- Theorien zur Lernbehinderung
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Eine klare Definition der Personengruppe der Lernbehinderten gibt es bis heute nicht. Dies liegt vor allem daran, dass die Entstehung von Lernbehinderungen vielfältig und sehr unterschiedlich bedingt und nicht punktuell auszumachen sind. Um sich einen Überblick über die verschiedenen Positionen zu verschaffen sind im folgenden aktuelle Abgrezungsvorschläge unterschiedlicher Autoren zusammengefasst.
Inhaltsverzeichnis
Bach 1971
Bach war ein Vertreter der These Lernbehinderung sei eine (prinzipiell) „nicht korrigierbare Lernbeeinträchtigung“. Er unterscheidet aber zwischen behinderten Kindern und Kindern mit vorübergehenden, behebbaren und begrenzten Beeinträchtigungen. Zum Personenkreis der seiner Meinung nach Lernbehinderten, gehören jene, welche in mehreren der folgenden Bereiche ein wesentliches und dauerndes Leistungsversagen aufweisen: Körperliche Entwicklungsrückstände und -Anfälligkeiten, Sinnesbeeinträchtigungen, hirnorganische Schäden, sozio-kulturelle Benachteiligung, familiäre Belastungssituationen, emotionalen Beeinträchtigungen und Verhaltensstörungen. Darüber hinaus zieht er auch eine parallele zwischen IQ und Lernbehinderung, weist ein Kind eine Intelligenzminderung von 1/6 bis 2/6 unterhalb des Normbereiches auf (Entspricht einem IQ zwischen 60 und 80), gilt es, laut Bach, als Lernbehindert. Zusammen mit den Eingangs aufgezählten Lernbereichen kennzeichnet diese Kombination von Intelligenzminderung, körperlichen und sozi-kulturellen Beeinträchtigungen, Bachs Definition von Lernbehinderung. Die geistige Fähigkeit des Aufnehmens, Verarbeitens und Speichern von Informationen ist bei Lernbehinderten umfänglich und dauerhaft beeinträchtigt.
Bleidick 1968-1972
Argumentierte Bleidick zu Beginn seiner Arbeiten noch, ein angeborenes schwachnormales Begabungspotential sei die Ursache für Schulversagen und damit äquivalent Ursache einer Lernbehinderung, korrigierte er sich im Laufe der Zeit und kam zu dem Ergebnis, dass Lernbehinderung kein Produkt angeborener, genetisch bedingter Schädigungen ist. Vielmehr sei es zu einem großen Teil auch ein Produkt sozio-kultureller Benachteiligung. Bleidick unterscheidet grob zwischen 3 verschiedenen Ursachen welche Lernbehinderung bedingen (können). „Stabilisierende Ursachen“ worunter ein schwaches Elternhaus („Anregungsloses Milieu“) zu verstehen wäre. „Auslösende Ursachen“ darunter fällt z. B. der Leistungsdruck in einer Schule. Als drittes nennt der Autor die „chronifizierenden Ursachen“ welche das langanhaltende Versagen von Schule und Elternhaus beinhaltet, so dass u.a. keine rechtzeitige Bereitstellung eines optimalem leistungsförderndem Umfeldes geschaffen wird. Bleidick räumt allerdings ein, dass Lernbehinderung als Etikett relativ ist, da in unterschiedlichen Regionen verschiedene Erfassungskriterien angelegt werden. Außerdem kritisiert er das Problem der (negativen) Selektivität, in welcher die spezielle und gezielte Förderung benachteiligter Kinder als negative Etikettierung verstanden werden kann. Darüber hinaus kritisiert Bleidick das Bildungssystem, welches Chancenungleichheit hervorruft und somit das Problem der Lernbehinderten nicht ihre Intelligenzschädigung, sondern die Bildungsbehinderung sei, welche vielfach determiniert ist. So setzt Bleidick zwar Lernbehinderung mit einer IQ-Schwäche in unmittelbare Abhängigkeit und unterscheidet sich auf den ersten Blick kaum von Bachs Abgrenzungsvorschlag, jedoch weisen beide darauf hin, dass es sich bei den Ursachen von Lernbehinderung eindeutig um ein Ursachengeflecht („mehrperspektivische Konstruktion“) und nicht um eine Einzelursache handelt.
