Politisches System der Republik Türkei

Politisches System der Republik Türkei

Die Türkei ist eine Republik. Nach Artikel 2 der Verfassung ist die Türkei ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat. Die Republik Türkei wurde unter der Führung Mustafa Kemal Atatürks gegründet. Ihre aktuelle Verfassung trat am 7. November 1982 in Kraft. Der gegenwärtige Präsident ist Abdullah Gül, Ministerpräsident ist Recep Tayyip Erdoğan (beide AKP).

Inhaltsverzeichnis

Historischer Kontext

Die Türkische Republik geht auf Mustafa Kemal Atatürk zurück. Am 29. Oktober 1923 proklamierte die Große Nationalversammlung der Türkei die Gründung der Republik. Der Staat basierte auf dem nach ihm benannten Kemalismus. Das Kalifat wurde abgeschafft und Religion und Staat getrennt. 1937 wurden die 6 Prinzipien des Kemalismus in der Verfassung verankert, später aber wieder aufgegeben. 1950 wurde ein Mehrparteiensystem eingeführt.

Das Türkische Militär hat sich bis heute dreimal an die Macht geputscht (1960–1961, 1971–1973 und zuletzt 1980–1983), vorgeblich um die immer wieder auftauchenden politischen Krisen zu beenden. 1997 führte eine gewaltfreie Intervention des Militärs (man bediente sich dieses Mal des Nationalen Sicherheitsrates) zum Rücktritt der Regierung Necmettin Erbakan und zum Verbot dessen Wohlstandspartei (RP) 1998.

Siehe auch: Geschichte Anatoliens, Minderheitenpolitik der Türkei

Aktuelle Situation

Heute ist die Türkei eine parlamentarische Demokratie. Die Gesetzgebung liegt bei der Großen Nationalversammlung der Türkei.

Ein wichtiges Ziel der gegenwärtigen Politik ist der Beitritt zur EU. Ein Hindernis für den Beitritt ist die umstrittene Menschenrechtssituation. Um diese zu verbessern, wurden mehrere Gesetzes- (u. a. im Strafrecht]) und Verfassungsänderungen vorgenommen.

Siehe auch: Beitrittsverhandlungen der Türkei mit der Europäischen Union

Organe

Verfassung

Hauptartikel: Türkische Verfassung von 1982

Die derzeit gültige Verfassung der Türkei wurde am 7. November 1982 verabschiedet. Demnach definiert sich die Türkei als „demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat“, der dem „Wohl der Gemeinschaft, der nationalen Solidarität und Gerechtigkeit, den Menschenrechten und dem Nationalismus Atatürks“ verbunden ist. In Artikel 5 werden die „Grundziele und -aufgaben des Staates“ definiert:

„Die Grundziele und -aufgaben des Staates sind es, die Unabhängigkeit und Einheit des Türkischen Volkes, die Unteilbarkeit des Landes, die Republik und die Demokratie zu schützen, Wohlstand, Wohlergehen und Glück der Bürger und der Gemeinschaft zu gewährleisten, die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Hindernisse zu beseitigen, welche die Grundrechte und -freiheiten der Person in einer mit den Prinzipien des sozialen Rechtsstaates und der Gerechtigkeit nicht vereinbaren Weise beschränken, sowie sich um die Schaffung der für die Entwicklung der materiellen und ideellen Existenz des Menschen notwendigen Bedingungen zu bemühen.“

Staatspräsident

Der Staatspräsident ist das Staatsoberhaupt der Türkei und fungiert als „Hüter der Verfassung“ (Art. 1, Abs. 4), der die „Anwendung der Verfassung und die ordentliche und harmonische Tätigkeit der Staatsorgane“ beaufsichtigen soll. Er wird von der großen Nationalversammlung auf fünf Jahre gewählt, eine Wiederwahl ist einmal möglich. Persönliche Voraussetzungen sind ein Mindestalter von 40 Jahren und ein abgeschlossenes Hochschulstudium. Die Kandidaten müssen nicht dem Parlament entstammen, dann allerdings von einem Fünftel der Abgeordneten unterstützt werden. Verfassungsgemäß muss das Staatsoberhaupt innerhalb von 30 Tagen in höchstens vier Wahlgängen bestimmt werden. Bei den ersten zwei Wahlgängen benötigt der Kandidat eine Zweidrittelmehrheit, bei den letzten beiden genügt eine einfache Mehrheit. Erhält auch nach dem letzten Wahlgang keiner der Kandidaten eine Mehrheit, werden Neuwahlen zum Parlament angesetzt.

