- Stammtischparole
-
Ein Gerücht (hochsprachlich die „Fama“) ist eine unverbürgte Nachricht, die meist mündlich verbreitet wird und sich dabei auf eine charakteristische Art und Weise verändert.
Inhaltsverzeichnis
Entstehung und Verbreitung des Gerüchts
Das Gerücht wurzelt in einer stark subjektiv gefärbten Wahrnehmung, in einer Vermutung, einem Missverständnis oder auch einer boshaften Absicht seines Schöpfers oder seiner Schöpferin und wird von ihnen und durch weitere Personen über Klatsch und Tratsch verbreitet und so in die Welt gesetzt, ggf. auch in den Massenmedien. Je größer der Neuigkeitswert, der Sensationsgrad oder die persönliche Betroffenheit der Gerüchteverbreiter sind, um so schneller kommt es in Umlauf. Zunächst wird die Empfänglichkeit des Gegenübers für das Gerücht getestet, oft in einer verschwörerischen Grundhaltung und mit der eindringlichen Bitte an den Gesprächspartner, es möglichst niemandem weiterzuerzählen. Personen, von denen das Gerücht handelt, erfahren dessen Inhalt meist sehr spät, weil sie von der Gerüchtekommunikation ausgegrenzt werden; ihre Versuche, das Gerücht aufzuhalten oder es richtig zu stellen, sind in der Regel erfolglos, da der Wahrheitsgehalt von Gerüchten nur selten in Frage gestellt oder überprüft wird.
Rahmenbedingungen der „Gerüchteküche“
Das Gerücht lebt von dem Spannungsverhältnis, ob es denn nun wahr oder unwahr ist. Daher erweckt es Interesse und erregt Aufmerksamkeit. Trifft es auf in Gruppen, Organisationen oder Gesellschaften vorhandene Bedürfnisse, Hoffnungen, Erwartungen, Unsicherheiten, Misstrauen, Befürchtungen, Ängste und Bedrohungen, fällt ein Gerücht auf einen nahrhaften Boden; es scheint für Momente Orientierung und Klärung zu bieten.
Ein Gerücht bedient zudem soziale Bedürfnisse nach Nähe und Übereinkunft. Durch das Teilen eines vermeintlichen Geheimnisses wird kurzzeitig so etwas wie eine Gemeinschaft der Wissenden hergestellt, die über gemeinsam geteilte Gefühle wie der Schadenfreude oder moralischer Entrüstung gestärkt wird. Darüber festigen sich vorhandene informelle Normen.
Die Veränderungen von Gerüchten durch ihre Verbreitung
Feldversuche, in denen man bewusst Gerüchte in Umlauf brachte, ergaben, dass an der verformenden Weitergabe von Gerüchten bestimmte Personen einer Population in besonderem Ausmaß beteiligt sind. Eine große Rolle spielen deren Glaubwürdigkeit und Autorität. F. C. Bartlett (1932) konnte mit der Methode der Kettenreproduktion Tendenzen der Gerüchtbildung modellieren. Diese sind:
- Vereinfachung,
- Strukturierung,
- Dramatisierung,
- Detaillierung und
- Schuldzuweisung.
Gerüchte in Volkserzählungen
Das Gerücht wird von der volkskundlichen Erzählforschung als eine eher exotische Gattung der Volksprosa betrachtet. Es ist meist kurz und direkt, die Mitteilung erfolgt oftmals in der dritten Person und bezieht sich für gewöhnlich auf etwas bereits Geschehenes. Charakteristische Textrahmen wie „Ich habe gehört, dass …“ zu Beginn oder „Ist das nicht ein Ding?“ am Ende des Erzählten liegen sowohl im fragwürdigen Wahrheitsgehalt als auch in der moralischen Ambivalenz begründet. Das Gerücht steht in besonderer Relation zur Sage.
Verwandte Begriffe
- Als Flüsterpropaganda bezeichnet man einen Vorgang, bei dem meist durch die Politik geheim gehaltene Vorkommnisse weitererzählt werden und so langsam unter die Bevölkerung und damit in die Öffentlichkeit gelangen. Diese häufig in totalitären Staaten vorkommende Verbreitung von Nachrichten kann zu Gerüchten führen.
- Latrinenparolen oder Latrinengerüchte sind umgangssprachlich abwertend bezeichnete Gerüchte, die zumeist irreführend oder falsch sind und heimlich verbreitet werden. Das Wort stammt aus der Soldatensprache, da sich in Kasernen oder anderen Unterkünften an der dortigen Sickergrube oder auch Latrine alle Mannschaftsgrade zur gemeinsamen Entleerung trafen und wo auch Informationen ausgetauscht und dann weitergegeben worden sind. Synonyme sind Latrinengerücht oder derber Scheisshausparole.
- Stammtischparolen bezeichnen stereotype Versatzstücke einer lokalen Meinungsbildung und umfassen ebenfalls Gerüchte.
Beispiel für ein Gerücht
Siehe auch
Literatur
- F. C. Bartlett: Remembering. A study in experimental and social psychology. Cambridge University Press, Cambridge 1932
- Manfred Bruhn, Werner Wunderlich (Hrsg.): Medium Gerücht. Studien zu Theorie und Praxis einer kollektiven Kommunikationsform. Haupt, Bern u. a. 2004, ISBN 3-258-06650-7
- Karin Bruns: „Do it wherever you want it but do it!“ Das Gerücht als partizipative Produktivkraft der neuen Medien. In: Britta Neitzel, Rolf F. Nohr (Hg.): Das Spiel mit dem Medium. Partizipation – Immersion – Interaktion (Schriftenreihe der Gesellschaft für Medienwissenschaften). Marburg: Schüren 2006, ISBN 3-89472-441-2, S. 332-347.
- Stefan Hartwig: Gerüchte in der Wirtschaft: Gegenmaßnahmen der Unternehmenskommunikation. In: www.pr-guide.de
- Gary Alan Fine/Janet S. Severance: Gerücht. In: Enzyklopädie des Märchens Bd. 5 (1988), Sp. 1102-1109
- Jean-Noël Kapferer: Gerüchte. Das älteste Massenmedium der Welt. Aufbau-Taschenbuch-Verlag, Berlin 1997, ISBN 3-7466-1244-6
- Hans-Joachim Neubauer: Fama. Eine Geschichte des Gerüchts. Matthes & Seitz, Berlin 2008, ISBN 978-3-88221-727-8
- Wolfgang Pippke: Gerücht. In: Peter Heinrich, Jochen Schulz zur Wiesch (Hrsg.): Wörterbuch zur Mikropolitik. Leske & Budrich, Opladen 1998, ISBN 3-8100-2013-3, S. 96-98
Weblinks
- Literatur über Gerücht in Bibliothekskatalogen: DNB, GBV
- A. Paul Weber: Das Werk
- Instrument unfairer Attacken
- Gerüchte sind stärker als die Wahrheit
- Interview mit Jean-Noël Kapferer in: NZZ Folio 5/1995
Wikimedia Foundation.