Technoliberalismus

Technoliberalismus

Technoliberalismus ist eine moderne Weltanschauung aus entwickelten Staaten, die in der Tradition des bürgerlichen Liberalismus die Idee der offenen Gesellschaft pflegt und seinen Freiheitsbegriff durch staatliche Eingriffe oder eine schwache Ordnungspolitik bedroht sieht. Technoliberale betrachten Technologie als wichtigstes politisches Instrument für gesellschaftlichen Fortschritt überhaupt.

Bekanntheit erlangte der Technoliberalismus durch das Medium Internet in den 1990er Jahren. Die Entwicklung des Internets wird als historisches Paradigma für den Siegeszug technoliberaler Bedingungen gesehen. Gegen bürokratische und juristische Regulierung wird der Vorwurf der fachfremden Einmischung gesetzt, nur der Kenner der Medien soll über die Gestaltung entscheiden. Die Verkehrssitte wird als Regulierungsprinzip daher hochgehalten. Historisch erklären sich diese Positionen durch die Behinderung der Internet-Entwicklung durch Telekommunikationsregulation (besonders in Deutschland durch Postmonopol), und durch eine Wissens-, Generationen- und Interessenskluft zwischen den Experten der Informationstechnologie und den etablierten Politikern und Juristen. Die historische Lektion aus der Entwicklung des Internets auf andere Bereiche übertragen ist die technoliberale Agenda.

Inhaltsverzeichnis

Zielsetzungen

Im Kern steht deshalb die Übertragung der Erfolgsbedingungen des Internets in eine neue liberale politische Ideologie, die mit dem Schlagwort von Larry Lessig "Code is law" (Programmcode ist wie ein Gesetz) die allgemeingesellschaftliche Relevanz von Software für die gesellschaftliche Entwicklung betont. Charakteristisch ist die Umkehrung "Law is code" (Gesetz ist wie Code), die den Transfer von Softwareentwicklung betont. So wie der Architekt öffentliche Gebäude gestaltet oder der Softwareentwickler Programme, gestaltet der Gesetzgebungsprozess gesellschaftliche Realität. Hier folgt der Technoliberale einem methodischen Transfer aus seiner Profession zur Befruchtung traditioneller Politik. Offenheit und "Rough Consensus" wie in der Entwicklung von Open Source Software oder die Diskussionskultur von Mailinglisten sind Leitbilder zur politischen Reform. Demokratische Abstimmungsprozesse werden nicht fetischiert als Inbegriff der Demokratie, sondern werden im Hinblick auf ihre Randbedeutung in der Politik als Mechanismus zum Beispiel im parlamentarischen Prozess streng funktionalisiert als Kontrollinstrument. Die Balance von Institutionen kann sich durch technologische Veränderungen verschieben.

Nicht gesellschaftliche Gleichheit oder Demokratie ist Kernziel des Technoliberalismus, sondern die Schaffung freier Informationsinfrastrukturen im Hinblick auf ihre gesellschaftlichen Wirkungen. Die Idee ist, das Konzept der Privatautonomie auf die technologischen Neuerungen zu adaptieren. Die Verringerung von Machtdistanz durch Kommunikationsmittel stellt aus Sicht der Technoliberalen eine wünschenswerte Externalität dar. Zur Kontrolle von Herrschaft kann es unterschiedliche Kontrollinstrumente geben: Abstimmungen, Märkte, Offenheit, Wettbewerbsregeln, institutionelle Normen usw. Auch Technologie wirkt als ein solches Kontrollinstrument. Es ist deshalb entscheidend, die Wirkungen dieser Technologie zu kennen.

Annahmegemäß wirken Medien, vor allem elektronische Medien wie Weblogs oder Digitalkameras, gesellschaftsverändernd. Technologie wird von Technoliberalen als primäres revolutionäres Mittel zur Liberalisierung der Gesellschaft und der Sicherung ihrer Offenheit gesehen. Zugleich bedroht auch Technologie in bestimmten Fällen die Offene Gesellschaft. In diesen Fällen bekämpft der Technoliberale den Einsatz.

