- Bindung (Psychologie)
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Die Bindungstheorie beschreibt in der Psychologie das Bedürfnis des Menschen, eine enge und von intensiven Gefühlen geprägte Beziehung zu Mitmenschen aufzubauen. Sie wurde von dem britischen Kinderpsychiater John Bowlby und der kanadischen Psychologin Mary Ainsworth entwickelt.
Ihr Gegenstand ist der Aufbau und die Veränderung enger Beziehungen im Laufe des Lebens. Sie geht von dem Modell der Bindung der frühen Mutter-Kind-Beziehung aus. Sie verbindet ethologisches, entwicklungspsychologisches, psychoanalytisches, therapeutisches und systemisches Denken.
Eines der großen Anliegen Bowlbys war es, eine wissenschaftliche Basis für den psychoanalytischen Ansatz der Objektbeziehungstheorien herzustellen und psychoanalytische Annahmen empirisch überprüfbar zu machen. Dabei entfernte er sich im Laufe seiner Forschungsarbeit von der Psychoanalyse: Die Bindungstheorie wurde zu einer eigenständigen Disziplin.
Die Bindungstheorie weist Verbindungen zur Systemtheorie und zur kognitiven Psychologie auf und hat einen großen Beitrag zur Familientherapie, kognitiven Therapie sowie zur Psychoanalyse geleistet.
Entwicklung der Bindungstheorie
Bowlby bezieht sich ausdrücklich auf Charles Darwin, wenn er sagt, dass jeder Mensch mit den Verhaltenssystemen ausgestattet ist, die das Überleben der Spezies sichern. Dazu gehört beim Kind das so genannte Bindungsverhalten. Arietta Slade, eine US-amerikanische Psychoanalytikerin, Bindungsforscherin sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, fasste diese Ansicht zusammen:
- (a) Das Kind hat eine angeborene Prädisposition, sich an seine Bezugsperson zu binden.
- (b) Das Kind wird sein Verhalten und Denken so organisieren, dass diese Bindungsbeziehung, die den Schlüssel zu seinem psychologischen und physischen Überleben bildet, aufrechterhalten bleibt.
- (c) Häufig wird das Kind solche Beziehungen um den hohen Preis eigener Funktionsstörungen aufrechterhalten.
- (d) Die Verzerrungen im Fühlen und Denken, die einer frühen Bindungsstörung entstammen, entstehen meistens als Antworten des Kindes auf die Unfähigkeit der Eltern, seinen Bedürfnissen nach Wohlbefinden, Sicherheit und emotionaler Beruhigung Rechnung zu tragen.[1]
In den Grundzügen seiner Theorie bezog sich Bowlby besonders auf die von Charles Darwin begründete Ethologie (vergleichende Verhaltensforschung). Ab Mitte der 1950er Jahre bezog er sich vor allem auf Konrad Lorenz und Nikolaas Tinbergen, die mit Hilfe von Experimenten mit Tieren deren angeborenes Verhalten untersuchten. Bowlby formulierte die Vermutung, dass Menschen ebenso mit angeborenen Verhaltensweisen ausgestattet sind wie andere Säugetiere und Vögel. Er knüpfte auch an lerntheoretische Forschungen an, die beispielsweise mit Rhesusaffenkindern stattfanden. Harry Harlow hatte herausgefunden: Affenjunge suchen die körperliche Nähe zu Mutterattrappen, die mit Fell bedeckt sind, sie aber nicht füttern - jedoch nicht zu Drahtattrappen, die sie zwar füttern, aber nicht mit Fell bedeckt sind. Damit war für Bowlby die klassisch psychoanalytische und die lerntheoretische These widerlegt, dass die Beziehung zwischen einer Mutter und ihrem Kind hauptsächlich durch das Füttern bestimmt ist. Das nahmen die beiden Theorien damals an.
Bowlby stellte verschiedene Spekulationen an, welchen evolutionsbedingten Vor- oder Nachteile die körperliche Nähe zu oder die körperliche Trennung von einem Muttertier (oder einer Gruppe) für das Individuum haben könnte. Er kam zu dem Schluss, dass es sich bei dem Verhalten wahrscheinlich um einen evolutionsbedingten Schutz vor Raubtieren handelt. Auch Erwachsene fühlen sich in ungewohnten Situationen in der Nähe einer Bezugsperson oder in der Gruppe sicherer. Dies hat vor allem für Jungtiere und Kinder eine Bedeutung, da sie bei der Trennung von der Mutter besonders gefährdet wären.
