Spukhafte Fernwirkung

Spukhafte Fernwirkung

Die Quantenverschränkung (engl. quantum entanglement, selten Quantenkorrelation) ist ein quantenmechanisches Phänomen. Dabei können zwei oder mehr verschränkte Teilchen nicht mehr als einzelne Teilchen mit definierten Zuständen beschrieben werden, sondern nur noch das Gesamtsystem als solches. Man kann allerdings die Abhängigkeiten zwischen den bei einer Messung auftretenden Zuständen der Einzelteilchen angeben. Dies führt zu tieferen Beziehungen zwischen den physikalischen Eigenschaften (Observablen) der Systeme, als sie von der klassischen Physik bekannt sind (siehe dazu EPR-Effekt).

Inhaltsverzeichnis

Überblick

Infolge der Möglichkeit der Quantenverschränkung bestimmt sich der Gesamtzustand eines zusammengesetzten Systems im Allgemeinen nicht durch die Zustände seiner Teilsysteme, d. h., er separiert nicht in Teilzustände. Die Verschränkung ist eine Konsequenz des Superpositionsprinzips. Im Gegensatz zur klassischen additiven Superposition (Überlagerung von klass. Wellenbergen und -tälern → Interferenz) implizieren hier zusätzlich die (multiplikativen) Mischungen von nichtkommutierenden (nicht kommutativ vertauschbaren) Zuständen (komplexen Wellenfunktionen bzw. Vektoren im Hilbert-Raum) weitere Mischzustände. Für räumlich getrennte Teilsysteme wird sie zur Quanten-Nichtlokalität, d. h. dass der Zustand des verschränkten Systems nicht lokalisiert ist, sondern sich über das gesamte, räumlich verteilte System erstreckt. Ursprünglich nur für mikroskopische Systeme als relevant vermutet, ist sie in jüngerer Zeit über makroskopische Distanzen und für mesoskopische Systeme direkt nachgewiesen worden. Das Gesamtsystem, bestehend aus vielen miteinander wechselwirkenden Teilen (Teilchen oder Wellenfunktionen), ist somit mehr als die bloße Summe seiner Teile (siehe Holismus)!

Wegen der Wahrscheinlichkeitsinterpretation der Quantentheorie ist die Verschränkung lange als rein statistische Korrelation missverstanden und daher quasi verniedlicht worden, selbst von Schrödinger, der den Begriff prägte. Verschränkte Zustände beschreiben individuelle Eigenschaften (wie etwa den Gesamtdrehimpuls) eines Systems von zwei (oder mehr) Teilchen. Die Tragweite des Begriffes hat anscheinend erst Albert Einstein 1935 in der mit dem EPR-Effekt verbundenen Arbeit erkannt, obwohl er die wahre Bedeutung fehlinterpretierte (s. u.). Die reale Bedeutung der Verschränkung ist erst dadurch bestätigt worden, dass John Bell 1964 feststellte, dass die Quantenmechanik die von ihm aufgestellte berühmte Bellsche Ungleichung verletzt. Dadurch wird, im Gegensatz zu den Grundannahmen Einsteins, eine noch unbekannte, durch verborgene Variablen beschriebene „lokale Realität“ ausgeschlossen.

Die Quanten-Nichtlokalität bedarf daher auch keiner (in Einsteins Worten) spukhaften Fernwirkung; ebenso wenig bedarf die sogenannte Quantenteleportation der Portation von irgendetwas. Dies bedeutet, dass das Phänomen der Verschränkung nicht auf sogenannten verborgenen Variablen beruht, die wir nur nicht zu entdecken vermögen.

Die Tatsache, dass die Verschränkung (im Gegensatz zur klassischen Physik) keine lokal-realistische Interpretation zulässt, bedeutet, dass entweder die Lokalität aufgegeben werden muss (etwa, wenn man der nichtlokalen Wellenfunktion selber einen realen Charakter zubilligt – das geschieht insbesondere in Kollapstheorien, in der Everettschen oder der Bohmschen Quantenmechanik) oder das Konzept einer mikroskopischen Realität – oder aber beides; am radikalsten wird diese Abkehr vom klassischen Realismus in der Kopenhagener Interpretation vertreten; nach dieser Interpretation, die bei den Physikern seit Jahrzehnten als „Standard“ gilt, ist die Quantenmechanik weder „real“ – da eine Messung den Zustand nicht feststellt, sondern präpariert – noch „lokal“ – weil der Zustandsvektor |\psi\rangle die Wahrscheinlichkeitsamplituden gleichzeitig an allen Stellen festlegt, z. B. |\psi\rangle \to\psi(x,y,z).