Der Technoliberalimus betont in neoinstitutioneller Tradition die Eigeninteressen der Juristen und der politischen Apparate, dies trat besonders in der Kritik des Patentwesens im Software-Bereich hervor.

Eine besondere Betonung findet proaktive Wettbewerbs- und Ordnungspolitik, die nicht auf Märkte beschränkt bleibt. Dazu zählt auch die Forderung der Nutzung offener Standards, ein Interesse an weitreichenden Rechten zur Interoperabilität. Technoliberale begrüßen ein scharfes Wettbewerbsrecht. Patentrecht, ein wettbewerbsbeschränkendes Rechtsinstrument, wird aus diesem Grund skeptisch betrachtet. Hinter der Wettbewerbsfreundlichkeit steht der Gedanke einer freien Entfaltung von Kreativen und Innovatoren. Diese wettbewerbsfreundliche Haltung darf nicht mit einer Unterstützung der sozialdarwinistischen Idee des "Survival of the fittest" verwechselt werden. Technoliberale betonen technologische Vielfalt. Diese Diversität ist durch monopolbildende Tendenzen bei Informationsgütern grundsätzlich bedroht. Offene Standards und Interoperabilität sichern hingegen den Wettwerb der Lösungen.

Der Technoliberalismus weist ideologische Parallelen zum klassischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts auf, gedacht sei an den Eisenbahnpionier Friedrich List, nur konzentriert er sich nicht auf die Eisenbahn, sondern auf Internet und Computer.

Der Technoliberalismus amerikanischer Ausprägung trägt libertäre Züge und ist zum Teil stark US-ideologisch gefärbt (etwa John Perry Barlow), in Europa orientiert er sich an klassischen liberalen Vorstellungen. In seiner ökonomischen Haltung ist der Technoliberalismus mit der Lehre Walter Euckens verwandt, es wird auf Macht als zentrale wirtschaftspolitische Größe abgestellt. Diese Nähe zum klassischen Ordoliberalismus deutscher Prägung ist vor allem in Europa verbreitet. Charakteristisch ist die instrumentelle Funktion, die neue Medien für technoliberale Ziele einnehmen. Sie lehnen eine aktive Verwirklichung der Informationsgesellschaft durch Staatsintervention (vgl. Digital Solidarity Fund) und Staatsausgaben ab. Der Begriff der digitalen Kluft wird daher von Technoliberalen abgelehnt. Technoliberale wünschen strukturelle Änderungen wie zum Beispiel Maßnahmen zur Sicherung der Interoperabilität. Staatsausgaben zur Schaffung freier Informationsinfrastrukturen werden dagegen gut geheissen, allerdings betont, dass in der Vergangenheit wichtige Neuerungen durch Privatinitiative (z.B. Freie Software, Internet Standards, Wikipedia) ohne oder gegen staatliche Ausgabenpolitik erfolgreich waren. Aufgrund mangelnder Durchsetzungsmacht liegt daher das Ziel in der Abwehr zielkonträrer Staatsintervention, die freie Informationsinfrastrukturen gefährde.

Verhältnis zu linkem Ideengut

Die technoliberale Linie grenzt sich von der Linken über den Eigentumsbegriff ab. Das kann an der Haltung zu Gemeinfreien Werken verdeutlicht werden. Linke sehen gemeinfreie Werke als eine Art öffentliches Eigentum an, das sie vor einer Privatisierung schützen wollen und messen der Frage öffentlich/staatlich oder private Eigentumsordnung eine besondere Bedeutung bei. Technoliberale wollen gemeinfreie Werke als Teil einer Informationsinfrastruktur. Sie nehmen eine andere Perspektive ein. Die Beschränkung von Verfügungsrechten im Bereich dieser Informationsinfrastruktur wird als unerwünschte Ineffizienz betrachtet, ganz gleich ob sie staatlicher, institutioneller oder privater Art ist. Transaktionskosten sollen minimiert werden. Deshalb setzen sie sich zum Beispiel für die Gemeinfreiheit von staatlichen Geodaten ein. Technoliberale haben auch nichts gegen kommerzielle Nutzung gemeinfreier Werke einzuwenden, während von Linken das als eine Art private Ausbeutung des Volksvermögens verstanden wird.

