischer Charakter heraus, der sich in den zwei wichtigsten Bewegungen des säkularen Judentums manifestierte: Zionismus und die Kultur des Jiddischen.

In Deutschland und in Österreich-Ungarn entwickelte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts innerhalb des Judentums die Reformbewegung. In Osteuropa hingegen verzichteten die Maskilim - die jüdischen Aufklärer - von Beginn weg, hauptsächlich infolge der eindeutig antisemitischen zaristischen Politik, auf Versuche zur Assimilation. Die politischen Bewegungen des Judentums in Osteuropa fanden ihren Ausdruck stets in jiddischer oder hebräischer Sprache. Im Jahre 1897 wurden sowohl die zionistische Bewegung als auch der Bund gegründet. Auch auf orthodoxer Seite begann - als Ausdruck der Modernisierung des Lebens - die Gründung von Parteien. Als erste solche Partei entstand 1912 Agudat Yisrael („Bund Israels“), die nach dem Ersten Weltkrieg Abgeordnete in den Sejm entsandte. Sie entstand weitgehend als Reaktion auf die Bildung von Misrachi, einer religiösen zionistischen Bewegung. Zu den führenden Persönlichkeiten von Agudat Israel gehörte Abraham Mordechai Alter (1866–1948), der chassidische Rebbe von Ger, zu jener Zeit die größte chassidische Gruppe in Polen.

Trotz seiner abgesonderten Lage, insbesondere im russischen Ansiedlungsrayon, und seines ausdauernden Charakters zeigten sich im jüdischen Leben der oftmals abgelegenen Schtetl schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts Abnützungserscheinungen. Grund dafür waren einerseits die aufkommende Urbanisierung, andererseits die massive Auswanderung von Ostjuden nach Amerika, die durch staatlich gelenkte Pogrome von 1881 bis 1920 in Gang gesetzt wurde. Da die kleinen Stetl für die Pogrome sehr anfällig waren, verminderte sich die dortige Bevölkerung in dramatischer Weise. In der Zwischenkriegszeit verschwanden zahlreiche Schtetl und mit ihnen die Traditionen, die sie zu den letzten Vertretern des jüdischen religiös geprägten Lebens in Osteuropa gemacht hatte.

Siehe auch

Anmerkungen

  1. Siehe Schneur Salman von Ljadi: Das Buch Tanja, ins Deutsche übersetzt von Levi Sternglanz, Wien 2000, S. 361: „Es gilt, ‚Sprüche des Verständnisses zu begreifen‘, festgehalten im heiligen Buch Zawaat Ribasch [„Testament des R. Israel Baal Schem Tov“]', obschon es in Wahrheit keinesweg sein Testament ist, und er vor seinem Ableben nichts verfügt; es handelt sich bloß um Sammlungen seiner lauteren Aussprüche...“ ISBN 0-8266-6124-6')

Literatur

Weblinks


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