Undoing Gender

Undoing Gender

Das Konzept des Undoing Gender (dt. Geschlechtsaufweichung) wurde zuerst von dem Soziologen Stefan Hirschauer systematisch ausformuliert.

Hirschauer begreift das Geschlecht als Effekt von Interaktionen, wobei er sich dabei an Harold Garfinkels Ethnomethodologie[1] anlehnt, und zugleich als Effekt von Institutionen, wobei er sich stark auf Goffmans Konzept der Institutional Reflexivity[2] bezieht. Aus dieser Perspektive entwickelt er einen Praxisbegriff, der sowohl für die Möglichkeiten der Relevantsetzung / Aktualisierung als auch der Neutralisierung / Vergessen des Geschlechts offen ist[3] - und dieses so nicht nur als stetigen Prozess (andauerndes Doing Gender), sondern auch als „diskontinuierliche Episode“[4] fassen lässt, was mit dem Konzept des Doing Gender nicht möglich ist.

In einem elementaren Sinn gibt Hirschauer dem Konzept des Doing Gender dennoch recht: Es herrscht ein grundlegender „Ausweiszwang“[5], d.h. Personen müssen stets als Personen einer Geschlechtskategorie erkennbar und klassifizierbar sein. Aber es gibt ein Kontinuum der 'Salience', also variable Grade der Relevantsetzung dieser Kategorie[6], was das Doing Gender-Konzept nicht zu fassen vermag. Es ist möglich, dass Personen das Geschlecht lediglich registrieren und in der Interaktion formelhaft ‚mitlaufen lassen’, sich aber nicht als Männer bzw. Frauen adressieren und entsprechende Interaktionsskripte in Anschlag bringen[7]. Weiter können angelaufene Interaktionsskripte, die das Geschlecht relevant setzen, leer laufen und Anschlusspunkte können vermieden werden[8].

Aus institutioneller Perspektive ist zudem möglich, dass gerade Institutionen, welche die Hervorbringung des Geschlechts anreizen [9], auch dessen Neutralisierung anleiten können. Die Naturalisierung der Geschlechterdifferenz in institutionellen Arrangements, die vielfältige Sexuierung von Zeichensystemen und die Bildförmigkeit und Offensichtlichkeit der Geschlechter-Darstellungen stellen eine derart umfassende und ultrastabile Struktur dar, dass die enorme Selbstverständlichkeit („informationelle Redundanz“) des Geschlechts auch zu einer Irrelevanz desselben führen kann [10]. Außerdem ist die Vergeschlechtlichung von Personen oft ein Produkt der Vernetzung institutioneller Strukturen; z.B. sind Segregationsprozesse auf dem Arbeitsmarkt weniger auf diesen selbst als auf die Paarbildungsregeln und die Arbeitsteilung in Partnerschaften zurückzuführen[11]. Ein sozialer Wandel im privaten Bereich kann somit einen Wandel im öffentlichen Arbeitsmarkt nach sich ziehen.

Letztendlich ist also nach dem Konzept des Undoing Gender das Geschlecht auf seine konkrete Relevantsetzung in Interaktionen in bestimmten Kontexten unter der Bedingung unterschiedlicher kultureller Konfigurationen und institutioneller Arrangements zu untersuchen („kontextuelle Kontingenz“).

