Staatsableitungsdebatte

Staatsableitungsdebatte

Unter Staatsableitung, auch Staatsableitungsdebatte versteht man seit den 1970er Jahren Versuche innerhalb des Marxismus bzw. Neomarxismus, die Entstehung, Existenz, Notwendigkeit und Ausprägung von Staat und Recht der bürgerlichen Gesellschaft aus dem ökomomischen System heraus zu erklären. Daher die Beziehung zwischen Ökonomie und Politik aus der Struktur der kapitalistischen Produktion abzuleiten (Vgl. Basis und Überbau).

Die Debatte wurde als ein Zweig der neuen Marx-Lektüre vor allem im akademischen Raum geführt, war aber auch durch die damalige politische Situation geprägt. Teile der politischen Linken hatten, nachdem 1969 in der Bundesrepublik Deutschland die sozial-liberalen Koalition die Regierung übernommen hatte, Hoffnungen auf gesellschaftliche Reformen und strebten einen Marsch durch die Institutionen sowie die Reformierung der Gesellschaft durch den Staat an.

Die Staatsableitung faßt den Staat dagegen weder als ein Subjekt auf, noch als ein Instrument, das sich eine bestimmte Gruppe oder Klasse aneignen könnte. Stattdessen ist der Staat „ein struktureller Bestandteil des kapitalistischen Produktionsverhältnisses selbst, seine besondere politische Form. Die kapitalistischen Klassen- und Ausbeutungsbeziehungen sind so gestaltet, dass die ökonomisch herrschende Klasse nicht unmittelbar politisch herrschen kann, sondern ihre Herrschaft sich erst mittels einer von den Klassen relativ getrennten Instanz, des Staates, realisieren kann. Gleichzeitig bleibt der Staat der Struktur- und Funktionslogik der kapitalistischen Gesellschaft unterworfen. Er ist keine Instanz, die außerhalb des Kapitals steht. Der bürgerliche Staat ist also Klassenstaat, ohne das unmittelbare Instrument einer Klasse zu sein. Und eben diese ‚Besonderung‘ oder ‚relative Autonomie‘ des Staates ist die Basis der Staatsillusion.“ (Joachim Hirsch)[1]

Es wurde eingewandt, dass sich die Ableitungsversuche „zumeist im begriffslogischen Streit um die Auslegung der marxistischen Klassiker“ bewegten und nicht vermochten, „die notwendige Vermittlung von der allgemeinen Ebene der Formbestimmung zur konkreten Analyse der Realität kapitalistischer Staaten zu liefern.“[2]

Ein Vorläufer der Staatsableitung war der Rechtswissenschaftler Jewgeni Bronislawowitsch Paschukanis, welcher bereits in den 1920er Jahren die Rechtsform aus der Warenform abgeleitet hatte. Als wichtige Autoren seit 1970 gelten Wolfgang Müller, Christel Neusüß, Bernhard Blanke, Ulrich Jürgens, Hans Kastendiek und Joachim Hirsch.

Einzelnachweis

  1. Interview in Arranca 2002
  2. „Ableitung“ von Schultze, Rainer-Olaf; in: Nohlen, Dieter; Schultze, Rainer-Olaf; Lexikon der Politikwissenschaft. Theorien, Methoden, Begriffe, 2. Aufl. (2004)

Literatur

  • Wolfgang Müller, Christel Neusüß (1970): Die Sozialstaatsillusion und der Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital, in: Sozialistische Politik Nr. 6/7
  • Bernhard Blanke, Ulrich Jürgens, Hans Kastendiek (1974): Zur neueren marxistischen Diskussion über die Analyse von Form und Funktion des bürgerlichen Staates, in: PROKLA 14/15
  • Projekt Klassenanalyse: Oberfläche und Staat : Kritik neuerer Staatsableitungen (Altvater, Braunmühl u.a., Flatow/Huisken, Läpple, Marxistische Gruppe Erlangen), VSA, Westberlin 1974
  • Kostede, Norbert (1976): Die neuere marxistische Diskussion über den bürgerlichen Staat. Einführung – Kritik - Resultate. In: Gesellschaft. Beiträge zur Marxschen Theorie 8/9, S. 150-196
  • Rudel, Gerd (1981): Die Entwicklung der marxistischen Staatstheorie in der Bundesrepublik, Frankfurt a.M., New York
  • Ingo Elbe (2008): Marx im Westen. Die neue Marx-Lektüre in der Bundesrepublik seit 1965, Berlin, ISBN 978-3-05-004470-5

Weblinks


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