- Émile oder über die Erziehung
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Emile oder über die Erziehung ist das pädagogische Hauptwerk Jean-Jacques Rousseaus aus dem Jahr 1762.
Inhaltsverzeichnis
Inhalt
Emile, Rousseaus Zögling, ist ein gesunder, durchschnittlich begabter Junge aus reichem Hause mit Jean-Jacques [Rousseaus Alter Ego) als seinem einzigen Erzieher. Dieser hat für ihn zwei Ziele festgesetzt: Zum Einen soll Emile als erwachsener Mensch in der Lage sein, in der Zivilisation zu bestehen, ohne an seiner Person Schaden zu nehmen, zum Anderen soll er bereit sein, den Gesellschaftsvertrag[1] zu schließen. Dieser Vertrag soll die politische Ordnung sichern, und ihm müssen alle Mitglieder einer Gesellschaft (ideell) zustimmen. Um den Gesellschaftsvertrag schließen zu können, muss Emile die Freiheit erfahren haben, er muss wissen, was es heißt, er gehorche sich selbst, wenn er einem Gesetz gehorcht – denn dieses wird im Gesellschaftsvertrag mit Blick auf das Glück eines jeden beschlossen. Er darf nicht Sklave von Ehrgeiz, falschen Bedürfnissen und der Meinung anderer sein, da er sonst nicht imstande wäre, den Gesellschaftsvertrag bei einer Verletzung desselben zu kündigen und seine ursprünglichen Rechte wieder einzunehmen – dafür muss er vorher die natürliche Freiheit kennengelernt haben. Hartmut von Hentig fasst Rousseaus Erziehungslehre in sieben „pädagogischen Prinzipien“ zusammen.
Das fünfte und letzte Buch widmet sich der Erziehung eines Mädchens namens Sophie, die Emile nach Abschluss seiner Erziehung heiratet.
Die Erziehung von Sophie ist der von Emile ähnlich. Sophie erhält jedoch eine andere Ausbildung: Sie lernt Singen, Klavierspielen, Nähen und Kochen. Ihre Aufgabe ist es, ihrem zukünftigen Mann zu gefallen und ihm das Leben angenehm zu machen.
Die sieben pädagogischen Prinzipien
Der Eigenwert der Kindheit
„Man muss den Erwachsenen als Erwachsenen und das Kind als Kind betrachten“[2], sagt Rousseau. Das bedeutet, die Kindheit soll nicht nur als Durchgangsstadium zum Erwachsensein angesehen werden, darf nicht einer ungewissen Zukunft geopfert werden, sondern gilt als eigenständige, vollwertige Lebensspanne.
Die Kindheit studieren
Gleich im Vorwort zum Emile wirft Rousseau seinen Zeitgenossen vor: „Man kennt die Kindheit nicht: mit den falschen Vorstellungen, die man von ihr hat, verirrt man sich um so mehr, je weiter man geht.“ Man versuche, aus dem Kind so schnell wie möglich einen Bürger der Gesellschaft zu machen. Dabei sei das Kind noch viel zu sehr „Natur“ und erstmal auf die Ausbildung seiner Sinne, Organe und Glieder angelegt. Wenn zu früh damit angefangen wird, die ursprünglichen Gefühle, Neigungen und Bedürfnisse mit aufgepfropften Idealen, anerzogenen Gewohnheiten und unverstandenen Pflichten zu unterdrücken, so bringe man einen entzweiten Menschen hervor und arbeite seinen eigenen Zielen zuwider.
Negative Erziehung
Negative Erziehung heißt in erster Linie verhindern, dass etwas passiert. Es gehe nicht darum, Zeit zu gewinnen, sondern zu verlieren. Die erste Erziehung „darf das Kind nicht in der Tugend und in der Wahrheit unterweisen, sondern sie muss das Herz vor Laster und den Verstand vor Irrtümern bewahren“ [3]. Ab dem zwölften Lebensjahr, so Rousseau, sei das Kind in der Lage, seinen Geist der Vernunft zu öffnen. Davor dürfe man nicht mit Moralvorstellungen an es herantreten, sondern müsse es durch die Notwendigkeit der Dinge erziehen. Das hat eine Entmoralisierung der Pädagogik zur Folge, in der die Natur die Position des Erziehers übernimmt. Allerdings nur insoweit, als der Erzieher ihre Einwirkung herbeiführt, um das Kind seinen Wünschen entsprechend zu formen.