Artikel 104 der türkischen Verfassung regelt die Kompetenzen des Staatsoberhauptes:

  • Er ernennt den Ministerpräsidenten und auf dessen Vorschlag auch die Minister.
  • Er ernennt drei von elf Richtern des Verfassungsgerichts allein; die übrigen wählt er aus je drei Kandidaten aus, die von den obersten Gerichtshöfen und dem Hochschulrat (YÖK) gestellt werden.
  • Er ist Vorsitzender des Nationalen Sicherheitsrates.
  • Im Namen der Nationalversammlung vertritt er den Oberbefehl über die Armee und ernennt auf Vorschlag des Ministerrates den Generalstabschef (Artikel 117).
  • Er entscheidet über den Auslandseinsatz der Armee, was jedoch einen Beschluss des Parlaments voraussetzt.
  • Bei der Gesetzgebung hat er ein materielles Prüfungsrecht.
  • Er kann die Nationalversammlung auflösen, wenn der Ministerrat von ihm nicht das Vertrauen erhält oder ihm das Vertrauen entzieht und kein neuer Ministerrat in 45 Tagen gebildet werden kann.
  • Er kann, wenn er es für erforderlich hält, sogar den Vorsitz des Ministerrates übernehmen; dies ermächtigt ihn jedoch nicht, die Tagesordnung festzulegen und die politische Initiative zu ergreifen.

Darüber hinaus besitzt der Präsident ein suspensives Vetorecht. Er kann Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin überprüfen und auch zurückzuweisen. Von diesem Recht haben die seit 1983 amtierenden türkischen Staatsoberhäupter immer wieder mal Gebrauch gemacht, was deren Position deutlich gestärkt hat. Allerdings ist es dem Parlament verfassungsgemäß trotzdem möglich, den entsprechenden Gesetzestext unverändert und endgültig durchzubringen. In diesem Fall kann der Staatspräsident aber innerhalb von sechzig Tagen eine Anfechtungsklage beim Verfassungsgericht einreichen.

Siehe dazu auch: Liste der Präsidenten der Türkei

Ministerrat

Die Regierung der Türkei wird vom Ministerrat (Bakanlar Kurulu) gebildet. Der Ministerrat besteht aus dem Ministerpräsidenten, den Ressortministern und den Staatsministern (Devlet Bakanı). Die aktuelle Regierung der Türkei stellt das Kabinett Erdoğan II seit dem 29. August 2007.

Wird der Regierung durch das Parlament das Vertrauen entzogen, muss der Ministerrat zurücktreten. Der Staatspräsident muss dann einen anderen Politiker mit der Regierungsbildung beauftragen.

Da die türkische Verfassung keine Richtlinienkompetenz für den Ministerpräsidenten kennt, steht der Ministerrat in der gemeinsamen Verantwortung gegenüber dem Parlament. Eine Besonderheit des türkischen Verfassungsrechts liegt in der Form der Übergangsregierung (Vorläufiger Ministerrat). So müssen die Minister für Inneres, Justiz und Verkehr vor allgemeinen Wahlen zurücktreten. Deren Posten werden dann vom Ministerpräsidenten an parteilose Politiker vergeben. Diese Übergangsregierung bleibt dann solange im Amt, bis das neugewählte Parlament zusammentritt. Mit dieser Vorschrift soll ein unparteiischer Verlauf der Parlamentswahlen gewährleistet werden. Die Übergangsminister haben nach ihrer kurzen, meist 2-3 Monate dauernden, Amtszeit einen Anspruch auf eine Ministerrente. Dieser Umstand wird kritisiert.[1]

