Religiöser Fundamentalismus

Religiöser Fundamentalismus
Dieser Artikel erläutert die allgemeine Bedeutung von Fundamentalismus, die philosophische erkenntnistheoretische Position wird unter Erkenntnistheoretischer Fundamentalismus erläutert.
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Fundamentalismus ist allgemein gesehen eine Überzeugung, die sich zu ihrer Rechtfertigung auf eine Grundlage beruft, die auf einer Letztbegründung beruhe.

Im weitesten Sinne wird als fundamentalistisch eine religiöse oder weltanschauliche Bewegung bezeichnet, die eine Rückbesinnung auf die Wurzeln einer bestimmten Religion oder Ideologie fordert, welche notfalls mit radikalen und teilweise intoleranten Mitteln durchgesetzt werden soll.

Inhaltsverzeichnis

Ursprung des Begriffs

Das Wort Fundamentalismus trat erstmals auf im Zusammenhang mit einer von Reuben Archer Torrey herausgegebenen Schriftenreihe "The Fundamentals A Testimony to the Truth"[1], die sich gegen liberale Theologie und insbesondere die historisch-kritische Methode wandte. Zu den Autoren gehörten namhafte konservative Theologen wie Benjamin Breckinridge Warfield. Die fünf wesentlichen Punkte ihrer Haltung wurde 1910 von der Generalkonferenz der presbyterianischen Kirche zusammengefasst:[2]

Die in den "Fundamentals" vertretene Haltung entspricht heute im Wesentlichen der evangelikalen Theologie und genügt nicht um den christlichen Fundamentalismus zu definieren. Der Fundamentalismus vertritt eine biblizistische Auslegung der Bibel, die so eng mit dem Heilsglauben verbunden ist, dass andersdenkenden Christen ihr Christsein abgesprochen wird. Ergänzend kommen dazu eine konservative politische Haltung und der Wille, religiös begründete Überzeugungen auch politisch durchsetzen zu wollen. [3]

Fundamentalistisches Denken und Konflikt mit dem Umfeld

Fundamentalismus - nicht nur der christliche, aus dem der Begriff sich ableitet - ist Ausprägung einer radikalen Denkhaltung. In dem Maße, wie eine fundamentalistische Ausprägung von Denken oder Glauben Handlungsnormen ableitet, deren individuelle und soziale Gültigkeit über den Kreis von Anhängern des jeweiligen Denkens, Glaubens oder deren Ideologie hinausgeht, ist schon durch die Art der Begründung der Normen der Konflikt mit dem Umfeld vorgezeichnet.

Fundamentalismus versteht sich in der Regel als Reaktion auf eine Aufweichung von Überzeugungen, die am Anfang des jeweiligen Glaubens oder Ideologie standen. Die Anpassung an aktuelle Lebensumstände oder den ethischen Kompromiss erscheinen in einem fundamentalistischen Weltbild als problematisch bis unmöglich. Diese Anpassungen versteht der Fundamentalismus als Verrat an dem Gründungsverständnis des Glaubens oder der Ideologie, wie es beispielsweise auch im Schmalkaldischen Krieg zu sehen ist.

In der von Max Weber beschriebenen modernen Gesellschaft folgt diese Polarisierung der Normbegründung dem Gegensatz der von ihm ebenfalls beschriebenen Konzepten einer Gesinnungsethik und einer Verantwortungsethik.

Der Fundamentalismus schafft eine Konfliktlinie, entlang derer der Begriff des Pluralismus zum Vorwurf an die Adresse derjenigen wird, die historische Anpassungsprozesse für unabdingbar ansehen. Im Gegenzug erfährt der Begriff des Fundamentalismus seine polemische Verwendung, in dem er für eine Unfähigkeit zum Kompromiss oder eine Unfähigkeit zur Anpassung an sich wandelnde Lebensumstände steht, wobei zugleich bestritten wird, dass die fundamentalistische Haltung dem Gründungsverständnis des Glaubens oder der Ideologie tatsächlich gerecht würde.