Geschichte

Die Möglichkeit der Verschränkung gehört wohl zu denjenigen Konsequenzen der Quantenmechanik, die den meisten Widerstand gegen diese Theorie als solche erzeugte. Einstein, Podolski und Rosen formulierten 1935 das EPR-Paradoxon, nach dem Quantenverschränkung zur Verletzung des klassischen Prinzips des lokalen Realismus führen würde, was von Einstein in einem berühmten Zitat als „spukhafte Fernwirkung“ bezeichnet wurde.

Auf der anderen Seite konnten die Vorhersagen der Quantenmechanik höchst erfolgreich experimentell belegt werden, sogar Einsteins „spukhafte Fernwirkung“ wurde beobachtet. Viele Wissenschaftler führten dies irrtümlicherweise (s. u.) auf unbekannte, deterministische „verborgene Variablen“ zurück, die dem lokalen Realismus unterworfen seien, aber zugleich alle Quantenphänomene erklären könnten.

1964 zeigte John Bell, dass die Effekte der Quantenverschränkung experimentell von den Ergebnissen der auf verborgenen Variablen basierenden Theorien unterschieden werden können (siehe Bellsche Ungleichung). Seine Ergebnisse wurden durch weitere Experimente bestätigt, so dass die Quantenverschränkung heute weitestgehend als physikalisches Phänomen anerkannt ist. Er veranschaulichte Verschränkung und EPR-Effekt anhand des Vergleichs mit Bertlmanns Socken.

Dennoch ist eine nichtlokale realistische Interpretation mit verborgenen Variablen möglich (s. Bohmsche Mechanik). Erst eine Verschärfung der Bellschen Ungleichung nach Leggett, in der eine Forschungsgruppe um Anton Zeilinger[1] eine weitere Verletzung gefunden haben will, zeigt anscheinend, dass eine realistische Interpretation der Quantenmechanik unmöglich ist. Es muss jedoch abgewartet werden, bis dies von anderen Wissenschaftlern bestätigt wird.

Unterdessen hat eine Gruppe der Universität Genf um Nicolas Gisin[2] der Geschwindigkeit der „spukhaften Fernwirkung“ eine untere Grenze gesetzt: Die Gruppe konnte im Experiment zeigen, dass zwei verschränkte Photonen bezüglich verschiedener Eigenschaften, u. a. der Polarisation, wenigstens mit 10.000-facher Lichtgeschwindigkeit kommunizieren.

Informationsübertragung

Wenn auch nicht buchstabengetreu, so gehorcht die Verschränkung doch dem Geist der Relativitätstheorie. Zwar können verschränkte Systeme auch über große räumliche Entfernung miteinander wechselwirken, dabei kann aber keine Information übertragen werden, so dass die Kausalität nicht verletzt ist. Dafür gibt es zwei Gründe:

  • Quantenmechanische Messungen sind probabilistisch, d. h. nicht streng kausal.
  • Das No-Cloning-Theorem verbietet die statistische Überprüfung verschränkter Quantenzustände.

Zwar ist Informationsübertragung durch Verschränkung allein nicht möglich, wohl aber mit mehreren verschränkten Zuständen zusammen mit einem klassischen Informationskanal (Quantenteleportation). Trotz des Namens können wegen des klassischen Informationskanals keine Informationen schneller als das Licht übertragen werden.

Erzeugung verschränkter Systeme

Verschränkte Photonen können durch die sogenannte parametric down-conversion in nichtlinear optischen Kristallen erzeugt werden. Dabei wird aus einem Photon mit hoher Energie im Kristall ein verschränktes Paar von Photonen mit niedrigerer Energie (der Hälfte der Energie des Ursprungsphotons) erzeugt. Die Richtungen, in die diese beiden Photonen abgestrahlt werden, sind miteinander und mit der Richtung des eingestrahlten Photons korreliert, so dass man derartig erzeugte verschränkte Photonen gut für Experimente (und andere Anwendungen) nutzen kann.

