- Tocqueville-Effekt
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Charles Alexis Henri Maurice Clérel de Tocqueville [ʃaʀl alɛkˈsi ɑ̃ˈʀi mɔˈʀis kleˈʀɛl dətɔkˈvil] (* 29. Juli 1805 in Verneuil-sur-Seine; † 16. April 1859 in Cannes) war ein französischer Publizist, Politiker und Historiker. Er gilt als Begründer der vergleichenden Politikwissenschaft.
Inhaltsverzeichnis
Leben
De Tocqueville wurde als dritter Sohn von Hervé Bonaventure Clérel de Tocqueville und Louise Le Peletier de Rosanbo geboren. Seine Kindheit verbrachte er in Verneuil-sur-Seine, wo sein adliger Vater, wie seine Mutter ein Royalist,[1] Bürgermeister wurde.[2] Vom zehnten Lebensjahr an diente sein Vater sukzessive in den Präfekturen von Angers, Beauvais, Dijon, Metz, Amiens und Versailles, so dass de Tocqueville hauptsächlich bei seiner Mutter aufwuchs.[1] Sein intellektueller Lehrer war zu dieser Zeit der Abt Louis Lesueur.[3]
1820 zog er zu seinem Vater nach Metz, wo er 1823 am dortigen Collège Royale seine Studien in Philosophie und Rhetorik abschloss.[4] In dieser Zeit zeugte er ein uneheliches Kind mit einer Bediensteten.[4]
Nachdem Tocqueville nach Paris gezogen war und dort sein Studium der Rechtswissenschaft beendet hatte, wurde er 1826 Untersuchungsrichter in Versailles. In den Folgejahren machte er die Bekanntschaft Gustave de Beaumonts und Mary Motleys (1826), mit der er 1835 eine Ehe einging, die kinderlos bleiben sollte. Er hörte Geschichtsvorlesungen François Guizots an der Pariser Sorbonne (1829/30) und promovierte 1830 in Versailles.
1831 beauftragte ihn die Regierung, das Rechtssystem und den Strafvollzug in den Vereinigten Staaten von Amerika zu studieren. Tocqueville bereiste die USA mit seinem Freund Gustave de Beaumont. Für ihre Arbeit „Du système pénitentiaire aux États-Unis“ erhielten die beiden einen Preis der Académie française. Aus der Amerikareise und den dort gemachten Erfahrungen resultiert das berühmte Hauptwerk „De la démocratie en Amérique“ (2 Bde., Paris 1835/1840). Der erste Band erschien im Januar 1835 in einer Auflage von unter 500 Stück. Bereits im Juni desselben Jahres wurde eine zweite Ausgabe veröffentlicht. Die achte Ausgabe, die 1840 sowohl in Paris als auch in einer Übersetzung von Henry Reeves in London erschien, enthielt schließlich auch den zweiten Band seiner Untersuchungen.
Zwischen 1839 und 1848 gehörte Alexis de Tocqueville als Abgeordneter zur gemäßigten Opposition. Er opponierte gegen die Regierung Guizot, die nach seinen Worten, die französische Gesellschaft in eine gigantische unpolitische Aktiengesellschaft umgewandelt hat. Wohlstandsstreben allein mache, so erklärte er, keine guten Bürger. Ohne Erfolg betrieb er zusammen mit seinen politischen Freunden - ganz in der Tradition des großherzigen liberalen französischen Adels - die Beseitigung der Sklaverei. Eine besondere Rolle spielte er vor und während der Februarrevolution 1848: In einer Rede vom 29. Januar 1848 vor der Abgeordnetenkammer warnte er prophetisch vor den kommenden Ereignissen: "Merken Sie - wie sage ich? - den Revolutionssturm nicht, der in der Luft liegt?"[5]. Kaum einen Monat später war die Monarchie unter dem "Bürgerkönig" Ludwig Philipp in der Revolution untergegangen; er selber hinterließ in seinen Erinnerungen ein lebensnahes historisches Dokument über die Geschehnisse der Revolution, der provisorischen Regierung und der niedergeschlagenen Juniaufstände der Arbeiter von 1848. Er bemühte sich um eine Neuordnung des Verhältnisses zwischen Republik und Kirche; Tocqueville drängte in der verfassungsgebenden Kommission der Nationalversammlung nach der Revolution von 1848 auf eine Beseitigung der lähmenden Zentralisierung des politischen Lebens in Frankreich. Hier hatte er allerdings schon dermaßen resigniert, dass er in den Verhandlungen zu diesem Thema das Wort nicht mehr ergriff. „In Frankreich kann man nur eines nicht schaffen, nämlich eine freie Regierung, und nur eines nicht zerstören, nämlich die Zentralisierung.“ schrieb er im 2.Teil (Kap. XI) seiner Erinnerungen. Ein Angriff auf die zentralisierte Verwaltung, sei „das einzige Mittel, einen Konservativen und einen Radikalen zusammenzubringen.“ Das Zentrum der politischen Aktivität Tocquevilles ist aber (auch nach seiner eigenen Überzeugung von der Bedeutung des Gegenstandes) das Vorantreiben, die Förderung und ordnende Gestaltung der Eroberung und Kolonisierung Algeriens. Politisch ist Tocquevilles Antwort auf seine Fragestellung „Wie kann man Mediokrität verhindern und auch in egalitären Gesellschaften Großes hervorbringen oder fördern“ der Kolonialismus.