Spätere Forschungen bestätigten indirekt seine Theorie. Allerdings brachten erst die Experimente der Entwicklungspsychologin Mary Ainsworth einen weitgehend akzeptierten Beweis für die Bindungstheorie. Ainsworth entwickelte eine experimentelle Situation, in der sich unterschiedliche Qualitäten des Bindungsverhaltens bei Menschenkindern nachweisen ließen.
Da die Bindungstheorie auf starke Kritik von psychoanalytischer Seite stieß, wurde Bowlby zunächst nicht mehr beachtet. Erst in den letzten 20 Jahren herrscht erneut reges Interesse von Seite der Psychoanalyse an der Bindungstheorie.
Die Bindungstheorie gehört heute zu den etablierten Theorien innerhalb der Psychologie. Viele Forscher untersuchen Bindung und Interaktion von Eltern und Kindern und ziehen daraus Rückschlüsse auf normale und pathologische Entwicklungen. Bindungstheoretische Grundlagen werden auch vermehrt in die Psychotherapie von Erwachsenen und Kindern einbezogen. [2] [3] [4]
Grundlagen der Bindungstheorie
Bindung (engl.: attachment) ist die Bezeichnung für eine enge emotionale Beziehung zwischen Menschen. Das Neugeborene entwickelt eine spezielle Beziehung zu seinen Eltern oder anderen relevanten Bezugspersonen. Die Bindung veranlasst das Kleinkind, im Falle objektiv vorhandener oder subjektiv erlebter Gefahr (Bedrohung, Angst, Schmerz) Schutz und Beruhigung bei seinen Bezugspersonen zu suchen und zu erhalten. Bezugspersonen bzw. Bindungspersonen sind die Erwachsenen oder älteren Personen, mit welchen das Kind den intensivsten Kontakt in seinen ersten Lebensmonaten hatte.
Das Bindungsverhalten besteht aus verschiedenen beobachtbaren Verhaltensweisen wie Lächeln, Schreien, Festklammern, Zur-Mutter-Krabbeln, Suchen der Bezugsperson usw. Diese Verhaltensweisen werden als ein Verhaltenssystem beschrieben. Es ist genetisch vorgeprägt und bei allen Primatenkindern zu finden, besonders beim Menschen.
Konkretes Bindungsverhalten wird bei Wunsch nach Nähe oder in „Alarm„situationen aktiviert. Letztere sind durch emotionalen Stress charakterisiert, beispielsweise bei zu großer Distanz zur Bezugsperson, bei Unwohlsein, Schmerz und Angst. Abgewiesene Bindungssuche verstärken bindungssuchendes Verhalten. Es kann ebenfalls bei Wiederkehr einer Bezugsperson beobachtet werden.
Nähe zur Bindungsperson mit Blick- und / oder körperlichem Kontakt über eine kurze Zeit beenden i. d. R. bindungssuchendes Verhalten. Das Kind fühlt sich sicher und kann neugieriges Explorationsverhalten zeigen. Hierbei zeigt häufige Rückversicherung durch Blickkontakt zur Bindungsperson bei jungen Kindern, wie wesentlich sichere Bindung für die Erforschung der Welt und die spätere Aussteuerung beider Pole im Sinne gesunder Autonomie ist.
Bindungsverhalten verändert sich im Laufe des Lebens. Bei älteren Kindern und Erwachsenen ist das „ursprüngliche“, direkt beobachtbare Bindungs- und Explorationsverhalten im Sinne von Annäherung und Entfernung von Bindungspersonen nicht mehr so offensichtlich. Dennoch hat die Forschung auf Basis der Bindungstheorie Zusammenhänge zwischen frühem Bindungsverhalten und dem Verhalten älterer Kinder, Jugendlicher und Erwachsener gefunden. Durch die individuellen Unterschiede in der Eltern-Kind-Interaktion in den ersten Lebensmonaten werden nach Bowlby die „inner working models“ gebildet. Diese werden im Verlauf der Entwicklung in der Psyche eines Menschen relativ stabil repräsentiert. Das „inner working model“ beinhaltet die individuellen frühen Bindungserfahrungen sowie die daraus abgeleiteten Erwartungen, die ein Kind gegenüber menschlichen Beziehungen hegt. Sie dienen dazu, das Verhalten der Bindungsperson zu interpretieren, und ihr Verhalten vorherzusagen. [5] Nach der Entwicklung im ersten Lebensjahr, werden die „inner working models“ zunehmend stabiler. Sie bilden sich zu Bindungsrepräsentationen aus. [6] Während der Begriff der „Bindungsrepräsentanz“ eher auf die psychoanalytische Tradition zurückgeführt werden kann, würden Kognitionspsychologen hier eher von Schemata, also Bindungsschemata sprechen.