Bestimmte Atomsorten kann man mit Hilfe eines Lasers derart anregen, dass sie bei ihrer Rückkehr in den nichtangeregten Grundzustand ebenfalls ein Paar verschränkter Photonen abstrahlen. Diese werden jedoch mit gleicher Wahrscheinlichkeit in jede beliebige Raumrichtung abgestrahlt, so dass sie nicht sehr effizient genutzt werden können.

Bei Photonen bezieht sich die Verschränkung meist auf die Polarisation der Photonen. Misst man die Polarisation des einen Photons, ist dadurch die Polarisation des anderen Photons festgelegt (z. B. um 90° gedreht).

Bei Atomen bezieht sich die Verschränkung auf deren Spin. Regt man ein zweiatomiges Molekül mit einem Spin von null mit einem Laser derart hoch an, dass es zerfällt (dissoziiert), sind die beiden freiwerdenden Atome bezüglich ihres Spins verschränkt. Bei einer entsprechenden Messung wird eines von ihnen den Spin +1/2 zeigen, das andere −1/2. Es ist aber nicht vorhersagbar, welches der beiden Atome den positiven und welches den negativen haben wird. Misst man aber den Spin eines der beiden Atome, wird dadurch der Spin des anderen festgelegt.

Anwendungen

Quantenkryptografie: Sicherer Austausch von Schlüsseln zwischen zwei Kommunikationspartnern zur verschlüsselten Übermittlung von Information. Der Austausch ist sicher, weil es nicht möglich ist, ihn ohne Störung abzuhören. Die austauschenden Partner können daher ein „Mithören“ beim Schlüsselaustausch bemerken.

Quantencomputer: Bei Berechnungen mittels Qubits auf einem Quantencomputer wird bei manchen Algorithmen die Verschränkung von Qubits untereinander genutzt. Mit Quantencomputern können solche Probleme gelöst werden, die mit konventionellen Computern zwar prinzipiell lösbar sind, jedoch mit nichtrealisierbarem Zeitaufwand.

Mathematische Betrachtung

Die folgende Diskussion setzt Kenntnisse in der Bra-Ket-Notation und der allgemeinen mathematischen Formulierung der Quantenmechanik voraus.

Es seien zwei Systeme A und B mit den Hilbert-Räumen {\mathcal H}_{\rm A} und {\mathcal H}_{\rm B} gegeben. Der Hilbert-Raum des zusammengesetzten Systems ist {\mathcal H}_{\rm A} \otimes {\mathcal H}_{\rm B}. Das System A sei im reinen Zustand |\psi\rangle_{\rm A} und System B im reinen Zustand |\phi\rangle_{\rm B}. Dann ist der Zustand des zusammengesetzten Systems ebenfalls rein und gegeben durch

|\psi\rangle_{\rm A} \; |\phi\rangle_{\rm B}.

Reine Zustände, die sich in dieser Form schreiben lassen, nennt man separabel.

Wählt man Orthonormalbasen \{|i\rangle_{\rm A}\} und \{|j\rangle_{\rm B}\} der Hilbert-Räume {\mathcal H}_{\rm A} und {\mathcal H}_{\rm B}, dann kann man die Zustände nach diesen Basen entwickeln und erhält mit komplexen Koeffizienten ai und bj

|\psi\rangle_{\rm A} \; |\phi\rangle_{\rm B} = \left( \sum_i a_i |i\rangle_{\rm A} \right) \left( \sum_j b_j |j\rangle_{\rm B} \right).


Ein allgemeiner Zustand auf H_A \otimes H_B hat die Form

\sum_{i,j} c_{ij} |i\rangle_{\rm A} \; |j\rangle_{\rm B}.

Die separablen Zustände von H_A \otimes H_B sind die, deren Koeffizienten die Darstellung ci,j = aibj erlauben, also die wie oben faktorisiert werden können. Ist ein Zustand nicht separabel, so nennt man ihn verschränkt.