Zwei große Reisen nach Algerien, die er als Abgeordneter unternahm, mehrere Kommissionsberichte in der Nationalversammlung und etliche Reden, die der Abgeordnete hielt, zeugen von Tocquevilles unerschütterter Überzeugung: Algerien soll eine französische Kolonie mit einer weißen Besitzerschicht und einer vornehmlich „eingeborenen“, dienenden Schicht nicht Gleichberechtigter werden.
Nach der Februarrevolution 1848 bekämpfte er den Sozialismus und stimmte mit den Konservativen; er war einer ihrer führenden Vertreter. Als Mitglied der Gesetzgebenden Versammlung gestaltete er die neue Verfassung mit. 1849 übernahm Tocqueville das Auswärtige Amt, trat jedoch zurück, als Louis Napoléon, der spätere Napoléon III., in einem Staatsstreich die Macht ergriff. Beim Staatsstreich am 2. Dezember 1851 wurde Tocqueville verhaftet, aber auf Intervention von Louis Napoléon wieder freigelassen. Verbittert über den Verlust freiheitlich-liberaler Verhältnisse zog er sich ins Privatleben zurück. Nun schrieb er sein zweites Hauptwerk „L'Ancien Régime et la Révolution“, dessen erster Band 1856 erschien, nachdem er zuvor die „Souvenirs“ verfasst hatte, die - voll von sarkastischen Bemerkungen über seine zeitgenössischen Parlamentskollegen - auf seinen Wunsch erst lange nach seinem Tode erscheinen sollten.
Über die Demokratie in Amerika
„De la démocratie en Amérique“ beschreibt unter anderem die Demokratie im Kontext der Zivilgesellschaft. Das Buch erhielt 1836 den Prix Montyon der Académie française, deren Mitglied Tocqueville 1841 wurde, und wird heute noch an den Universitäten behandelt. In seiner Analyse der amerikanischen Demokratie arbeitete er die Ursachen für die Art und Weise des Funktionierens der Demokratie in den USA heraus. Er zeigt die Gefahren demokratischen Regierens, die zu einer "Tyrannei der Mehrheit" führen könne, und er beschreibt, wie die amerikanische Verfassung und ihr Verfassungsleben dieser Gefahr durch Dezentralisation und aktive Teilnahme der Bürger entgegenwirkte.(Band 1) Im zweiten Band des Werkes macht er dann noch eine weitere Gefahr, die für ihn der Demokratie inhärent ist, aus: Die Allgewalt der Regierung, die die Bürger der Eigeninitiative beraubt, sie schrittweise des selbständigen Handelns entwöhnt, und sie so zu unmündigen Privatleuten, die sich nur um ihre wirtschaftlichen Probleme kümmern, degradiert. Auch hier zeigt er wie die amerikanische Demokratie dieser Gefahr begegnete: durch Dezentralisation, durch die Lehre vom wohlverstandenen Eigennutz und durch eine Durchsäuerung der Verhaltensstandards durch das Christentum.