Da jeder Glaube und jede Ideologie schon durch den Prozess des Verstehens und der Aneignung durch jedes denkende und glaubende Subjekt (Hermeneutik) das Gründungsverständnis verändern und auf die historische Situation hin anpassen, gebiert jede Überzeugung in ihrer Anhängerschaft im Laufe der Geschichte Adaption und Fundamentalismus gleichermaßen.

Ob Fundamentalismus letztlich in einen Extremismus abgleitet, der um seiner Vorstellung von Wahrheit willen auch den Bruch der Rechtsordnung fordert, hängt davon ab, ob er die für säkulare Gesellschaften konstitutive Priorität des sozialen Friedens gegenüber den Überzeugungen einzelner mitträgt, obwohl dies im Grunde eine Relativierung und Beschränkung seines Anspruches bedeutet.

Aktuelle umgangssprachliche Bedeutung

Im populären Sprachgebrauch werden unter dem Begriff Fundamentalismus zuweilen unterschiedslos konservative religiöse Gruppen, gewalttätige Mitglieder einiger Volksgruppen mit mehr oder weniger religiöser Motivation, oder Terroristen zusammengefasst, was diesen Begriff heute problematisch macht. Obwohl es unter diesen Gruppentypen Überschneidungen gibt, lassen sie sich nicht prinzipiell gleichsetzen; auch büßt der Begriff an Bedeutung ein, wenn nicht auf die jeweiligen Fundamente Bezug genommen wird. Fundamentalisten charakterisiert man im allgemeinen dadurch, dass sie sich auf bestimmte konkrete Grundlagen (oder das, was sie darunter verstehen) ihrer Religion (oder gelegentlich auch im weiteren Sinne verwendet: ihrer Partei, Ideologie) beziehen und darüber keine Diskussion zulassen, mit dem Begriff sollen Intoleranz, Radikalismus und auch daraus entstehende Gewaltbereitschaft suggeriert werden, wobei dies teilweise dem selbst geäußerten Selbstverständnis der Gruppe entspricht, teilweise nicht. Abweichend von seiner eigentlichen Bedeutung wird der Begriff auch als abwertendes politisches Schlagwort gebraucht, wie z. B. bei Fundi oder Marktfundamentalismus.

Selbstverständnis und Ausrichtungen

Fundamentalismus, der als eine grundsätzliche Gegenbewegung gegen die Moderne gesehen werden kann ("Fundamentalismus ist misslungene Modernisierung. Er ist … eine Reaktion auf Modernisierungsprozesse, die mit der Vorstellung verbunden ist, der Komplexität der Moderne müsste man ganz einfache Antworten entgegensetzen.")[4], sieht die grundlegenden Prinzipien einer Religion durch Relativismus, sexuelle Selbstbestimmung, Pluralismus, Historismus, Toleranz und das Fehlen von Autorität gefährdet. Er propagiert die Rückkehr zu traditionellen Werten und striktes Festhalten an religiösen Dogmen. Ein Mittel dazu sieht er im politischen Engagement. Typisch für ihn ist, dass er die in westlichen Ländern übliche Trennung von Kirche und Staat aufgibt, um seine Ziele auch mit politischen Mitteln durchsetzen zu können.

Die fundamentalistische Weltanschauung ist in der Regel durch ein dualistisches Konzept des Niedergangs, nach dem die Anhänger des Wahren und Guten im Kampf gegen die Schlechten, das "Böse", anders Denkenden und anders Gläubigen begriffen sind, geprägt. Dazu vertreten sie eine Lehre, der zufolge Sünde weniger das persönliche Fehlverhalten, sondern eine gesellschaftliche Kraft darstellt. Dieser politisch verstandenen Sünde kann in der Konsequenz nur mit der Errichtung einer Theokratie entgegengewirkt werden.