Zum Beispiel seien zwei Basisvektoren \{ | 0 \rangle_{\rm A}, | 1 \rangle_{\rm A} \} von {\mathcal H}_{\rm A} und zwei Basisvektoren \{ | 0 \rangle_{\rm B}, | 1 \rangle_{\rm B} \} von {\mathcal H}_{\rm B} gegeben. Dann ist der folgende Zustand, der sog. „Singulett-Zustand“, verschränkt:[3]

{1 \over \sqrt{2}} \Big( |0\rangle_{\rm A} |1\rangle_{\rm B} - |1\rangle_{\rm A} |0\rangle_{\rm B} \Big).

Wenn das zusammengesetzte System in diesem Zustand ist, haben weder A noch B einen bestimmten Zustand, sondern ihre Zustände sind überlagert und die Systeme sind in diesem Sinne verschränkt.

Man nehme an, Alice beobachte System A, Bob System B. Wenn Alice die Messung ΩA durchführt, können mit gleicher Wahrscheinlichkeit zwei Ergebnisse auftreten:

  1. Alice misst 0, und der Zustand des Systems kollabiert zu  |0 \rangle_{\rm A} |1\rangle_{\rm B} .
  2. Alice misst 1, und der Zustand kollabiert zu |1\rangle_{\rm A} |0\rangle_{\rm B} .

Im ersten Fall wird jede weitere Messung ΩB durch Bob immer 1 ergeben, im zweiten Fall immer 0. Also wurde das System durch die von Alice durchgeführte Messung verändert, auch wenn A und B räumlich getrennt sind. Hier liegt das EPR-Paradoxon begründet, und auch die sog. Quantenteleportation.

Das Ergebnis von Alices Messung ist zufällig, sie kann nicht den Zustand bestimmen, in den das System kollabiert, und kann daher durch Handlungen an ihrem System keine Informationen zu Bob übertragen. Eine mögliche Hintertür: Sollte Bob mehrere exakte Duplikate der Zustände machen können, die er empfängt, könnte er auf statistischem Weg Informationen sammeln – das No-Cloning-Theorem verbietet aber das Klonen von Zuständen. Daher wird – wie oben erwähnt – die Kausalität nicht verletzt.

Siehe auch

Literatur

  • Helmut Fink: Interpretation verschränkter Zustände: Die Quantenwelt – unbestimmt und nichtlokal? In: Physik in unserer Zeit. Band 35, Nr. 4, 2004, S. 168–173, ISSN 0031-9252.
  • Anton Zeilinger: Einsteins Schleier – Die neue Welt der Quantenphysik. 2005, ISBN 3-442-15302-6.
  • Anton Zeilinger: Einsteins Spuk – Teleportation und weitere Mysterien der Quantenphysik. 2005, ISBN 3-570-00691-3.
  • Jürgen Audretsch: Verschränkte Systeme - die Quantenphysik auf neuen Wegen. Wiley-VCH, Weinheim 2005, ISBN 3-527-40452-X
  • Ingemar Bengtsson, Karol Zyczkowski: Geometry of quantum states - an introduction to quantum entanglement. Cambridge Univ. Pr., Cambridge 2006, ISBN 0-521-81451-0
  • Andreas Buchleitner, (et al.): Entanglement and decoherence -foundations and modern trends. Springer, Berlin 2009, ISBN 978-3-540-88168-1

Weblinks

Quellen

  1. Simon Gröblacher, Tomasz Paterek, Rainer Kaltenbaek, Caslav Brukner, Marek Zukowski, Markus Aspelmeyer, Anton Zeilinger: An experimental test of non-local realism. In: Nature. 446 (2007) 871-875 [1]
  2. Daniel Salart, Augustin Baas, Cyril Branciard, Nicolas Gisin, Hugo Zbinden: Testing the speed of 'spooky action at a distance'. In: Nature. 454 (2008) 861-864 [2]
  3. verschränkt wäre auch der sog. „Triplett-Zustand“, bei dem das Minus-Zeichen durch ein Plus-Zeichen ersetzt ist

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