Über das Verhältnis von Freiheit und Gleichheit
Die wichtigen Institutionen der amerikanischen Union haben allesamt neben ihrer Probleme lösenden Leistung noch eine zweite gleichsam ungewollte Nebenwirkung: Sie erziehen die neuen Generationen der Amerikaner zu dem Bürgersinn, der in den jungen USA der 30er Jahre des 19. Jahrhunderts vorherrscht. Sie erhalten die mœurs (Sitten). Verantwortungsgefühl, Eigeninitiative, Ordnungssinn, Bereitschaft sich in die öffentlichen Angelegenheiten einzumischen, Kenntnisse demokratischer Praxis, die Erhaltung eines öffentlichen politischen Bereiches, in den die Kirchen nicht direkt intervenieren. All dieses gehört zu den US-amerikanischen Selbstverständlichkeiten. Diese Selbstverständlichkeiten, ursprünglich meist ein Erbe der puritanischen Gründer, werden durch das gesamte politische und gesellschaftliche Leben, durch die Einrichtungen besonders der lokalen Politik zur zweiten Natur der Nordamerikaner, gemacht. Dies beschreibt Tocqueville nicht ohne den Hintergedanken, dass Frankreich und andere europäische Nationen an diesem Teil des amerikanischen Beispiels lernen können. So könnten sie vielleicht demokratische Sitten entwickeln. Am Ende dieses ersten Bandes der Démocratie en Amérique findet der Leser ein abschließendes Kapitel, das die Hauptursachen untersucht, die dazu beitragen, dass die demokratische Republik in Nordamerika sich erhält und stabil ist. Das wichtigste Ergebnis seiner Überlegungen formuliert Tocqueville in der Überschrift eines Unterkapitels: „Die Gesetze tragen mehr zur Erhaltung der demokratischen Republik in den Vereinigten Staaten bei als die geographischen Umstände und die mœurs noch mehr als die Gesetze.“ Mit anderen Worten: Die mœurs sind für die Stabilität der amerikanischen Union wichtiger als die geschriebene Verfassung, und sie sind auch wichtiger als die besondere geopolitische Lage der USA. In einer Fußnote zum ersten Absatz des so überschriebenen Unterkapitels erinnert Tocqueville seinen Leser an die in einem vorangegangenen Kapitel gegebene Beschreibung dessen, was er mit mœurs bezeichnet. Wir lesen an der Stelle, auf die er hinweist: „Ich verstehe hier den Ausdruck mœurs in dem Sinne, den die Alten dem Wort mores gaben; ich verwende ihn also nicht nur auf die eigentlichen Sitten an, die man liebgewonnene Gewohnheiten nennen könnte, sondern auf die verschiedenen Begriffe, die die Menschen besitzen, die verschiedenen Meinungen, die unter ihnen gelten, und auf die Gesamtheit der Ideen, welche die liebgewonnenen Gewohnheiten bilden.“ Die mœurs oder Sitten und Gewohnheiten beschreiben also den gesamten Kosmos der Denk-, Verhaltens-, Debattier- und Interpretationsweisen einer Gesellschaft; ihre Art, die öffentlichen, wirtschaftlichen und privaten Angelegenheiten zu beschreiben, ihre Symbole und Gemeinplätze, ihre Werte und die sich aus diesen ergebende Praxis menschlichen und bürgerlichen Handelns und Verhaltens.