Klauer 1975
Klauer sieht Lernbehinderung ein multipel bedingtes Phänomen an, in welches Erbeinflüsse, Erfahrungen und neurologische Faktoren hinein spielen. Lernbehinderung ist nach Klauer ein vor allem durch psychophysische Gründe hervorgerufenes Phänomen, was auch Intelligenzmängel beinhaltet. Darüber hinaus aber weist Klauer auf die milieubedingten Schulversager hin, welche oftmals von der Gesellschaft als lernbehindert etikettiert werden, an einem anderen Ort und unter anderen Umständen aber keinesfalls als solche eingestuft werden würden. Er weist also auf die unterschiedlichen Leistungserwartungen, die Problematik der Etikettierung und die milieubedingten Ursachen hin und steht ihnen kritisch gegenüber. Nach Klauer ist es sinnvoll bei als lernbehindert eingestuften Personen zwischen zwei Stufen des Lernens zu unterscheiden, dem primären (notwendige Grundlagen) und dem sekundären Lernen (vielfältiges Lernen über Grundlagenwissen hinaus). Es muss gesichert sein, dass jeder die erste Stufe erreicht um ein mündiger und selbstverantwortlicher Mensch zu sein. Alles was darüber hinausgeht ist sekundär, Klauer bezeichnet es als positiv und wünschenswert, nicht aber als notwendig. (Klauer hängt also nicht an einem statischen Begabungsbegriff.)
Wegener 1969
Wegener definiert Lernbehinderung als Form intellektueller Subnormalität, welche schon in den ersten Lebensjahren vorhanden ist und einen dauernden Rückstand (Lernleistungen) sowie eine Störung des Anpassungsverhaltens zur Folge hat. Bei dieser Definition stützt sich Wegener auf empirische Kriterien und vermeidet eine Begründung welche auf biologische Verursachung aufbaut.
Begemann 1970 – Begemann macht deutlich, dass er als wesentlichen Bedingungsfaktor für das Entstehen von Lernbehinderung sozio-ökonomische Belastungsfaktoren sieht. So seien Lernbehinderte oftmals angehörige der Unterschicht und leiden unter vielen der folgenden milieubedingten Faktoren. Sie haben Eltern rangniederer Berufsgruppen, hohe Quote an Trennungskindern, hohe Kinderzahl in den Familien, beengter und ungünstiger Wohnraum sowie eine überhöhte Rückstellungsquote (5 mal mehr als „normale Kinder“). Eine spezielle Pädagogik muss diesen Bildungshemmenden Faktoren entgegenwirken so Begemann. Der These IQ-Wert und Lernbehinderung stünden in enger Beziehung zueinander steht der Autor kritisch gegenüber, denn die Hälfte aller Lernbehinderten haben einen IQ > 80. Eine genauso große Anzahl an Schülern normaler Schulen unterschreiten aber den IQ Wert von 80 (ca. 2%). Er weist hier auf den starken Überlagerungseffekt der Gruppen Lernbehinderte und nicht Lernbehinderte hin und begründet ihn in einer vorwiegend, nicht aber alleinigen sozialisationsbedingten Schulunfähigkeit der Lernbehinderten.
Jantzen 1973
Jantzen greift wie Begemann den Bedingungsfaktor der sozio-ökonomischen Belastung als zentral für das Entstehen von Lernbehinderung auf, und definiert, dass Behinderung stets gesellschaftlich mitbedingt ist. Er weist aber darauf hin, dass Behinderung erst durch das abweichende Auftreten von gesellschaftliche Vorstellungen („normalem Verhalten“) existent wird. Daraus resultieren die Zuschreibungsprozessen (Etikettierung), welche die beeinträchtigten Menschen als behindert definieren.
Sovák 1970
Sovák entwickelte den „offenen Reflexkreis“ um eine Beziehung zwischen sozialen und biologischen Faktoren im Entwicklungsprozess des geschädigten, Lernbehinderten Kindes aufzuzeigen. Nach dem offenen Reflexkreis besteht die Ganzheit des menschlichen Organismus aus biologischen Gegebenheiten und der Wechselwirkung zwischen Organismus und Umwelt. Lernbehinderung, so Sovák, sei kein punktuell zu lokalisierendes Problem, sondern ein individuelles Verhaltens- und Leistungsbild, welchem ein komplexes Wirkungsgefüge zugrunde liegt.
Cruickshank 1974
Cruickshank ist ein Befürworter der qualifizierten Einzeldiagnose, das bedeutet, er vertritt den Standpunkt, dass Kinder mit speziellen Defekten nicht in nach „pseudopädagogischen Einteilungspunkten“ gegliederte Spezialschulen geschickt werden dürfen, sondern pädagogische Maßnahmen und einen Ausgleich ihrer Behinderung nur auf Grundlage einer qualifizierten Einzeldiagnose erfahren sollten. Er beschäftigt sich mit den Basisproblemen und Ursachen der Lernbehinderung und ist somit gegen die symptom-orientierte Klassifizierung der Sonderschulen.
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