Sozialvertrag

Sozialvertrag

Die Vertragstheorie (engl. social contract theory, frz. théorie du contrat social) oder der Kontraktualismus ist ein Gedankenexperiment, um staatliche Rechtsordnungen moralisch und institutionell zu begründen.

Inhaltsverzeichnis

Motive

Verträge (Bünde) waren im Mittelalter eine übliche Erscheinung unter Gleichgestellten, zum Beispiel Fürsten, aber auch im noch wenig entwickelten geschäftlichen Bereich, etwa zwischen Händlern. Daneben gab es auch vereinzelt Verträge (Bünde) zwischen einzelnen Untergebenen, speziell reichen Geldgebern (Fugger, Welser) und Herrschern.

Herrschaftsordnung und Autorität wurden persönlich verstanden und beruhten möglichst auf Herkunft. Die Theorie vom Gottesgnadentum diente zur Rechtfertigung der Herrschaft. „Unfriedliche“ Wahlen waren selbst in der attischen Demokratie verpönt und in allen antiken Herrschaftsformen bevorzugte man den Vorrang der Geburt, somit herrschte auch im Mittelalter die als „friedlich“ geltende Erbfolge vor.

Durch das Christentum erfuhr der Gedanke eines „Bundes“ zwischen Herrscher und Volk – wegen seiner Parallele zum Bund zwischen Gott und seinem Volk – eine Aufwertung, welche sich aber nur langsam durchsetzte und neben welcher es auch bis zur Neuzeit die Skepsis gab, es handle sich dabei um Verschwörung (vgl. Teufelspakt). Das Unflexible einer schriftlich fixierten Ordnung stand seit der Spätantike dem Prinzip der Gnade entgegen. Gnade ließ sich nicht einfordern wie vertragliche Rechte, sondern manifestierte sich als situationsbezogene und persönliche Willkür des Herrschers, die als gütig und gerecht vorausgesetzt war. Gleichwohl wurde seit dem Spätmittelalter das fixierte Recht, das sich einfordern ließ, gegenüber der Gnade aufgewertet – und damit die schriftliche Vereinbarung.

Die Monarchomachen leiteten aus dem ungeschriebenen Vertrag zwischen Herrscher und Volk auch ein Widerstandsrecht des Volkes gegen den Herrscher ab. Ein Hauptmotiv der Vertragstheorien im 17. und 18. Jahrhundert, als das Bürgertum an Bedeutung zunahm, war es – analog zu wirtschaftlichen Verträgen – vertragliche Ordnungen zwischen Untertan und Herrscher für den politischen Bereich zu fordern.

Gedankenexperiment

Die Idee des Gesellschaftsvertrags

Vertragstheorien (auch Kontraktualismus) ermöglichten es den Theoretikern der Aufklärung den vorher herrschenden Autoritätsglauben zu ersetzen. Beim Kontraktualismus wird angenommen, dass die Individuen sich aufgrund von natürlichen Interessen aus freiem Willen zusammengeschlossen haben, um eine legitime staatliche Ordnung zu beschließen. Daraus resultieren wechselseitige Beziehungen zwischen den Individuen sowie eine Selbstverpflichtung den beschlossenen Vertrag einzuhalten.

Der in der Vertragstheorie konzipierte Gesellschaftsvertrag löste in den Schriften von Thomas Hobbes und John Locke den vorher gültigen Herrschaftsvertrag ab und versucht so, das Gewaltmonopol des Staates auf die Zustimmung der Individuen in der Gesellschaft zurückzuführen. Die Idee des Gesellschaftsvertrags ist ein Gedankenexperiment, das sich in einen argumentationsstrategischen Dreischritt gliedert: NaturzustandGesellschaftsvertragGesellschaftszustand [1].

Der Naturzustand

Der Naturzustand wird bei den jeweiligen Theoretikern (s.u.) unterschiedlich beschrieben. Thomas Hobbes geht vom Naturzustand als rechtsfreien Raum aus, in dem sich jeder mit jedem im Krieg befindet. Der Naturzustand ist bei Hobbes so unerträglich, dass alle sich wünschen, ihn aufzulösen. Der Gesellschaftszustand als Rechtsraum, in dem die Gesellschaftsmitglieder geordnet zusammenleben, stellt sich als kleineres Übel dar. Dadurch wird postuliert, dass diejenigen, die sich im Naturzustand befinden, durch einen Vertrag (also durch freiwillige Übereinkunft) in den geordneten Gesellschaftszustand übergehen. John Rawls hingegen lässt die Menschen im Naturzustand hinter einem Schleier des Nichtwissens darüber nachdenken, welche Gesellschaftsordnung aus ihrer Sicht die gerechteste ist, mit der Prämisse, dass keiner der Teilnehmenden weiß, wie und wo in der Gesellschaft er/sie später verortet sein wird.