Der zweite Band von „De la démocratie en Amérique“ von 1840 befasst sich intensiver mit den Grundlagen von Staat und Politik. Die mœurs sind und bleiben der Hauptgegenstand der Untersuchungen Tocquevilles: So wie der erste Band die Wirkung des dezentralisierten Vereinswesens, der lokalen Politik in den Gemeinden, der Geschworenengerichte, der föderalen Aufteilung der USA und anderer äußerer Faktoren auf den Bürgersinn der Amerikaner der 30er Jahre des 19. Jahrhunderts untersucht und feststellt, in welch starkem Maße die Einrichtungen der amerikanischen Verfassung den Gründungsgedanken der USA lebendig erhalten, so untersucht der zweite Band auch die problematischeren mœurs der Demokratie; er beschreibt insbesondere das Verhältnis von Gleichheit und Freiheit. Tocqueville sieht darin keine Prinzipien von gleicher Wichtigkeit, sondern spricht sich deutlich für den Vorrang der Freiheit aus. Die in einem aufgeklärten Staat entstehende formale Gleichheit der Bürger hat nach Tocqueville verschiedene Auswirkungen. Zu allererst bringe der Wegfall ständischer Ordnungen und die Rechtsgleichheit aller Bürger jenen Raum, den ein freiheitliches Individuum überhaupt benötige. Der Wegfall von Autoritäten und die Unabhängigkeit der Menschen begründeten jene Freiheitsliebe, die demokratische Gesellschaften und ihre Institutionen auszeichnet. In einer daraus entstehenden Anarchie sehen die Kritiker die größte Gefahr einer demokratischen Ordnung. Tocqueville widerspricht dem nicht, sieht darin aber nicht das Hauptproblem des Gleichheitsprinzips. Vielmehr fürchtet er in seiner Ausgangsthese des vierten Teils des zweiten Bandes eine schleichende Beeinträchtigung des Freiraums der Bürger. „Die Gleichheit löst nämlich zwei Tendenzen aus: die eine führt die Menschen geradewegs zur Freiheit und kann sie auch plötzlich in die Anarchie treiben; die andere leitet sie auf längerem, verschwiegenerem, aber sicherem Wege in die Knechtschaft.“ Während sich ein demokratischer Staat gegen die Anarchie zu schützen wisse, sei die Abwehr vor dem Verlust des individuellen Freiraums durch Gleichmacherei schwieriger, da diese sowohl den Neigungen der Masse der Bürger entspreche als auch dem Staat gelegen komme.
Für Tocqueville führt das Prinzip der Gleichheit tendenziell zu einem starken, zentralistisch organisierten Staat, gegen den sich das Individuum nicht mehr wehren kann. Daraus entstehe eine grenzenlose „Volksgewalt“. Die Repräsentanten dieser Macht werden sich ihrer Gewalt allmählich bewusst und förderten diese Position aus Eigeninteresse. Die Regierenden könnten schließlich „alle Vorgänge und alle Menschen verwalten“. Für Tocqueville entsteht dadurch ein Transfer von Verantwortlichkeiten. Unter „Regieren“ verstehen die Führer dieser Staaten nicht mehr nur die Regentschaft des gesamten Volkes, sondern auch die Verantwortlichkeit für das Wohlergehen jedes Einzelnen. Sie sehen ihre Aufgabe nun auch darin, den Bürger „zu leiten und zu beraten, ja ihn notfalls gegen seinen Willen glücklich zu machen“. Umgekehrt übertragen die Einzelnen immer mehr ihre Selbstverantwortung auf die staatliche Gewalt. Letztlich befürchtet Tocqueville ein Abrutschen in die Unfreiheit, wenn die Gleichheit zum einzigen großen Ziel wird.
Die französische Revolution
Auch in „L’Ancien Régime et la Révolution“ spielen die mœurs eine Hauptrolle, wenngleich Alexis de Tocqueville den Ausdruck in diesem Spätwerk kaum gebraucht. Der beschriebene praktische Sinn der Amerikaner, ihre von den Gründungsvätern eingebrachten und durch die institutionelle Ordnung der USA lebendig gehaltenen und an die Nachwachsenden weitergegebenen mœurs, stehen in einem spannungsreichen Gegensatz zu den politischen Zuständen und zu den vorherrschenden Denkweisen in Frankreich. Tocqueville zeigt in seinem zweiten großen Werk, <Die alte Herrschaftsordnung und die Revolution>, dass die meisten der Einrichtungen und Verfassungsregeln, die man gemeinhin zu den Errungenschaften der Revolution rechnet, nicht von dieser eingeführt wurden. Sie bestanden schon vor der Revolution. Auch zur Großen Revolution zeigt de Tocqueville jene Distanz, die schon bei seinem Amerika-Werk ins Auge springt. Tocqueville begrüßt und bejaht die Ergebnisse der Revolution, er bewundert die Großherzigkeit der ersten Revolutionäre, aber er ist überzeugt: die politischen Ergebnisse der