Ministerpräsident

Der Ministerpräsident wird vom Staatsoberhaupt bestimmt. Die Parteien stellen hierzu Kandidaten. Der Präsident benennt denjenigen, von dem er annimmt, dass er die notwendige Parlamentsmehrheit hinter sich bringt. Wenn die Ministerliste steht, muss der Ministerpräsident diese gemeinsam mit einem Regierungsprogramm in einer Vertrauensabstimmung dem Parlament vorlegen. Wird das Vertrauen ausgesprochen, werden die Minister förmlich vom Staatspräsidenten ernannt.

Große Nationalversammlung der Türkei

Das türkische Parlament ist die Große Nationalversammlung der Türkei (Türkiye Büyük Millet Meclisi). Nach Art. 75 der Verfassung besteht sie seit 1995 aus 550 Abgeordneten. Sie wird für 4 Jahre mit einer Sperrklausel von 10 Prozent gewählt. Das Parlament kann vor Ablauf der vierjährigen Legislaturperiode Neuwahlen beschließen. Die letzten fünf Wahlen (1991, 1995, 1999, 2002 und 2007) fanden vorzeitig statt.

Die Nationalversammlung trifft die Grundsatzentscheidungen, die den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Alltag des Staatslebens steuern. Ihre Aufgaben sind:

Darüber hinaus kennt die türkische Verfassung eine ausführliche Regelung über die Unvereinbarkeit zwischen bestimmten Ämtern in der Regierung und der Justiz sowie dem Abgeordnetenmandat. Die Abgeordneten genießen Immunität.

Nach der Verfassung sind die Abgeordneten Vertreter des ganzen Volkes und nicht beispielsweise einer Partei oder Region. Parteipolitik wird über die Fraktionen in das Parlament hineingetragen. Eine Fraktion muss mindestens 20 Mitglieder haben. Der Fraktionsvorsitz wird vom Parteivorsitzenden ausgeübt, wenn er der Nationalversammlung angehört.

Die Nationalversammlung ist auch Herrin des Gesetzgebungsverfahrens. Die Gesetzesinitiativen werden in der Regel von den Abgeordneten eingebracht und müssen begründet werden. Der Staatspräsident hat zudem ein Prüfungsrecht: Er überprüft das Gesetz im Hinblick auf das Verfahren und auf seine materielle Verfassungsmäßigkeit.

Aktuelle Zusammensetzung

Siehe: Große Nationalversammlung der Türkei

Nationaler Sicherheitsrat und Militär

Die Wurzeln des Nationalen Sicherheitsrates (milli güvenlik kurulu) reichen bis in die 1940er Jahre zurück. Seit 1961 ist er auch in der Verfassung verankert. Der Nationale Sicherheitsrat fungiert als beratendes Organ in Fragen der inneren und äußeren Sicherheit. Der Rat tritt besonders dann in Aktion, wenn die Grundsätze der Türkischen Republik gefährdet scheinen - insbesondere bei der von Republikgründer Kemal Atatürk eingeführten strikten Trennung zwischen Staat und Religion (Laizismus). Die Mitglieder des Rates sind gemäß Art. 118 der türkischen Verfassung die Oberbefehlshaber von Heer, Marine, Luftwaffe und Gendarmerie, der Generalstabschef, der Ministerpräsident, seine Stellvertreter, der Außen-, der Innen-, und der Verteidigungsminister sowie als Vorsitzender des Rates der Staatspräsident.

Der Nationale Sicherheitsrat berät alle zwei Monate über die Innen- und Außenpolitik. Er wird von den Militärs dominiert. Durch seine große Autorität übt er einen erheblichen Einfluss auf die Politik aus.