Einschränkungen

Die Vertragstheorie behauptet nicht, tatsächliche Ereignisse zu beschreiben, sondern ist hypothetisch. Das Gedankenexperiment versucht zu zeigen, dass der rechtsfreie Raum eine Gefangenendilemma-Situation mit sich bringe, also die Unmöglichkeit gegenseitigen Vertrauens. Die Anwendung des Rechts erscheint dann als friedenssichernder Ausweg.

Rechtfertigung staatlicher Rechtsordnungen

Das Herausbrechen des Individuums und des Staates aus der mittelalterlichen Weltordnung und die daraus entstehenden Konflikte (insbesondere die Religionskriege) warfen die Frage nach dem Warum und dem Wie der politischen Ordnung mit bisher unbekannter Vehemenz auf. Eine spezifisch „moderne“ Antwort auf diese Frage ist die Vertragstheorie. Vertragstheorien oder Gesellschaftsvertragstheorien zur Rechtfertigung des Staates entstanden im 17. und 18. Jahrhundert, nachdem es bereits erste Ansätze in der griechischen Antike bei Epikur gegeben hatte.

Aus dem Naturzustand „Bellum omnium contra omnes“ führt nach dieser Sichtweise nur die Regelbindung, vorausgesetzt, dass sie von allen akzeptiert wird. Dieser (egoistische) Konsens erscheint vernünftig und von jedem gewollt.

Für die Vertragskonstruktion sind drei Dinge notwendig:

erstens der Begriff des Individuums, das dem Vertrag zustimmen soll,
zweitens der Begriff des Staates oder der Gesellschaft (Thomas Hobbes spricht vom „body politic“) als Ergebnis des Vertragsschlusses und
drittens das Denken in Ursache-Wirkung-Zusammenhängen (Kausalität), hier die Suche nach der ersten Ursache für das Entstehen eines Staatsgebildes.

Diese drei Voraussetzungen sind gleichzeitig Merkmale der Moderne, und Gesellschaftsvertragstheorien sind in diesem Sinn modern.

Die Vertragskonstruktion ist die Antwort auf die Frage: „Warum existiert der ‚body politic‘?“ im Sinne von „Wie ist er entstanden?“. Die Menschen wechseln durch den Abschluss eines Vertrages vom Naturzustand in den Gesellschaftszustand (Staat). Dabei handelt es sich allerdings um einen gedachten Prozess. Sowohl Vertragsabschluss als auch Naturzustand sind nur Vorstellungen, dass es so gewesen sein könnte.

Entwicklung seit dem 19. Jahrhundert

Im 19. Jahrhundert verloren die Gesellschaftsvertragstheorien als Legitimationstheorien an Überzeugungskraft. Im entstehenden Rechtspositivismus spielten auf vorstaatliche Legitimationsstrategien gegründete Argumentationen keine Rolle mehr.

Anfang des 20. Jahrhunderts rückten Max Webers soziologische Definitionen von Macht und Herrschaft in den Mittelpunkt.

Dass das Konzept der Vertragstheorie im 20. Jahrhundert dennoch nicht überholt war, zeigt John RawlsTheorie der Gerechtigkeit. Rawls greift die Idee des Naturzustands von Hobbes auf, indem er einen „Schleier des Nichtwissens“ annimmt. Dieser „Schleier“ verhindert, dass die Individuen ihre Position in der Gesellschaft und den Zeitpunkt, zu dem sie leben, erkennen. Konsensfähig sind daher Regeln, die immer Vorteile bringen, ungeachtet in welcher Position und in welcher Zeit sich das Individuum befindet. Die Austauschbarkeit von Position und Zeit erlaubt einen Universalisierbarkeitstest von Regeln. Der Naturzustand von John Locke und Thomas Hobbes ist nicht mit dem von Rawls beschriebenen Urzustand zu vergleichen.

Hauptsächliche Theoretiker

Zu den bekanntesten Kritikern zählt C. B. Macpherson mit Die politische Theorie des Besitzindividualismus. Von Hobbes bis Locke (dt. 1973).

Vertreter des moralischen Kontraktualismus

  • David Gauthier, Morals by Agreement (1986)
  • James M. Buchanan, The Limits of Liberty (1975)
  • Peter Stemmer, Handeln zugunsten anderer: Eine moralphilosophische Untersuchung (2000)

Kritik

Der Kontraktualismus in der von Rawls vertretenen Form ist zwar hochsystematisch ausgearbeitet, stellt aber daher entsprechend hohe Anforderungen an die beteiligten Personen, die zur Anwendung des Kontraktualismus zuvor dessen theoretische Grundlagen verstehen müssen. So müssen die Individuen kompetente Beurteiler moralischer Fragen sein, über hinreichende Intelligenz verfügen, logisch denken können, ausreichend Lebenserfahrung haben, neue Erkenntnisse berücksichtigen, persönliche Distanz wahren, zur Selbstkritik bereit sein und sich in andere hineinversetzen können. Dies sind Fähigkeiten von denen man nicht ohne weiteres erwarten kann, daß sie in der Realität erfüllt werden.[2]