Einzelnachweise

  1. Garfinkel, Harold: Studies in Ethnomethodology. Cambridge: Polity Press 1967.
  2. Goffmann, Erving: Das Arrangement der Geschlechter. In: Knoblauch, H. (Hrsg.): Interaktion und Geschlecht, Frankfurt a. M.: Campus 2001 [1977], S. 105-158.
  3. Vgl. Hirschauer, Stefan: Das Vergessen des Geschlechts. Zur Praxeologie einer Kategorie sozialer Ordnung. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 2001 / Sonderheft 41, S. 208-235, S. 214.
  4. Vgl. Hirschauer, Stefan: Die soziale Fortpflanzung der Zwei-Geschlechtlichkeit. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1996 / 46, S. 668-692, S. 680.
  5. Hirschauer, Stefan: Das Vergessen des Geschlechts. Zur Praxeologie einer Kategorie sozialer Ordnung. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 2001 / Sonderheft 41, S. 208-235, S. 215.
  6. Vgl. Hirschauer, Stefan: Die soziale Fortpflanzung der Zwei-Geschlechtlichkeit. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1996 / 46, S. 668-692, S. 679.
  7. Hirschauer, Stefan: Die soziale Fortpflanzung der Zwei-Geschlechtlichkeit. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1996 / 46, S. 668-692, S. 678.
  8. Hirschauer, Stefan: Das Vergessen des Geschlechts. Zur Praxeologie einer Kategorie sozialer Ordnung. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 2001 / Sonderheft 41, S. 208-235, S. 217f.
  9. Vgl. Goffmann, Erving: Das Arrangement der Geschlechter. In: Knoblauch, H. (Hrsg.): Interaktion und Geschlecht, Frankfurt a. M.: Campus 2001 [1977], S. 105-158.
  10. Hirschauer, Stefan: Das Vergessen des Geschlechts. Zur Praxeologie einer Kategorie sozialer Ordnung. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 2001 / Sonderheft 41, S. 208-235, S. 225.
  11. Hirschauer, Stefan: Das Vergessen des Geschlechts. Zur Praxeologie einer Kategorie sozialer Ordnung. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 2001 / Sonderheft 41, S. 208-235, S. 228.

Weblinks


Wikimedia Foundation.

Игры ⚽ Нужен реферат?

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Undoing Gender — is a book written by Judith Butler. It was published in 2004 by Routledge. Undoing Gender examines gender, sex, psychoanalysis and the medical treatment of intersex people. Focusing on the case of David Reimer who was medically reassigned from… …   Wikipedia

  • Gender role — During World War II, women performed roles some of which would otherwise have been considered male jobs …   Wikipedia

  • Doing Gender — ist ein Analyseansatz in der Genderforschung, welcher das Geschlecht (Gender) als ein Produkt performativer Tätigkeiten auffasst, und setzt sich damit von der Vorstellung des Geschlechts als einer starren Eigenschaft ab. „Doing Gender“ entstand… …   Deutsch Wikipedia

  • Мужская и женская речь — условное название лексических предпочтений и некоторых других особенностей употребления языка в зависимости от пола говорящего. Половая дифференциация речи стала известна с 17 го века, когда были открыты новые туземные племена, у которых… …   Термины гендерных исследований

  • Judith Butler — Butler during a lecture at the University of Hamburg. April 2007 Full name Judith Butler Born February 24, 1956 (1956 02 24) (age 55) Clevelan …   Wikipedia

  • Judith Butler — Pour les articles homonymes, voir Butler. Judith Butler Philosophe américaine Philosophie contemporaine …   Wikipédia en Français

  • David Reimer — Born Bruce Reimer August 22, 1965(1965 08 22) Winnipeg, Manitoba, Canada Died May 5, 2004(2004 05 05) (aged 38) Ottawa, Ontario, Canada …   Wikipedia

  • Theorie Queer — Théorie Queer La théorie Queer (anglais : Queer Theory) est une théorie sociologique et philosophique. Elle critique principalement la notion de genre, le féminisme essentialisme ou différentialiste, et l idée préconçue d un déterminisme… …   Wikipédia en Français

  • Théorie Queer — Pour les articles homonymes, voir Queer (homonymie). La théorie Queer (anglais : Queer Theory) est une théorie sociologique. Elle critique principalement l idée que le genre sexuel et l orientation sexuelle seraient déterminée génétiquement… …   Wikipédia en Français

  • Théorie queer — La théorie Queer (anglais : Queer Theory) est une théorie sociologique et philosophique. Elle critique principalement la notion de genre, le féminisme essentialisme ou différentialiste, et l idée préconçue d un déterminisme génétique de la… …   Wikipédia en Français

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”