Die Kontrolle der Politik durch die Militärs resultiert aus ihrem Selbstverständnis heraus. Das Militär sieht seine Aufgabe nicht nur im Schutz der äußeren, sondern auch der inneren Sicherheit und sieht sich beispielsweise als „Hüterin des Kemalismus“. Diese Sicht wird von großen Teilen der türkischen Gesellschaft akzeptiert.

Die Rolle des Nationalen Sicherheitsrats wurde jedoch durch die Reformen seit 2001 beschränkt:

  • der Nationale Sicherheitsrat trifft sich nunmehr alle zwei Monate (statt einmal pro Monat)
  • das Verhältnis von Zivilisten zu Militärs im Rat beträgt jetzt 7:5
  • er gibt nur noch Empfehlungen ab
  • das Personal wurde um ein Viertel gekürzt
  • erstmals können Nicht-Militärs den Generalsekretär stellen

Regionalverwaltung

Die Türkei wird, vor allem auf Grund des in der Verfassung festgeschriebenen „Nationalen Einheitsstaates“, zentralistisch verwaltet. Es gibt mit den Provinzen, den Landkreisen und den Gemeinden drei Verwaltungsebenen, innerhalb derer auch eingeschränkt eigene Entscheidungen getroffen werden können. Es gibt 81 Provinzen (il), deren höchster Repräsentant ein Vali (Gouverneur/Präfekt) ist. Dieser wird vom Innenminister ernannt und vom Staatspräsidenten bestätigt. Er ist auch Vorsitzender der gewählten Provinzversammlung. Die Landkreise werden von einem Kaymakam geleitet, der vom Innenminister ernannt wird. Die Bürgermeister und Dorfvorsteher werden vom Volk gewählt. Die Autonomie der unteren Verwaltungsebenen wird unter anderem durch das Fehlen eigener Geldquellen eingeschränkt.

Rechtssystem und Verfassungsgericht

Hauptartikel: Gerichtsbarkeit der Türkei

Die Türkei hat in vielen Bereichen europäisches Recht übernommen; so basiert das Zivilrecht auf den Regelungen der Schweiz. Vorbild für das türkische Strafgesetzbuch war ursprünglich das italienische Pendant. Seit den Reformen im Jahr 2005 basiert das türkische Strafrecht überwiegend auf deutschem Recht, wobei Einflüsse aus Frankreich, Italien, Polen, Russland sowie den Vereinigten Staaten von Amerika zu den Bedeutendsten zählen. Bei den Reformen flossen auch internationale Abkommen, wie etwa das Rom-Statut, mit ein.

Seit der Verfassung von 1961 gibt es ein Verfassungsgericht mit einem Senat. Die Richter werden auf Lebenszeit gewählt und sind nicht auf eine Wiederwahl angewiesen. Das Verfassungsgericht hat drei Hauptaufgaben:

  1. Die Überprüfung von Gesetzen und Verordnungen mit Gesetzeskraft (Art. 150 und 152)
  2. Die Funktion als Staatsgerichtshof (Yüce Divan) nach Art. 148 der Verfassung
  3. Das Verbot von politischen Parteien (Art. 148)

Eine Verfassungsbeschwerde, die in Deutschland über 90 Prozent der Arbeit des Verfassungsgerichts ausmacht, ist nach türkischem Recht nicht vorgesehen. Aus diesem Grunde hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte für Türken eine große Bedeutung.

Parteien

Den Anfang der türkischen Parteien bildete die Republikanische Volkspartei (CHP) von Kemal Atatürk. Ab 1950 gab es ein Mehrparteiensystem. Im türkischen Parteiensystem gab und gibt es viele Veränderungen, beispielsweise durch Verbote von Parteien durch das Verfassungsgericht; es handelt sich vor allem um islamistische Parteien. Richter, Soldaten, Schüler, Staatsanwälte und die meisten übrigen Beamten dürfen Parteien nicht beitreten. Die Parteien müssen Laizismus und Nationalismus achten, sowie ein Parteiprogramm haben, das einer freiheitlich demokratischen Ordnung entspricht.

