Negative Erziehung

Negative Erziehung

Negative Erziehung ist ein mehrdeutiger Begriff der Erziehungswissenschaft, der auf die Erziehungsphilosophie Jean-Jacques Rousseaus (1712-1778) zurückgeht.

Inhaltsverzeichnis

Bedeutung

In seiner Schrift Emile oder über die Erziehung (1763; deutsch 1789-91) entwickelte Rousseau das Konzept einer „natürlichen Erziehung“. Demnach ist der Mensch von Natur aus gut, und alle Fehlentwicklungen sind schädlichen zivilisatorischen Einflüssen zuzuschreiben. Aufgabe der Pädagogik ist es daher, diese Einflüsse abzuschirmen, um eine gesunde Entwicklung des Kindes zu gewährleisten.[1]

„Die erste Erziehung muß also rein negativ sein. Sie darf das Kind nicht in der Tugend und in der Wahrheit unterweisen, sondern sie muß das Herz vor Laster und den Verstand vor Irrtümern bewahren.“

Nicht die aktive positive Auseinandersetzung mit den Erscheinungen der Zivilisation oder mit Moralvorstellungen wird angestrebt, vielmehr soll bis zum 12. Lebensjahr des Kindes eine „negative“, also vom Erzieher eine vermeidende bzw. verhindernde Grundhaltung eingenommen werden. Negative Erziehung schafft dadurch Schonräume und setzt auf pädagogische Inseln.

Zeitgenössisch hat Immanuel Kant in seinen Pädagogik-Vorlesungen Begriff und Konzept der „negativen Erziehung“ von Rousseau übernommen und bestätigt:[2]

„Ich wüßte übrigens nicht, was in der Erziehung und vorzüglich in der ersten, nothwendiger und wichtiger wäre als die negative Erziehung, sowohl die prohibitive als die inhibitive.“

Negative Erziehung als Erziehungsutopie

Als Erziehungsutopie hat die negative Erziehung eine lange Tradition. Von PlatonsStaat“ über Goethes „Pädagogische Provinz“ („Wilhelm Meister“) bis zu den pädagogischen Inseln der Landerziehungsheime im 20. Jahrhundert (Reformpädagogik) ist der Gedanke immer wieder belebt worden, häufig auch unter dem Stichwort der Nicht-Erziehung.[3] Ellen Key schrieb zum Beispiel zur Jahrhundertwende:[4]

„Das Kind nicht in Frieden zu lassen, das ist das größte Verbrechen der gegenwärtigen Erziehung gegen das Kind. Dahingegen wird eine im äußeren sowie im inneren Sinne schöne Welt zu schaffen - in der das Kind wachsen kann; es sich darin frei bewegen zu lassen, bis es an die unerschütterliche Grenze des Rechts anderer stösst, - das Ziel der künftigen Erziehung sein.“

Negative Erziehung als Bewahrpädagogik

Da sich Rousseau unter anderem gegen die frühe Lektüre von Büchern als „Geißel der Kindheit“[5] aussprach, wird die negative Erziehung im Bereich der Medienpädagogik auch als Bewahrpädagogik angesprochen.[6]

In Bezug auf die moralische und sittliche Erziehung hielten sich die Vorstellungen einer negativen Pädagogik als Bewahrpädagogik im Bereich der geschlechtlichen Unterweisung am längsten. Negative Sexualerziehung, d.h. die Abschirmung der Kinder und Jugendlichen von allen geschlechtlichen Fragen, blieb das Leitprinzip der Pädagogen wie der erzieherische Umgang im häuslichen und schulischen Alltag bis ins ausgehende 20. Jahrhundert.[7]

Negative Pädagogik

Auf der Basis der Kritischen Theorie mit ihren Untersuchungen zur Negativen Dialektik und der Dialektik der Aufklärung, entwickelte Andreas Gruschka das Konzept einer 'Negativen Pädagogik', wonach der auf Normen beruhende nur theoretische Emanzipationsprozess durch eine praktische Erziehung zur Unmündigkeit und Unterwerfung konterkariert wird.

Literatur

  • Andreas Gruschka, Negative Pädagogik. Einführung in die Pädagogik mit Kritischer Theorie, Wetzlar 1988.
  • Manfred Hohmann: Die pädagogische Insel. Untersuchungen zur Idee einer Eigenwelt der Erziehung bei Fichte, Goethe, Wyneken und Geheeb. Ratingen 1966.
  • Friedrich Koch: Negative und positive Sexualerziehung. Eine Analyse katholischer, evangelischer und überkonfessioneller Aufklärungsschriften. Heidelberg 1971, ISBN 3-494-00665-2
  • Friedrich Koch: Zur negativen Didaktik der repressiven Sexualerziehung. In: Westermanns Pädagogische Beiträge. Nr.4/1971, Seite 191 ff.
  • Lutz Koch: Negativität und Bildung. Grundzüge einer negativen Bildungstheorie, Weinheim 1995

Einzelnachweise

  1. Jean-Jacques Rousseau, Emil oder über die Erziehung, hrsg. von Ludwig Schmidts, UTB (13)2001, S. 72
  2. Immanuel Kant, Sammlung einiger bisher unbekannt gebliebner kleiner Schriften, hrsg. von Friedrich Theodor Rink, 1800, S. 58-63, hier S. 61
  3. Ehrenhard Skiera, Reformpädagogik in Geschichte und Gegenwart: Eine kritische Einführung, 2009, S. 94
  4. Ellen Key, Das Jahrhundert des Kindes, hrsg. von Ulrich Herrmann, 2000, S. 78
  5. Jean-Jacques Rousseau, Emil oder über die Erziehung, hrsg. von Ludwig Schmidts, UTB (13)2001, S. 100
  6. Friederike von Gross, Handbuch Medienpädagogik, 2008, S. 42
  7. Der Spiegel 53, 1970 Vatis Zipfelchen

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