Revolution wären auch in einem schrittweisen Reformprozess erreichbar gewesen. Die meisten Ergebnisse der Revolution aber sieht Tocqueville lange vor den Ereignissen vorbereitet oder durchgesetzt. Die Zentralisierung, von den Königen betrieben, wird von der Revolution nur vollendet. Sie führt zu einer immer größer werdenden Ähnlichkeit der Lebensweise der Bürger ohne gleiche politische Rechte und hat einen Verlust an Bürgersinn zur Folge, der durch die allenthalben präsente Verwaltung gefördert wird. Eine politische Klasse, die nicht bemerkt, was sie tut, weil sie nur verwaltet und Bürger, die nicht lernen zusammenzuarbeiten, weil sie von oben verwaltet werden, sind Gegenstücke zur amerikanischen Realität. Intellektuelle, die mit einer ihnen nicht zugänglichen politischen Praxis auf Kriegsfuß stehen und darum Wolkenkuckucksheime bauen und einer utopischen vollkommenen Gleichheit nachträumen, gehören ebenso zur Wirklichkeit des vorrevolutionären Frankreich wie die alte politische Klasse, der Adel, dessen wohlhabende Teile sich privilegierender Rechte erfreut, die längst ohne entsprechende lokale politische Aufgaben gegeben sind. Tocqueville zeigt, wie diese Fehlentwicklungen zu apolitischen und anti-religiösen Grundhaltungen führen, die in einem jahrhundertelangem Entwicklungsprozess entstanden. Wo die Bürger nicht – auch von den Institutionen dazu eingeladen – gewohnt sind zusammenzuarbeiten, entstehen Ablehnung und oft Hass oder Verachtung. Nach der Revolution kommen diese vorrevolutionären mœurs nun von der egalitären Ordnung unterstützt an die Oberfläche und prägen das politische Leben Frankreichs. Auch was die Feindseligkeit gegen das Christentum anbetrifft sieht Tocqueville – der seinen Glauben nach eigenem Zeugnis verloren hat – hier die Gefahren mangelnder Demut und drohenden Größenwahns, der dann – dies sollte im nicht mehr vollendeten zweiten Band des Werkes beschrieben werden – in den beiden napoleonischen Abenteuern mündet. Diese sind für ihn nicht zuletzt wegen des mangelnden Bürgersinns einer vom Hass und von der Abwesenheit demokratischer mœurs geprägten Gesellschaft möglich geworden. Das Buch über die Grande Révolution ist voller feindseliger Anspielungen auf die Machtergreifung des <petit Napoléon> und auf dessen neue Politik. Nicht ganz vorwurfslos beschreibt er, dass der französische Adel - jenseits des Verlustes seiner Privilegien - seiner Vorbild- und Führungsaufgabe nicht gerecht wurde, was für Tocqueville eine der Bedingungen für den Staatsstreich von Napoléon III. war.
Interpretation
Tocqueville erkennt die historische Singularität der amerikanischen und der Französischen Revolution. Er sieht, dass die Welt in ein neues Zeitalter aufgebrochen ist, dessen zentrales Charakteristikum in größerer Gleichheit besteht. Darunter versteht Tocqueville das Ende ständischer Privilegien und eine Ausweitung demokratischer Rechte. Doch während alle Welt dieser Entwicklung zujubelt, wies Tocqueville (der diese Entwicklung durchaus bejaht) auch auf die Gefahren dieses Fortschritts hin. Insbesondere erkennt er, dass mehr Gleichheit und Demokratie nicht zwingend mehr Freiheit bedeuten müssen. In kritischer Auseinandersetzung mit einer schon damals dominanten Montesquieu-Rezeption betont Tocqueville: Nicht demokratische Institutionen sondern freiheitliche Denk-, Verhaltens- und Redeweisen sowie ein von diesen freiheitlichen Sitten durchtränkter Diskurs (eben die "moeurs")sind die Essenz demokratischer Ordnung.
Diese Erkenntnis bildet den zentralen Kern in Tocquevilles Werk: seine ganze Leidenschaft widmet er dem Zweck, aufzuzeigen, wie die Freiheit der Menschen in der modernen Welt aufrechterhalten werden kann. Gefahr droht der Freiheit gemäß Tocqueville in mehrfacher Hinsicht. Zum einen sieht er sie im sich ausbreitenden Individualismus, der insbesondere durch ein alles dominierendes Erwerbsmotiv begünstigt wird. Dies führt dazu, dass sich der Einzelne zunehmend in sein Privatleben zurückzieht und sich nicht in den öffentlichen Angelegenheiten betätigt. Diese Teilnahmslosigkeit der Bürger begünstigt einen „wohlwollenden Despotismus“, welcher durch einen ausufernden Zentralstaat und eine entmündigende Bürokratie gekennzeichnet ist. Am Ende droht ein Rückfall in die Diktatur oder gar in eine Ordnung, die man aus heutiger Sicht kommunistisch nennen würde.
