- Wertherfieber
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Als Werther-Effekt wird in der Medienwirkungsforschung das durch wissenschaftliche Studien belegte Phänomen bezeichnet, dass Suizide, über die in den Medien ausführlich berichtet wird, eine signifikante Zahl von Nachahmungstaten auslösen.
Inhaltsverzeichnis
Entstehung des Begriffs
Der Begriff geht zurück auf das Auftreten einer Suizidwelle nach der Veröffentlichung von Goethes Roman Die Leiden des jungen Werthers im Jahr 1774 und seiner zahlreichen Nachahmungen (Wertheriaden). In der Forschung wurde lange kontrovers diskutiert, ob solche Werther-Suizide tatsächlich stattgefunden haben; neuere Studien belegen ein halbes bis ein Dutzend historische Suizide. Einige der Suizidenten kleideten sich ebenso wie die Figur des Werther in der so genannten Werther-Tracht (bestehend aus blauem Tuchfrack mit Messingknöpfen, gelber Weste, Kniehosen aus gelbem Leder, Stulpenstiefeln und rundem, grauem Filzhut, getragen auf ungepudertem Haar), andere trugen bei ihrem Freitod Goethes Buch bei sich. Damals wurde allerdings noch nicht vom Werther-Effekt gesprochen, sondern vom „Wertherfieber“. Die genaue Zahl der Suizide im Zusammenhang mit Goethes Werther lässt sich nicht beziffern, da es damals keine wissenschaftlichen Untersuchungen dazu gab. In den überlieferten Quellen ist auf jeden Fall eine zweistellige Zahl in mehreren Ländern belegt, es könnten auch weitaus mehr gewesen sein.
Goethe selbst hatte mit einer solchen Wirkung seines Werkes nicht gerechnet. Er schrieb später: „So verwirrten sich meine Freunde daran, indem sie glaubten, man müsse die Poesie in Wirklichkeit verwandeln (…) und sich allenfalls selbst erschießen: und was hier im Anfang unter Wenigen vorging, ereignete sich nachher im großen Publikum“.
Der Stadtrat in Leipzig verbot die Verbreitung des Werther im Januar 1775 nach den ersten bekannt gewordenen Suizidfällen mit der Begründung „es wird hier ein Buch verkauft, welches den Titel führt Leiden des jungen Werthers. Diese Schrift ist eine Empfehlung des Selbst Mordes“. Auch das Tragen der Werther-Tracht wurde verboten. Das Verbot galt in Leipzig bis 1825. Auch in anderen Städten wurde die Verbreitung des Briefromans untersagt, um Nachahmungstaten zu verhindern.
Wissenschaftliche Forschung
Der Begriff Werther-Effekt wurde 1974 von dem amerikanischen Soziologen David Philipps eingeführt, der als erster Wissenschaftler einen Zusammenhang zwischen der Berichterstattung über Suizide prominenter Personen und der Suizidrate der Bevölkerung nachweisen konnte. Er recherchierte, über welche Selbsttötungen Prominenter die New York Times zwischen 1947 und 1967 auf der Titelseite berichtet hatte – es waren 33 Fälle – und untersuchte die amtlichen Statistiken über Todesfälle auf mögliche Auswirkungen auf die Suizidrate. Philipps stellte in allen Fällen einen Anstieg der Rate fest. Die Zahl der Nachahmungstäter war umso höher, je prominenter der Suizident war. Die größte Suizidwelle dieser Untersuchung wurde durch die Berichterstattung über den Tod Marilyn Monroes ausgelöst (obwohl es zu ihrem Tod verschiedene Theorien gab und gibt).
In Deutschland wurde der Werther-Effekt von zwei Psychologen im Zusammenhang mit dem mehrteiligen ZDF-Film Tod eines Schülers im Jahr 1981 nachgewiesen. Die Hauptfigur bringt sich um, indem sie sich vor einen Zug wirft. Die sechs Folgen erzählen die Vorgeschichte der Selbsttötung aus verschiedenen Perspektiven, der Moment des Suizids wird zu Beginn jeder Folge gezeigt. Während der Ausstrahlung der Serie nahm die Suizidrate unter 15- bis 19-jährigen männlichen Schülern im Vergleich zu den Jahren davor und danach um 175 Prozent zu. Die Serie wurde anderthalb Jahre später erneut gezeigt und produzierte wiederum den Werther-Effekt, diesmal betrug die Zunahme der Selbsttötungen bei Jugendlichen 115 Prozent.