Die wichtigsten Parteien mit mehr als 1% Stimmen bei der Parlamentswahl 2007, in der Reihenfolge des Ergebnisses:

Name und Gründungsjahr Übersetzung und Sonstiges politische Richtung und wichtige Mitglieder
Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP, 2001) Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (derzeitige Regierungspartei) gemäßigt islamisch-konservativ; Recep Tayyip Erdoğan (amtierender Ministerpräsident, Vorsitzender)
Cumhuriyet Halk Partisi (CHP, 1923) Republikanische Volkspartei (Partei von Atatürk, bis 1945 Staatspartei) kemalistisch, nationalistisch, säkulär; Deniz Baykal
Milliyetçi Hareket Partisi (MHP, 1948 als Republikanische Bauern-Volkspartei (CKMP) Partei der Nationalistischen Bewegung nationalistisch
Demokrat Parti (DP, 2007) Demokratische Partei säkular-konservativ, Nachfolgepartei der 1983 gegründeten Partei des Rechten Weges (DYP)
Genç Parti (GP, 2002) Junge Partei nationalistisch
Saadet Partisi (SP) Partei der Glückseligkeit islamistisch

Weitere Parteien, mit aktuell geringerer Bedeutung (weniger als 1% der Stimmen bei der Parlamentswahl 2007 oder nicht angetreten):

Name und Gründungsjahr Übersetzung und Sonstiges politische Richtung und wichtige Mitglieder
Anavatan Partisi (ANAP, 1983) Mutterlandspartei rechtsliberal; wollte sich im Sommer 2007 mit der DYP zur DP zusammenschließen
Demokratik Toplum Partisi (DTP, seit 2005) Partei der demokratischen Gesellschaft kurdische Partei; der PKK nahe stehend; schickte ihre Kandidaten als „Unabhängige“ in die Wahl um die 10%-Hürde zu umgehen[2]
Bağımsız Türkiye Partisi (BTP) Partei der unabhängigen Türkei islamisch-nationalistisch
Demokratik Sol Parti (DSP) Demokratische Linkspartei sozialdemokratisch; Zeki Sezer
Özgürlük ve Dayanışma Partisi (ÖDP) Partei der Freiheit und Solidarität sozialistisch

Siehe dazu auch: Liste der politischen Parteien in der Türkei

Verbotene Parteien

Seit der Gründung der Republik Türkei wurden insgesamt 28 Parteien verboten. Die Terakkiperver Cumhuriyet Fırkası wurde am 5. Juni 1925 aufgelöst und war somit die erste verbotene Partei. Das letzte Parteiverbot gab es am 13. März 2003, damals wurde die Demokratische Partei des Volkes verboten (Halkın Demokrasi Partisi).[3]

Am 14. März 2008 wurde vom Generalstaatsanwalt Abdurrahman Yalçınkaya ein Verbotsverfahren gegen die AKP beantragt. Begründet wurde das Verfahren damit, die AKP sei ein „Zentrum anti-laizistischer Aktivitäten“ geworden. Das Verfahren wurde vor dem Verfassungsgericht der Türkei geführt.[4] Der Generalstaatsanwalt forderte für 71 Personen ein Politikverbot, darunter waren der türkische Präsident Abdullah Gül, der türkische Ministerpräsident und Vorsitzende der AKP Recep Tayyip Erdoğan und der ehemalige Parlamentspräsident Bülent Arınç.[5][6]

Der stellvertretende Sprecher der deutschen Bundesregierung Thomas Steg erklärte am 17. März 2008, die AKP sei eine, aus freien, fairen und demokratischen Parlamentswahlen 2007 eindeutig als stärkste Partei hervorgegangene, eindeutig demokratische Partei. Das Vorgehen des Generalstaatsanwaltes richte sich damit auch gegen den Willen des türkischen Volkes. Die Bundesregierung habe Vertrauen in die demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien in der Türkei und gehe davon aus, dass das türkische Verfassungsgericht dem unverständlichen Antrag nicht nachkomme.[7]