Gerettet werden kann die Freiheit nach Tocqueville durch das, was man gemeinhin als civil society bezeichnet: durch Vereine, Pressefreiheit, vor allem aber durch politische Partizipation, die ihrerseits föderale Strukturen insbesondere starke und autonome oder teilautonome Gemeinden und das Subsidiaritätsprinzip voraussetzt. Es sind dies die „Schulen der Freiheit“, die Tocqueville in Amerika vorfindet und die er so sehr bewundert. Diese Schulen erhalten die oben angesprochenen „moeurs“.
Tocqueville definierte den für sein Werk zentralen Begriff der Freiheit nicht. Dies hat dazu geführt, dass zu Tocqueville heute eine Reihe von Interpretationsansätzen existieren, die sich teilweise widersprechen. Eine gewissenhafte Analyse seines Werkes lässt jedoch den Schluss zu, dass Tocqueville unter Freiheit letztlich nichts anderes als Menschenwürde versteht. Eine andere Interpretation sieht in ihm einen sehr radikalen Liberalen, der alle sozialstaatlichen Regulierungen verwirft und die freie Initiative für das Zentrum freiheitlicher Aktivität hält. Freiheit ist so verstanden für Alexis de Tocqueville im wesentlichen Freiheit zum Handeln, sei es alleine als Bürger sei es (und hier liegt sein wesentlicher politischer Akzent) in Zusammenarbeit mit den Mitbürgern.
Werke
- De la démocratie en Amérique. 2 Bde. Paris 1835/1840 (dt.: Über die Demokratie in Amerika. Stuttgart 1959 und öfter.)
- L'ancien régime et la révolution. Paris 1856 (dt.: Der alte Staat und die Revolution)
- Erinnerungen mit einer Einleitung von C.J. Burckhardt, Stuttgart, 1954ff
- Alexis de Tocqueville als Abgeordneter, Briefe an seinen Wahlagenten Paul Clamorgan 1837-1851 (hrsg. J. Kühn) Hauswedell u.Co, Hamburg 1972, ISBN 3776200065
- Kleine politische Schriften herausgegeben von Harald Bluhm, Berlin 2006, Akademie Verlag, ISBN 978-3-05-004175-9
- Œuvres I-II (édition publiée sous la direction de André Jardin) Paris 1991ff. (Pléiade)
- Œuvres complètes I-XVIII, Paris 1961ff. 30 Bände.
Rezeption
Bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist „Über die Demokratie in Amerika“ eines der meistrezipierten Werke der Sozialwissenschaften und wird in vielen Grundlagenseminaren der Politikwissenschaft und Soziologie gelehrt. Eine Reihe sozialwissenschaftlicher Kernkonzepte lässt sich auf das Werk zurückführen. So ist Tocqueville einer der ersten Demokratiekritiker, die die Gefahr einer Tyrannei der Mehrheit sehen. Besonders im 2. Band der Démocratie en Amérique betont Tocqueville zudem, dass das Streben nach Gleichheit zu einer Uniformisierung unter einer starken Zentralgewalt führe. Diese entmündige die Bürger und mache sie vom Handeln der jeweiligen Regierung abhängig. Die Bürger würden so des selbständigen Handelns entwöhnt. Es ist unübersehbar, dass diese Überlegungen Tocquevilles besonders seinen französischen Erfahrungen entspringen. Er vertieft gerade diese Überlegungen in seinem zweiten Hauptwerk L'Ancien Régime et la Révolution. Diese Gefahren der Tyrannei und der Entmündigung seien in Amerika jedoch durch eine Reihe von Mechanismen begrenzt. So existiere beispielsweise keine starke Zentralregierung, die eine Diktatur der Mehrheit effektiv ausführen könnte.[6]
Tocqueville-Effekt
Als Tocqueville-Effekt bezeichnet man ein Phänomen in der Soziologie bzw. der Sozialpsychologie. Demnach führen verspätete Reformen zu (gewaltsamen) Revolutionen. Tocqueville kam zu diesem Schluss, als er seine Forschungen zur französischen Revolution betrieb. Als Bestätigung wird oftmals die Deutsche Wiedervereinigung angeführt.