Erfahrungslernen
Es gibt nach Rousseau dreierlei Lehrer: die Natur, die Menschen und die Dinge. Erstere entwickelt unsere Fähigkeiten und Kräfte, die Mitmenschen lehren uns deren Gebrauch und die Dinge erziehen uns durch die Erfahrung, die wir mit ihnen machen, und durch die Anschauung. Die Aufgabe des Erziehers ist, dafür zu sorgen, dass die drei Erzieher im Gleichgewicht sind, da der Schüler ansonsten schlecht erzogen und immer uneins mit sich wäre. Das Ziel der Erziehung ist dabei das der Natur selbst; denn die Dinge und die Menschen können zumindest zum Teil, die Natur aber gar nicht beeinflusst werden, weshalb die zwei anderen nach ihr ausgerichtet werden müssen. Elementar für Rousseau ist dabei der Verzicht auf Macht gegenüber dem Zögling: „Befehlt ihm nie und nichts, was es auch sein mag. (…) Er braucht nur zu wissen, dass er schwach ist und ihr stark seid, dass er also notwendigerweise von euch abhängig ist“ [4]. Dies führe zu einer gesunden Beziehung zwischen ihm und dem Erzieher und vermeide das übliche Machtverhältnis mit Unterwerfung des Schülers. Aller Zwang soll ersetzt werden durch Notwendigkeit, welche dem Kinde einsichtiger ist: „Mit dem Band der Notwendigkeit bindet, treibt oder hält man es zurück, ohne dass es murrt. Die bloße Macht der Dinge macht es gefügig und folgsam“ [5]. Rousseau kritisiert die Lehrpläne der damaligen Zeit, die die Lernenden mit Inhalten konfrontieren, die für sie keine erkennbare unmittelbare Bedeutung haben. Dieser Bezug zur eigenen Lebenswirklichkeit müsse aber gegeben sein, wenn Inhalte gelernt werden sollen. Dieser Vorgang des Lernens entspreche gleichsam einem natürlichen Lernen.
Wenn man, nach dem Grundriss den ich zu entwerfen angefangen Regeln folgt, die den üblichen gerade entgegengesetzt sind, wenn man den Geist seines Zöglings nicht unaufhörlich in die Ferne führt, wenn man ihn nicht an andere Orte, in andere Himmelsgegenden, in andere Jahrhunderte, an die äußersten Enden der Erde, ja bis in den Himmel schweifen lässt, sondern sich vielmehr befleißigt, ihn stets in sich selbst und auf dasjenige aufmerksam zu erhalten, was ihn unmittelbar angeht, alsdann wird man ihn zum Empfinden, zum Behalten und sogar zum Urteilen fähig finden. Dies ist die Ordnung der Natur. [6]
Altersgemäße Erziehung
Die Einteilung von Kindheit und Jugendalter leitet sich von Rousseaus Beobachtungen her und beschreibt vier Phasen: die Kindheit (Alter der Natur, Geburt bis zum dritten Lebensjahr), das Knabenalter (Alter der Stärke', bis zum zwölften Lebensjahr), die Vorpubertät (Alter der Vernunft, zwölf bis fünfzehn) und die Pubertät, auch Jünglingsalter – adolescence – genannt (Alter der Einsicht, bis zum zwanzigsten Lebensjahr). Nach ihrem Abschluss ist Emil der Begleitung seines Erziehers nicht mehr bedürftig, dieser kann ihm aber noch als Freund erhalten bleiben.
Das noch nicht oder unvollkommen sprechende Kind
- Man muss ihm den Gebrauch seiner geringen Kräfte lassen und darf seinen Forschungstrieb nicht unterdrücken.
- Man muss ihm seine fehlenden Kräfte ersetzen und ihm beistehen; allerdings beschränkt sich dies auf die Befriedigung der natürlichen und notwendigen Bedürfnisse (Ernährung,Hygiene, Schutz…).
- Rousseau: „Die Erziehung des Menschen beginnt mit der Geburt. Ehe er spricht, ehe er hört, lernt er schon. Die Erfahrung eilt der Belehrung voraus.“[7]
Der Knabe
- Diese Lebensspanne ist der körperlichen Ertüchtigung, der Geschicklichkeit und Schärfung der Wahrnehmung vorbehalten.
- Das wird praktisch erreicht durch Arbeit, Erkundung, Nachahmung und Spiel, wobei das Kind durch Selbsttätigkeit, in Versuch und Irrtum seine Fähigkeiten erwerben soll.
- Es wird der größte Wert auf eigene Erfahrungen und das daraus resultierende Verständnis der Welt gelegt.