Strittig ist insbesondere die Abgrenzung zu Anhängern konservativer oder orthodoxer Richtungen von Religionen (Orthodoxie) oder Ideologien. Diese stehen ebenfalls gegenwärtigen Entwicklungen kritisch oder ablehnend gegenüber, nehmen dabei aber eine eher moderate Haltung ein. Konservative und Orthodoxe wollen auch eher die real existierenden Traditionen ihrer unmittelbaren Vorfahren fortsetzen, während Fundamentalisten zu einem angenommenen "Urzustand" vergangener Zeiten zurücklenken zu können meinen.

Charakteristisch für den Fundamentalismus ist ferner die oft kritiklose Rezeption heiliger Texte bzw. die Ablehnung kritischer, wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit religiösen Texten (siehe Verbalinspiration).

Typisch ist auch die "Annahme einer in baldiger Zukunft bevorstehenden Weltwende", etwa durch die - buchstäblich vorgestellte - Wiederkunft Christi (christlich), die Ankunft des 12. Imam (schiitisch), die apokalyptische Endschlacht zwischen Gut und Böse oder den Beginn des Jüngsten Gerichts.

Religionssoziologisch bilden die Fundamentalisten oft kleinere Gruppen innerhalb großer Religionen, die sich von der Mehrheit absetzt, weil diese die grundlegenden Prinzipien der Religion verraten habe. Versteht man Fundamentalismus als eine Bewegung zurück zu den Quellen der Religion, so waren die Reformatoren in vergröberter Sicht ebenfalls eine Art Fundamentalisten. Islamwissenschaftler wie zum Beispiel Oliver Roy (u.a. in seinem Buch "Der islamische Weg nach Westen - Globalisierung|Entwurzelung|Radikalisierung", dt. Ausg. Pantheon 2006) unterschieden im Islamismus unter anderem einen militanten Islamismus (oder islamistischen Terrorismus) und einen Neofundamentalismus.

Solche Gruppen können theologisch Fundamentalisten sein, aber sie kommen ebenso unter neuen religiösen Bewegungen vor. (Siehe auch: Totalitarismus)

Terroristische Gruppen üben Gewalt undifferenziert gegen Unbeteiligte aus, um ihre, gewöhnlich politischen, Ziele zu erreichen. Die Motivation kann ganz oder teilweise aus einer religiösen oder ideologischen Überzeugung stammen; diese ist aber nicht notwendigerweise fundamentalistisch.

Religiöse Ausprägungen

Politische Ausprägung

Die Verwendung des Begriffes auf die Politik ist recht jung (1990er Jahre), und seine Verwendung noch problematischer als in Bezug auf Religion. Die Politik von McCarthy oder von Diktatoren entspricht in vielerlei Hinsicht der Definition von Fundamentalismus, fußt aber nicht auf einem bereits überlieferten Fundament – außer der jeweiligen Heiligen Schrift.

In der Politik wird Fundamentalismus allerdings als Problem diskutiert: Im späten 20. Jahrhundert erlangten einige fundamentalistische Bewegungen vor allem wegen ihrer Verbindung mit Gewalt und Terrorismus weltweite Aufmerksamkeit. Der sich gewaltsam äußernde Fundamentalismus wird deshalb von einigen als eines der größten weltpolitischen Probleme des 21. Jahrhunderts gesehen (siehe auch Huntingtons Theorie vom Kampf der Kulturen). Gewalttätige politische fundamentalistische Gruppen sind beispielsweise die deutsche RAF, der griechische 17. November, Al-Qaida, die libanesische Hisbollah (Hizb Allah "Partei Allahs"), der peruanische Sendero Luminoso ("Leuchtender Pfad") und die US-amerikanischen Ku Klux Klan und Jewish Defense League.