Auch liegt historisch kein Fall vor, in welchem tatsächlich das kontraktualistische Modell legitimitätsbildend zur Anwendung gekommen wäre. So scheint die etwa von Kant vertretene These überzogen, daß durch kontraktualistische Handlungen ein geschichtlicher Übergang vom »status naturalis« zum »status civilis« erfolge. Hier kann von einem Bruch keine Rede sein, vielmehr gab es in allen Gesellschaften auch zuvor schon geltendes Recht, auf das sich auch in Zeiten des Übergangs (und gerade hier verstärkt) bezogen wurde, um neues Recht zu legitimieren. So erscheint eine Legitimationsschaffende Gründung allein auf der selbstverantwortlichen Person, wie der Kontraktualismus es vorschlägt, illusorisch, da stets Rechtsformen vorausgehen, die sich auch in neuen Verhältnissen fortpflanzen. [3]

Siehe auch

Literatur

Philosophiebibliographie: Vertragstheorie – Zusätzliche Literaturhinweise zum Thema

  • Aufklärung und Kritik Sonderheft 7, Schwerpunkt: Kontraktualismus. Herausgegeben von der Gesellschaft für kritische Philosophie Nürnberg, Nürnberg 2003 (einige Aufsätze online, u.a. von Jan Narveson)
  • David Gauthier: Morals by Agreement, Oxford: Clarendon Press 1986.
  • Michael von Grundherr: Moral aus Interesse. Metaethik der Vertragstheorie. de Gruyter, Berlin 2007 ISBN 978-3-11-019356-5
  • Wolfgang Kersting: Zur Logik des kontraktualistischen Arguments, in: Gerhardt, Volker (Hg.): Der Begriff der Politik. Bedingungen und Gründe politischen Handelns. Metzler, Stuttgart 1990, S. 216-237. ISBN 3-476-00692-1
  • Wolfgang Kersting: Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2005, ISBN 3-534-18953-1
  • Roland Kley: Vertragstheorie der Gerechtigkeit: eine philosophische Kritik der Theorien von John Rawls, Robert Nozick und James Buchanan. Haupt, Bern 1989, ISBN 3-258-04035-4
  • Peter Koller: Neue Theorien des Sozialkontrakts. Duncker & Humblot, Berlin 1987, ISBN 3-428-06208-6
  • Anton Leist: Moral als Vertrag? Beiträge zum moralischen Kontraktualismus. de Gruyter, Berlin 2003, ISBN 3-11-017270-4
  • T. Nagel: Equality and Partiality, Oxford University Press 1991.
  • Richard Saage: Vertragsdenken und Utopie: Studien zur politischen Theorie und zur Sozialphilosophie der frühen Neuzeit. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1989, ISBN 3-518-28377-4
  • T. M. Scanlon: The Difficulty of Tolerance, Cambridge: Cambridge University Press 2003. Review von Stephen Darwall
  • T. M. Scanlon: Contractualism and Utilitarianism, in: Amartya Sen / Bernard Williams (Hgg.): Utilitarianism and Beyond, Cambridge: Cambridge University Press 1982, 103-28.
  • T. M. Scanlon: What We Owe to Each Other, Cambridge, MA: Harvard University Press 1998.
  • T. M. Scanlon: Contractualism and What We Owe to Each Other, in: H. Pauer-Studer (Hg.): Constructions of Practical Reason: Interviews on Moral and Political Philosophy, Stanford University Press.
  • T. Schmidt: Die Idee des Sozialvertrags: rationale Rechtfertigung in der politischen Philosophie. Mentis, Paderborn 2000. ISBN 3-89785-201-2
  • Richard Schottky: Untersuchungen zur Geschichte der staatsphilosophischen Vertragstheorie im 17. und 18. Jahrhundert: Hobbes - Locke - Rousseau - Fichte; mit einem Beitrag zum Problem der Gewaltenteilung bei Rousseau und Fichte. Rodopi, Amsterdam 1995, ISBN 90-5183-908-1
  • Derek Parfit: Reasons and Persons, Oxford University Press 1984.
  • Derek Parfit: A Consequentialist Perspective on Contractualism, in: Theoria 66/3 (2000), 228-236.
  • P. Pettit: Can Contract Theory Ground Morality?, in: J.Dreier (Hg.): Contemporary Debates in Moral Theory, Blackwells 2006, 77-96.
  • T. Pogge: What We Can Reasonably Reject, in: Nous Supplement 11 (2002), 118-47.

Weblinks

Quellen

  1. vgl. Kersting, Wolfgang (1990)
  2. Vgl. Volker Gerhardt: Das politische Defizit des Kontraktualismus. in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. 714, S. 1038.
  3. Vgl. Volker Gerhardt: Das politische Defizit des Kontraktualismus. in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. 714, S. 1039.

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