- Baum der Wissenschaften
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Unter Baum des Wissens versteht man ein klassisches epistemologisches Ordnungssystem, das der botanischen Semantik entlehnt ist. Es geht zurück auf die aristotelischen Kategorien, die Porphyrios von Tyros in der Isagoge erweiterte. Der Übersetzer und Kommentator Boëthius visualisierte das System im 6. Jahrhundert erstmals als Baum,[1] und Petrus Hispanus († 1277) führte es unter dem Namen Porphyrianischer Baum (Arbor porphyriana) in die Wissenschaftsgeschichte ein[2].
Vergleichbare Strukturen liegen mehreren spätantiken und mittelalterlichen Enzyklopädien zugrunde, etwa Ramon Llulls Arbor scientiae (1295) oder dem Theatrum humanae vitae Theodor Zwingers, 1565. Die auch von Francis Bacon (1561–1626) aufgenommene Metapher wurde zuletzt von Diderot in der Encyclopédie genutzt, wobei sich Grenzen ihrer Nützlichkeit zeigten.
Baum der Wissenschaft nannte Descartes das große Buch der Welt, die Gesamtheit des Wissens und der Wissenschaften.
Vor der Baummetapher wurde Wissen als kreisförmig anzuordnen verstanden, siehe Sieben Freie Künste.
Inhaltsverzeichnis
Der Baum als Dispositionsmetapher
a) Arbor porphyrii in Purchotius' Institutiones philosophicae I, 1730 (Detail a)
b) Arbor porphyrii vermutlich aus einer Boethius-Übersetzung (Detail b)
c) Baum aus Ramon Llulls um 1305 verfasster Ars generalis ultima, veröffentlicht nach 1500 (Detail c)
d) Ramon Llulls 16teilige Arbor scientiae (ca. 1295) in einem Holzschnitt von 1505
e) Denis Diderot 1751: Figürlich dargestelltes System der Kenntnisse des Menschen. Vorsatzblatt, Bd. 1 der Encyclopédie
(Detail e, 313k, oder (Radierung von 1769, 985x635 mm, Vorsatzblatt, Bd. 1 des Registers zur Encyclopédie, 1780) (Detail f)Arbor porphyriana
Die Arbor porphyriana (auch arbor porphyrii, Árbor de Porfirio, Baum des Porphyrios) ist eine durch Petrus Hispanus († 1277) in die Wissenschaftsgeschichte eingeführte Metapher.
Sie fußt auf einer Klassifikationsmethode, die Porphyrios von Tyros (* ca. 232/233 n. Chr., † ca. 301) in seiner Isagoge (einer Einführung zur Kategorien-Schrift des Aristoteles) dargelegt hatte. Da Porphyrios' System fünf philosophische Grundbegriffe (Prädikabilien) miteinander verbindet, ist es auch bekannt als Quinque voces („Von den fünf Lautungen“; „Fünf Begriffe“). Das Schema ermöglicht die Subordinierung von Gattungs- und Artbegriffen, in die reale Gattungen und Arten eingeordnet werden können.
Die jeweils höchste Gattung (das summum genus) eines solchen Baumes ist die Kategorie. Im Gegensatz zu darunter liegenden Ebenen kann die höchste Gattung nicht Art einer anderen sein. Eine niedrigste Art (infima species) kann im Gegensatz zu darüber liegenden Ebenen nicht mehr weiter eingeteilt werden. Alle dazwischen liegenden Ebenen sind sowohl Art der nächsthöheren Ebene als auch Gattung (proximum genus) der nächstniedrigeren.
Arbor scientiae
Arbor scientiae ist eine Enzyklopädie des Katalanen Ramon Llull (Raimundus Lullus), in der wie in vielen fortschrittlichen mittelalterlichen Enzyklopädien die Baum-Allegorie genutzt wird, um die Wissenschaften zu systematisieren: L'arbre de ciència wurde um 1295 in Katalanisch verfasst, aber erst 1482 veröffentlicht – in lateinischer Sprache.
In der Arbor scientiae repräsentieren die (Teil-)Bäume vierzehn Seinsbereiche (Elemente, Botanik, Tiere, Sinnesempfindung, Imagination, Moral, Gesellschaftslehre…), die durch zwei weitere Bäume Beispiele (Exempla) und Sprichwörter (Bonmots) veranschaulicht werden.
In der um 1305 verfassten Ars generalis ultima greift Llull wieder die Baumstruktur der Arbor porphyrii auf (Bild c), um sie zu erweitern und seinen logischen Apparat zu entwickeln.
Das Schema menschlichen Wissens in der „Encyclopédie“
Mit dem Systême figuré des connoissances humaines strukturiert Denis Diderot seine Encyclopédie als letzte bedeutende Enzyklopädie anhand eines „Baums des Wissens“ nach Art Francis Bacons. An mehreren bedeutsamen Stellen weicht Diderot davon ab; seine Enzyklopädie leitet damit einen erkenntnistheoretischen Richtungswechsel [ein], der die Topographie allen menschlichen Wissens verwandelte (Darnton).
Kritik
In der Neuzeit wurde das klassische Ordnungssystem fundamental hinterfragt:
- Ludwig Wittgenstein bewies die Unmöglichkeit einer hierarchischen Klassifikation bestimmter Kategorien und führte als Alternative den Begriff der Familienähnlichkeit ein.
- Der Philosoph Michel Foucault stellt in Die Ordnung der Dinge (1974) jegliche Kategoriensysteme in Frage, da sie einer Raum-Zeit-Gebundenheit unterliegen; er zeigt in seiner Archäologie des Wissens, dass jedes Kategoriensystem willkürlich wirkt, sobald es aus einer Außenperspektive betrachtet wird (vgl. Taxonomie).
- Weitere postmoderne Kritik äußerten Deleuze und Guattari, die das Rhizom als Wissensmetapher einführten.
- Auch das Netzwerk wird in diesem Zusammenhang genannt.
Einzelnachweise
- ↑ Boethius, In Porphyrium commentariorum III, in Migne, Patrologia Latina 64, 103
- ↑ Petrus Hispanus, Summulae logicales, Tractatus II, Kap. 11
Literatur
- Fernando Domínguez Reboiras u. a. (Hrsg.): Arbor scientiae, Der Baum des Wissens von Ramon Lull: Akten des Internationalen Kongresses aus Anlaß des 40-jährigen Jubiläums des Raimundus-Lullus-Instituts der Universität Freiburg i. Br. (Subsidia Lvlliana; 1). Turnhout, Brepols 2002. ISBN 2-503-51215-1
- Alexandre Saint-Yves d'Alveydre: L'Archéomètre. 1903
- Robert Darnton: The Business of Enlightenment. A Publishing History of the Encyclopédie, 1775-1800. Cambridge (Mass.)/London, HUP 1979 (dt., gekürzt: Glänzende Geschäfte. Die Verbreitung von Diderots Enzyklopädie oder: Wie verkauft man Wissen mit Gewinn?. Wagenbach, Berlin 1993)
- Steffen Siegel: "Wissen, das auf Bäumen wächst. Das Baumdiagramm als epistemologisches Dingsymbol im 16. Jahrhundert". In: Frühneuzeit-Info 15 (2004), S. 42-55.
- Steffen Siegel: Tabula. Figuren der Ordnung um 1600, Berlin, Akademie 2009. ISBN 978-3-05-004563-4
Siehe auch
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