Literatur (chronologisch)

  • Thomas Meyer: Fundamentalismus: Aufstand gegen die Moderne. Reinbek bei Hamburg 1989, ISBN 3-499-12414-9
  • Martin Riesebrodt: Fundamentalismus als patriarchalische Protestbewegung: amerikanische Protestanten (1910-28) und iranische Schiiten (1961-79) im Vergleich. Tübingen 1990, ISBN 3-16-145669-6
  • Stephan H. Pfürtner: Fundamentalismus - Die Flucht ins Radikale. Herder, Freiburg 1991, ISBN 345104031X
  • Hubertus Mynarek: Denkverbot - Fundamentalismus in Christentum und Islam. 1992, ISBN 3-926901-45-4
  • Kevin Phillips: American Theocracy. The Peril and Politics of Radical Religion, Oil, and Borrowed Money in the 21st Century. Viking Books, März 2006. - ISBN 0-67003-486-X (Rezension: [2]; auch als Audiobuch erhältlich)
  • Martin E. Marty, R. Scott Appleby (Hg.): Fundamentalisms observed. (The Fundamentalism project; v. 1). University of Chicago Press, Chicago u.a. 1994, XVI, ISBN 0-226-50878-1
  • Andreas Becke: Fundamentalismus in Indien? Säkularismus und Kommunalismus am Beispiel von Ayodhya, in: Zeitschrift für Missionswissenschaft und Religionswissenschaft, 78. Jahrgang, 1994, Heft 1, S. 3-24, ISSN 0044-3123
  • Martin E. Marty, R. Scott Appleby (Hg.): Fundamentalisms and the State. Remaking Polities, Militance, and Economies. (The Fundamentalism project; v. 3). University of Chicago Press, Chicago u.a. 1996, IX, ISBN 0-226-50884-6
  • Schnabel, Eckhard J. "Sind Evangelikale Fundamentalisten?" Wuppertal; Zürich: Brockhaus, 1996. (ISBN 3-417-29067-8)
  • Hubert Schleichert: Wie man mit Fundamentalisten diskutiert, ohne den Verstand zu verlieren. München 1997, ISBN 3406419895
  • Stephan Holthaus, Fundamentalismus in Deutschland: Der Kampf um die Bibel im Protestantismus des 19. und 20. Jahrhunderts, 2. Aufl. Bonn: Verlag für Kultur und Wissenschaft, 2003. (ISBN 3-932829-85-9)
  • R. A. Torrey, A. C. Dixon (Hg.): The Fundamentals: A Testimony to the truth. Baker Books, Grand Rapids 2003 (ISBN 0-80108-750-3)
  • Manfred Brocker: Protest - Anpassung - Etablierung. Die Christliche Rechte im politischen System der USA. Frankfurt a. M./New York: Campus 2004, ISBN 3-593-37600-8
  • Karen Armstrong: Im Kampf für Gott. Fundamentalismus in Christentum, Judentum und Islam. Siedler Verlag, München 2004.
  • Clemens Six, Martin Riesebrodt, Siegfried Haas (Hg.): Religiöser Fundamentalismus. Vom Kolonialismus zur Globalisierung. StudienVerlag, Innsbruck u.a. 2004, ISBN 3-7065-4071-1
  • Martin Urban: Warum der Mensch glaubt. Von der Suche nach dem Sinn, Rankfurt 2005.
  • Der Fundamentalist, in: Mitternachtsruf, Mai 2006, S. 11-15 (PDF)
  • Gottes Wort und Teufels Einfluß, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 3. Dezember 2006, S. 63
  • Raúl Páramo-Ortega: Fundamentalisten sind immer die Anderen. Freud im Zeitalter des Fundamentalismus. (Erweiterte Fassung 2008) 2008. http://psydok.sulb.uni-saarland.de/volltexte/2008/1579/
  • Erich Geldbach: In Gottes eigenem Land. Religion und Macht in den USA. Notizen einer Reise, Berlin 2008: WDL-Verlag, ISBN 3-86682-129-8

Weblinks

Fußnoten

  1. Reuben Archer Torrey (Hrsg.): The Fundamentals: A Testimony to the truth
  2. J. I. Packer: Fundamentalism and the Word of God, London, Inter-Varsity Press, 1958
  3. Reinhard Hempelmann (Hrsg.) Panorama der neuen Religiosität, S 423ff, Gütersloh, 2005, ISBN 978-3-579-02320-5
  4. Ev. Bischof Wolfgang Huber im TAGESSPIEGEL, 8. Juli 2007 [1]

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