Das erstarkte Kind vor der Pubertät
- In dieser Lebensphase werden der erwachende Verstand und die Vernunft angesprochen, d.h. es beginnen Unterricht und Studien. Aber: „Es handelt sich nicht darum, ihm die Wissenschaften beizubringen, sondern darum, dass es Gefallen an ihnen finde, um sie zu lieben, und ihm die Methoden zu vermitteln, um sie lernen zu können, wenn diese Vorliebe besser entwickelt ist. Das ist bestimmt ein Erzgrundsatz einer jeden guten Erziehung.“
- Wozu nützt das? „Das ist von nun an das geheiligte Wort, das zwischen ihm und mir über alles Tun in unserem Leben entscheidet.“[8]
- Das Ziel zum Abschluss dieser Lebensphase ist ein arbeitsames, mäßiges, kräftiges, geduldiges und, vor allen Dingen, urteilsfähiges Kind, dass zwar wenige, aber dafür gründliche Kenntnisse sein eigen nennt. Das Gegenteil von ihm sind die „halbgebildeten“, d.h. unterrichteten Kinder seines Alters, die sich mit Vielem beschäftigen (alte Sprachen, Physik, Geschichte…), aber Weniges verstehen.
Die Reifezeit
- Das bisher handelnde und denkende Wesen wird nun auch ein liebendes und empfindendes, und damit droht nun eine neue Art der Abhängigkeit: die von einer geliebten Person (bisher kannte das Kind nur die Eigenliebe).
- Leidenschaften, welche das Kind vorher nicht kannte, drohen den Jugendlichen nun zu überwältigen; wie aber ist es möglich, der Leidenschaft gewachsen zu sein, also zu lieben und selbständig zu bleiben?
Rousseaus Maßnahmen:
- Der Erzieher wird zum Freund, dessen der Zögling bedarf.
- Die Leidenschaften werden ihrer Heftigkeit dadurch beraubt, dass man sie Anlässen wie Sport, Jagd und Wandern aussetzt.
- Neben der Selbstliebe ist Mitleid die zweite der ursprünglichen Regungen; sie soll im Jugendlichen erweckt und gefördert werden.
- Das Studium der Literatur und Geschichte sollen den Zögling in der Rolle des Beobachters die Menschen sehen lernen lassen, wie sie sind.
- Dem Zögling werden Begriffe, Ideen und eine Vorstellung vom Ganzen gegeben, also Religion nahe gebracht.
- Der Erzieher sucht die Gefährtin des Zöglings mit großem Bedacht selbst aus. Er lässt ihn sich eine Vorstellung von ihr machen, und dieses gedachte Ideal wird nun der Vergleich für jede wirkliche Frau.
Die Erziehung zum Bürger
„Emile ist nicht dazu geschaffen, um immer einsam zu bleiben. Als Glied einer Gemeinschaft muss er ihre Pflichten erfüllen.“[9] Der Zögling, bislang in der Einsamkeit zur Unabhängigkeit erzogen, sollte zuletzt in der Lage sein, den Gesellschaftsvertrag zu schließen und in der Gemeinschaft zu bestehen. In ihm selbst erwacht die Sehnsucht nach einer Gefährtin, woraufhin sein Erzieher ihn anhand einer für ihn bestimmten Frau die Kostbarkeit und die Probleme von Bindung unter Menschen überhaupt erfahren und bewältigen lässt, was als Vorbereitung für die große Vertragsgemeinschaft, die Gesellschaft, welche der Zögling später eingehen soll, dient. Dazu gehört Menschenkenntnis, und es genügt nicht mehr nur die durch Lektüre erworbene, sondern sie muss erprobt und angewendet werden. Daher wird der junge Mensch eine längere Reise durch Europa antreten, binnen welcher er sich prüft, seine Wünsche und Vorstellungen von der Zukunft konkretisiert. Er vergleicht die Fremde mit dem Heimatland, um dann eine freie Wahl treffen zu können. Mit welchem Volk, in welchem Land möchte er seine Existenz aufbauen und als Glied der Gemeinschaft den Gesellschaftsvertrag schließen?
Die natürliche Religion
Die natürliche Religion nach Rousseau beruht auf Erfahrungen und Überlegungen, die allen zugänglich sind. Emile soll weder eine noch eine andere Weltanschauung aufgedrängt werden, sondern diejenige wählen, zu der ihn seine eigene Meinung führt.
Literatur
- Rousseau, Jean-Jacques: Emile oder über die Erziehung, Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 1971.
- von Hentig, Hartmut: Rousseau oder Die wohlgeordnete Freiheit, Verlag C. H. Beck, München 2004.
Fußnoten
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