Wesentlich ist, dass die sich entwickelnden Bindungstypen aus der Eltern-Kind-Beziehung hervorgehen und somit eine zwischenmenschliche Qualität spiegeln, in die das Verhalten beider Seiten einfließt. Dabei ist für die spätere Bindungsqualität die Feinfühligkeit der Bezugspersonen entscheidend. Unter Feinfühligkeit wird adäquates und promptes Reagieren erwachsener Bezugspersonen auf die Äußerungen und Bedürfnisse des Säuglings verstanden. Insofern ist das spätere Bindungsverhalten des Kindes weniger Spiegelbild seines Temperaments oder Charakters, sondern primär Ausdruck der erlebten Interaktion mit der Bezugsperson.
Der Begriff Interaktion (synonym: Wechselwirkung) ist eine Bezeichnung zwischenmenschlichen wechselseitigen Verhaltens. In der Sozialpsychologie steht der Begriff heute für jede Art der Wechselwirkung oder wechselseitigen Bedingtheit im sozialen Kontext. John Bowlby hatte ihn zuerst in seinem Aufsatz „Über das Wesen der Mutter-Kind-Bindung“ [7] im Zusammenhang mit dem Sozialverhalten verwendet. Der auf Basis der Bindungstheorie entstandenen empirischen Forschung ist es gelungen, das zum Bindungsverhalten führende frühe Interaktionsverhalten mittels „Fremde-Situations-Test“ (s.u.) zu operationalisieren und somit empirisch fassbar zu machen. Dabei interessiert auf Seiten der Bezugsperson besonders die Feinfühligkeit, auf Seiten des Kindes das sich entwickelnde Bindungsverhalten sowie der Zusammenhang zwischen beidem.
Bindungsverhalten entwickelt sich im ersten Lebensjahr. Bis zur sechsten Lebenswoche kann hierbei die Bindungsperson beinahe beliebig wechseln. Dann entsteht - etwa gleichzeitig mit dem ersten personenbezogenen Lächeln - eine zunehmend festere Bindung zu einer oder mehreren Personen (bspw. Mutter, Vater, Geschwister oder Amme). Sobald das Kind sich fortbewegen kann (Lokomotion), ist es ab dem siebten bis achten Monat fähig, sich entweder aktiv in die Nähe der Bezugsperson zu bewegen oder von dieser weg die Umgebung selbstständig zu erkunden (Individuationsphase). Dies wird möglich auf Grund der jetzt wachsenden Objektpermanenz, welche dem Kind die innere Vorstellung eines Objekts ermöglicht, ohne dass das direkt anwesend ist. Ab etwa dem dritten Lebensjahr versucht das Kind das Verhalten des anderen je nach Situation zu beeinflussen. [8]
Vierphasenmodell der Bindungsentwicklung nach Bowlby 1969:
- Vorphase: bis ca. 6 Wochen
- Personenunterscheidende Phase: 6. Woche bis ca. 6./7. Monat
- Eigentliche Bindung: 7./8. bis 24. Monat
- Zielkorrigierte Partnerschaft: ab 2 / 3 Jahren
Das individuelle Bindungsverhalten/der Bindungstyp eines Neugeborenen entsteht durch die Anpassung an das Verhalten der zur Verfügung stehenden Bindungspersonen. Hierbei bilden die ersten sechs Lebensmonate die Phase stärkster Prägung. Es kann jedoch von gewisser Plastizität ausgegangen werden: Bindungsverhalten ändert sich gegebenenfalls bei entsprechenden Erfahrungen im Verlauf der Kindheit und Jugend. Hierbei haben sich bestimmte, die Bindung betreffende Schutz- und Risikofaktoren (wie eine im späteren Leben auftauchende, sichere Bindung oder ein Psychotraumata) als wichtige Einflüsse erwiesen. Im Erwachsenenalter gilt es als relativ konstant und bestimmt spätere enge Beziehungen. Die frühe Mutter-Kind-Interaktion zeigt somit die Tendenz zur Generalisierung. Darüber hinaus belegen Forschungen, dass das Bindungsmuster einen transgenerativen Aspekt aufweist: Unsicher gebundene Kinder haben, wenn sie Eltern werden, überdurchschnittlich häufig wieder unsicher gebundene Kinder. Mittels spezifischer Testverfahren kann mit hoher Wahrscheinlichkeit von Aussagen werdender Mütter über ihr Ungeborenes die spätere Entwicklung eines bestimmten Bindungstypus des Kindes vorhergesagt werden. [9] [10] [2] [6]
Im Verlauf ontogenetischer Entwicklung wurden signifikante Zusammenhänge zwischen der Bindungsqualität im Alter von einem Jahr und einer Psychopathologie im Alter von sechs Jahren gefunden werden. [11] Neuere Forschungen in dem Bereich weisen zudem signifikante Zusammenhänge zwischen sicherer Bindung und psychischer Stabilität bzw. unsicherer Bindung und psychopathologischen Störungen (emotionale Störungen des Jugendalters, Borderline-Persönlichkeitsstörungen, Angststörungen, Impulskontrollstörungen und Abhängigkeitserkrankungen) hin.