Tocqueville-Paradox
Als Tocqueville-Paradox bezeichnet man in der Soziologie das Phänomen, "dass sich mit dem Abbau sozialer Ungerechtigkeiten gleichzeitig die Sensibilität gegenüber verbleibenden Ungleichheiten erhöht". [7]
Quellen
- ↑ a b http://www.gradesaver.com/classicnotes/authors/about_alexis_tocqueville.html
- ↑ http://www.tocqueville.org/chap1.htm#part1
- ↑ http://www.tocqueville.culture.fr/fr/portraits/p_alexis-enfance.html
- ↑ a b http://www.tocqueville.culture.fr/fr/portraits/p_alexis-metz.html
- ↑ Erinnerungen
- ↑ Tocqueville, Alexis de (1835): „De la démocratie en Amérique“ Band 1, Teil 2, S. 90f.
- ↑ Geißler, Rainer: Die Sozialstruktur Deutschlands, 4. aktualisierte Auflage, Wiesbaden 2006, S. 301.
Literatur
- André Jardin: Alexis de Tocqueville: Leben und Werk. Campus Verlag, 1991. ISBN 3-593-34434-3
- Hugh Brogan: Alexis de Tocqueville: Prophet of Democracy in the Age of Revolution. Profile Books Ltd, Dezember 2006. - ISBN 1-86197-509-0 (vgl. BBC-Radio-4-Diskussion mit dem Autor, 22. November 2006)
- Gerd Habermann: Ein Alexis de Tocqueville-Brevier. - 1. Auflage. - h.e.p.-Verlag AG/Ott Verlag, 2005. - ISBN 3-72250-003-6
- Karlfriedrich Herb, Oliver Hidalgo: Alexis de Tocqueville. Frankfurt/M.: Campus, 2005. ISBN 3-59337-647-4
- Michael Hereth: Tocqueville zur Einführung. Hamburg: Junius, 1991. - ISBN 3-88506-869-9 (2., verb. Aufl. 2001)
- Jacob P. Mayer: Alexis de Tocqueville: Analytiker des Massenzeitalters. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1954. - ISBN 3-40602-485-8 (3., veränd. und erw. Aufl. 1972)
- Karl Pisa: Alexis de Tocqueville: Prophet des Massenzeitalters. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1984. - ISBN 3-421-06178-5
- Michael Hereth: Alexis de Tocqueville - Die Gefährdung der Freiheit in der Demokratie. Stuttgart, 1979.
- Hrsg.Michael Hereth und Jutta Hoeffken Alexis de Tocqueville - Zur Politik in der Demokratie, Baden-Baden 1981
- Günter Rohrmoser: Konservativismus im 19. Jahrhundert - Alexis de Tocqueville. in Konservatives Denken im Kontext der Moderne. Gesellschaft für Kulturwissenschaft, Bietigheim/Baden 2006. ISBN 3-930218-36-4
- Vossler, Otto: Tocqueville (Vortrag), Franz Steiner Verlag, Wiesbaden 1966
- Ryan, Alan: Genie mit Mängeln. Über Alexis de Tocqueville, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken (ISSN 0026-0096), Heft 3, 62. Jahrgang, März 2008, S. 206-217.
Weblinks
- Literatur von und über Alexis de Tocqueville im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Tocqueville.org
- „Democracy in America“ der vollständige Text beider Bände (englisch)
- Dominik Sommer, Marktvermittelte Massenkunst (Berliner Journal für Soziologie 15, Heft 1, 2005 - Artikel zum Einfluss von Tocquevilles Kultursoziologie im zweiten Amerikaband auf Max Horkheimers und Theodor W. Adornos Kulturindustrie-These)
- http://faculty.law.lsu.edu/ccorcos/resume/tocquebib.htm
Vorgänger
Außenminister von Frankreich
2. Juni 1849–31. Oktober 1849Nachfolger
Alphonse de Rayneval
Personendaten NAME Tocqueville, Alexis Clérel de KURZBESCHREIBUNG französischer Publizist und Politiker GEBURTSDATUM 29. Juli 1805 GEBURTSORT Verneuil-sur-Seine (Departement Seine-et-Oise) STERBEDATUM 16. April 1859 STERBEORT Cannes
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