Linken Konzeptionen zur Informationsgesellschaft wie sie unter dem Stichwort Internet Governance (vergleiche auch die ICANN-Debatte), geführt werden, steht der Technoliberalismus sehr kritisch gegenüber. Er wendet sich überraschend gegen die eingeforderte Demokratisierung der Internetverwaltung, weil er darin nur eine "Verwaltung der Machtlosigkeit" (Rebentisch) sieht, die Herrschaft durch fachfremde Einmischungen etabliere. Der US-Nutzervertreter Karl Auerbach betrachtet ICANN als eine überdimensionierte Behörde, deren Arbeit besser Systemadministratoren zu überlassen wäre. Technoliberale sehen in der Debatte zur Internet Governance eine fehlgeleitete Diskussion, weil diese von der Metapher der Internet-Regierung ausgehe und deshalb klassische Konzepte wie demokratische Vertretung und Wahlen einfordern. Dabei werde vergessen, dass Befugnisse und Macht der ICANN eher profan seien. Aufgabe sei es vielmehr zu verhindern, dass es zur Etablierung politischer Einmischung komme. Demokratie wird nur da gerechtfertigt gesehen, wo Macht zu kontrollieren ist. Abstimmungsprozesse werden rein instrumentell gesehen aber nicht als Essenz einer liberalen Demokratie. Dies ergebe sich aus der empirischen Bedeutung der Abstimmung im politischen Prozess.

Verhältnis zum US-amerikanischen Cyberlibertarianismus

Perry Barlows 1996 in Davos vorgestellte Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace verbittet sich jedwede Einmischungen der Politik an der Electronic Frontier. Er argumentiert im starken Maße vor dem Hintergrund der klassisch amerikanischen Ideologie. Dieser libertaristische Ideologieversuch wurde von Technoliberalen in Europa nicht übernommen und als widersprüchlich kritisiert. In der politischen Praxis und Zielsetzung gibt es aber nur geringe Unterschiede.

Medientheoretiker sehen die Keimzelle des Technoliberalismus in einer legendären amerikanischen Hackerkultur der 60er Jahre. Fälschlich wird der Technoliberalismus oft auch in Verbindung zu der Wired-Ideologie und der New Economy Bewegung gesetzt. Einige Theoretiker prägten die polemische Formel der Kalifornischen Ideologie.

In Deutschland hat sich der technoliberale Medienkünstler Alvar Freude gegen die Sperrverfügungen des NRW-Regierungspräsidenten Jürgen Büssow gestellt. Sein Projekt Odem.org (mit Dragan Espenscheid) für die Publikationsfreiheit im Internet wurde mehrfach international ausgezeichnet. Er steht damit im Widerspruch zu Bestrebungen störende Inhalte (wie Pornographie, menschenrechtsverletzende, gewaltverherrlichende Inhalte) im Internet durch technische Vorrichtungen auszufiltern.

Es gibt außerdem Autoren, die Technoliberalimus als pejorative Eindeutschung des amerikanischen Libertarianismus als Internetideologie verwenden (Paulina Borsook und andere).

Siehe auch

Literatur

  • Paulina Borsook: Cyberselfish. A Critical Romp through the Terribly Libertarian Culture of High Tech. 2000; New York, Public Affairs. ISBN 1-58648-038-3 (Sie setzt Techno-Liberalismus, meint aber Libertarianismus)
  • Lovink, G.; Schultz, P. (1996): Anti-Barlow, in: Telepolis, Die Zeitschrift der Netzkultur, Nummer 0, München, Mannheim, 1996 ISBN 3-89658-900-8
  • Hintjens, Pieter: Digital Majority, HeironymousCoward Blog, 4. Juni 2006

Weblinks


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