In Südkorea stieg 2005 nach der Selbsttötung der 24-jährigen Schauspielerin Lee Eun-ju die Suizidrate laut offiziellen Angaben auf das Dreifache.
Neben prominenten Vorbildern spielen bei Suiziden auch die Art des Selbstmords eine Rolle. Der mutmaßliche Freitod Uwe Barschels in der Badewanne führte kurzzeitig zu einer Zunahme von ähnlichen Suiziden.
Für den Wirkungszusammenhang zwischen dem Vorbild-Suizid und den Nachfolgetaten benutzen Wissenschaftler die Begriffe Imitationshypothese, Suggestionstheorie, Enthemmungseffekt oder Ansteckungshypothese. Der Werther-Effekt wird nicht nur von Medienforschern untersucht, sondern auch von Wissenschaftlern der Suizidologie.
Kritik
Der von den Forschern behauptete Wirkungszusammenhang zwischen Medienberichten bzw. Fernsehausstrahlung wurde von Kritikern in Frage gestellt. Als Argument wurde vorgebracht, dass die Berichte bzw. der Film lediglich den Zeitpunkt und die Art von Selbsttötungen beeinflusse, die Suizide aber wahrscheinlich auch ohne diese Auslöser verübt worden wären. Das Ergebnis nachfolgender Untersuchungen war, dass sich in den drei bis vier Monaten nach dem beobachteten Anstieg der Suizidrate kein entsprechender Rückgang feststellen ließe – es wurde davon ausgegangen, dass dies der Fall sein müsste, wenn die Suizide nur „vorzeitig“ erfolgt wären. Es ist allerdings fraglich, ob dieses Ergebnis stichhaltig ist, da viele Personen psychologisch über einen sehr langen Zeitraum hinweg als „suizidgefährdet“ gelten. Psychologen sprechen überdies von einem „persönlichkeitsspezifischen Nachahmungsmuster“ – nicht jeder Mensch sympathisiert mit Suizidenten und sieht darin ein potenzielles Vorbild. Dies ist nur der Fall bei einer latenten Disposition oder einer so genannten labilen Persönlichkeit.
Reaktion der Medien
In den Medien ist das Phänomen des Werther-Effekts seit einiger Zeit bekannt. Seit 1997 gibt es daher eine Richtlinie des Deutschen Presserats zur Berichterstattung über Suizidenten: „Die Berichterstattung über Selbsttötung gebietet Zurückhaltung. Dies gilt insbesondere für die Nennung von Namen und die Schilderung näherer Begleitumstände. Eine Ausnahme ist beispielsweise dann zu rechtfertigen, wenn es sich um einen Vorfall der Zeitgeschichte von öffentlichem Interesse handelt.“
Auch der Schweizer Presserat hat eine entsprechende Leitlinie: „Wegen der Gefahr der Nachahmung sind detaillierte Berichte über Suizide und Suizidversuche zu vermeiden. Dies gilt nicht nur für reale Fälle, sondern auch für fiktive in Kriminalfilmen, Beziehungsgeschichten, Milieufilmen usw. Die Frage der Medienwirkung ist bei Entscheid über die Publikation oder die Ausstrahlung eines Berichtes über einen Suizidfall mit zu berücksichtigen.“
Viele Medien haben interne Richtlinien zur Berichterstattung über Suizide und verpflichten sich zum freiwilligen Verzicht auf Publikation, sofern die Umstände der Selbsttötung nicht bereits für öffentliches Aufsehen gesorgt haben.
Literatur
- Martin Andree: Wenn Texte töten. Über Werther, Medienwirkung und Mediengewalt, München 2006
- Steinberg, H. Der "Werther-Effekt". Historischer Ursprung und Hintergrund eines Phänomens. Psychiatrische Praxis 1999; 26: 37-42
Weblinks
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