Wahlsystem und Wahlen

Das Wahlsystem in der Türkei ist ein kombiniert Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht. Wie in vielen anderen europäischen Ländern existiert auch im türkischen Wahlrecht eine Sperrklausel: erhält eine Partei landesweit weniger als zehn Prozent der abgegebenen Stimmen, werden diese Stimmen auf nationaler Ebene nicht berücksichtigt. Davon betroffen sind vor allem die Parteien, welche die kurdische Minderheit im Osten und Südosten der Türkei ansprechen. Somit können auch keine Direktkandidaten gewählt werden, deren Partei unterhalb der Sperrklausel abschneidet. Ausgenommen sind jedoch unabhängige Kandidaten, die ohne Rückhalt einer Partei oder einer Liste antreten.

Von den 550 Parlamentsmandaten wird jeweils eines an jede der 81 türkischen Provinzen vergeben. Der Kandidat mit den meisten Stimmen wird für seine Provinz direkt ins Parlament gewählt, vorausgesetzt, seine Partei überspringt die 10-Prozent-Hürde. Die restlichen Mandate werden je nach Einwohnerzahl der Provinzen verteilt.

Für ausscheidende Abgeordnete gibt es kein Nachrückverfahren. Sind mehr als fünf Prozent – derzeit 28 – der Abgeordneten ausgeschieden, werden deren Mandate durch Nachwahlen neu vergeben. Diese Nachwahlen finden mindestens 30 Monate nach, und spätestens ein Jahr vor den allgemeinen Wahlen statt.

Wahlberechtigt sind grundsätzlich alle Bürger ab 18 Jahren, die ihre Stimme in allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlen abgeben können. Nicht stimmberechtigt sind jedoch:

  • Soldaten und Garnisonsoffiziere
  • Schüler einer Militärschule
  • Strafgefangene, die wegen vorsätzlich begangener Straftaten verurteilt wurden
  • beschränkt Geschäftsfähige
  • Personen, die vom öffentlichen Dienst ausgeschlossen wurden

Eine Stimmabgabe an türkischen Grenzübergängen ist möglich. Seit dem 22. März 2008 können auch im Ausland lebende türkische Staatsbürger wählen. Dabei können diese ihre Stimme bei Wahlen zum Parlament, Wahlen zum Präsidenten und bei Volksabstimmungen abgeben. Bei Parlamentswahlen können Auslandstürken nur Parteien wählen, nicht jedoch unabhängige Kandidaten. Die Wähler können dabei ihre Stimme entweder per Briefwahl, per Urnengang in einer türkischen Botschaft bzw. in einem türkischen Konsulat oder per Internet (unter Angabe der „Staatsbürgernummer“) abgeben.[8]

Wer sich ins Parlament wählen lassen möchte, muss mindestens 25 Jahre alt sein, einen Grundschulabschluss besitzen und – als Mann – den Wehrdienst abgeleistet haben. Gemäß Wahlgesetz finden Parlamentswahlen alle fünf Jahre am zweiten Sonntag im Oktober statt (ausgenommen sind außerordentliche Neuwahlen). Der Wahlkampf darf erst zehn Tage vor dem Wahltermin beginnen. Zudem besteht Wahlpflicht, wodurch die Wahlbeteiligung in der Regel sehr hoch ist. Wer nicht wählt, muss eine Strafe von umgerechnet etwa 13 Euro zahlen.

Parlamentswahlen 2002

Bei den Parlamentswahlen im Jahre 2002 schafften DYP, MHP, ANAP und DSP aufgrund der 10 %-Hürde den Einzug ins Parlament nicht. Das schlechte Abschneiden der an der Regierungskoalition von 1999 bis 2002 beteiligten Parteien DSP, ANAP und MHP lag vor allem in der schweren Wirtschaftskrise begründet, die die Türkei 2001 in eine tiefe Rezession stürzte und viele Bevölkerungsgruppen in die Armut trieb. Die AKP mit ihrem Vorsitzenden Recep Tayyip Erdoğan ging aus diesen Wahlen als der klarer Sieger hervor und errang die Mehrheit der Parlamentssitze. Die neu gegründete AKP kam auf Anhieb auf 34,4 % der abgegebenen Stimmen. Obwohl sie nur ein Drittel der Stimmen auf sich vereinigen konnte, kam sie, weil viele andere Parteien an der 10%-Hürde scheiterten, auf fast drei Viertel der Parlamentssitze (für Verfassungsänderungen wird eine Dreiviertel-Mehrheit benötigt).

Im Zuge von „Parlamentarierwanderungen“ veränderte sich das Bild im Parlament: Die Anavatan Partei erreichte mit 21 Parlamentariern Fraktionsstärke. Darüber hinaus schafften auch die SHP mit einem Abgeordneten und die DYP mit vier Abgeordneten den Einzug ins Parlament.

Wahlergebnisse
Parteien 1991 1995 1999 2002
DSP 11%/07 Sitze 15%/76 Sitze 22%/136 Sitze 1.23%/0 Sitze
MÇP/MHP 17%/62 * Sitze 8%/0 Sitze 18%/129 Sitze 8.33%/0 Sitze
HADEP/DEHAP[9] 4.2%/0 Sitze 4.7%/0 Sitze 6.14%/0 Sitze
RP/FP/SP ** 17%/62 * Sitze 21%/158 Sitze 15%/111 Sitze 2.48%/0 Sitze
ANAP 24%/115 Sitze 20%/132 Sitze 13%/86 Sitze 5.10%/0 Sitze
DYP 27%/178 Sitze 19%/135 Sitze 12%/85 Sitze 9.55%/0 Sitze
CHP 21%/88 Sitze 11%/49 Sitze 9%/0 Sitze 19.42%/177 Sitze
AKP - - - 34.41%/365 Sitze

*  1991 gingen die RP und MÇP gemeinsam in die Wahl, um die 10% zu erreichen. Ihr gemeinsames Ergebnis ist hier separat für jede Partei aufgeführt.
** 1998 wurde die RP verboten und an ihre Stelle trat die FP.

Parlamentswahlen 2007

Hauptartikel: Parlamentswahl 2007 (Türkei)

Fußnoten

  1. İsmet Paşa 3 saat garda bekledi diye, her seçim öncesi üç bakan görevden alınıyor (türkisch), Zaman online, abgerufen am 8. Mai 2007
  2. Mit „Unabhängigen“ ins Parlament, Tagesschau, abgerufen am 23. Juli 2007
  3. Anayasa Mahkemesi 45 yılda 24 partiyi kapattı (türkisch), CNNTÜRK, abgerufen am 17. März 2008
  4. Generalstaatsanwalt will Regierungspartei verbieten, Der Spiegel, abgerufen am 14.03.2008
  5. AK Parti'ye kapatılma davası (türkisch), CNNTÜRK, abgerufen am 14. März 2008
  6. Gericht prüft Verbot von Erdogans Partei AKP, Die Welt, abgerufen am 14. März 2008
  7. Justizstreit um AKP: Türkischer Staatsanwalt will Regierung verbieten lassen, Zeit online, abgerufen am 17. März 2008
  8. Seçimlerin Temel Hükümleri ve Seçmen Kütükleri Hakkında Kanunda Değişiklik Yapılmasına Dair Kanun (Gesetz Nummer 5749 über die Änderung der Grundbestimmungen der Wahlen und der Wahlregister vom 13. März 2008) (türkisch), Große Nationalversammlung der Türkei, abgerufen am 8. Mai 2008
  9. Erhard Franz: Das Parteiensystem in der Türkei, S. 34 ff (ca. 0,5 MB). In: Deutsches Übersee-Institut. 15. Februar 2003. Abgerufen am 28. Oktober 2008.

Literatur

  • Gazi Çağlar: Die Türkei zwischen Orient und Okzident: eine politische Analyse ihrer Geschichte und Gegenwart. Unrast, Münster 2004, ISBN 3-89771-016-1.

Weblinks


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