„Fremde Situation“
Siehe hierzu den Hauptartikel: Die fremde Situation
Mary Ainsworth und ihre Kollegen entwickelten Ende der 1960er Jahre mit der sogenannten „Fremden Situation“ ein Setting zur Erforschung kindlicher Bindungsmuster. Mary Ainsworth gelang es, individuelles kindliches Bindungsverhalten im Sinne von Bowlbys Theorie in einer qualitativen Testsituation beobachtbar zu machen. Hierbei finden 12 bis 18 Monate alte Kinder die typischen Gegebenheiten in einer annähernd natürlichen Situation vor, die nach Bowlbys Theorie sowohl Bindungs- als auch exploratives Verhalten aktivieren. Wesentlich für die Analyse des Bindungsmusters ist das Verhalten des Kindes bei An- bzw. Abwesenheit der Mutter sowie bei deren Rückkehr. [8][10]. Dieses wird mittels Videokamera aufgezeichnet und hinsichtlich der Verhaltens- bzw. Bewältigungsstrategien des Kindes bei Trennungsstress analysiert.
Zunächst wurden lediglich drei Ausprägungen von Bindungstypen festgestellt, welche sich innerhalb der Interaktion mit der Bindungsperson entwickeln können: sicher (B), unsicher-vermeidend (A) und unsicher-ambivalent (C). Später kam im Zuge der Untersuchung schwer vernachlässigter Kinder die Kategorie desorganisiert (D) hinzu; das kindliche desorganisierte Verhalten konnte mit der Unmöglichkeit, Bindungsverhalten aufzubauen, in Verbindung gebracht werden.
Bindungstypen des Kindes
In der fremde Situation aber auch anderen Untersuchungen konnten bestimmte Bindungstypen gefunden werden. Das Bindungsverhalten ist sehr vielfältig und oft individuell unterschiedlich in der Ausprägung. Heute werden meist vier Bindungsqualitäten bei Kindern genannt:[12]
Bindungstypen Abkürzung Beschreibung Verhalten in der Testsituation Sichere Bindung B-Typ Solche Kinder können Nähe und Distanz der Bezugsperson angemessen regulieren. Sie sind kurzfristig irritiert und weinen ggf., wenn die Bezugsperson den Raum verlässt, lassen sich jedoch von der Testerin trösten und beruhigen sich schnell wieder; sie spielen im Raum auch mit der Testerin; laufen der Bezugsperson bei deren Wiederkehr entgegen und begrüßen diese freudig. Unsicher vermeidende Bindung A-Typ Die Kinder zeigen eine Pseudounabhängigkeit von der Bezugsperson. Sie zeigen auffälliges Kontakt-Vermeidungsverhalten und beschäftigen sich primär mit Spielzeug im Sinne einer Stress-Kompensationsstrategie. Sie wirken bei der Trennung von der Bezugsperson unbeeindruckt; sie spielen, auffallend oft für sich allein; bei der Wiederkehr der Bezugsperson bemerken sie die kaum oder lehnen sie mittels ignorantem Verhalten ab. Unsicher ambivalente Bindung C-Typ Diese Kinder verhalten sich widersprüchlich- anhänglich an die Bezugsperson. Sie wirken bei der Trennung massiv verunsichert, weinen, laufen zur Tür, schlagen gegen diese und sind durch die Testerin kaum zu beruhigen. Bei Wiederkehr der Bezugsperson zeigen sie abwechselnd anklammerndes und aggressiv-abweisendes Verhalten und sind nur schwer zu beruhigen. Desorganisierte Bindung D-Typ Die Kinder zeigen deutlich desorientiertes, nicht auf eine Bezugsperson bezogenes Verhalten. Hauptmerkmal solcher Kinder sind bizarre Verhaltensweisen wie Erstarren, im-Kreis-Drehen, Schaukeln und andere stereotype Bewegungen; daneben treten (seltener) Mischformen der anderen Bindungsmuster wie beispielsweise gleichzeitiges intensives Suchen nach Nähe und deren Ablehnung auf. Sichere Bindung
Für die sichere Bindung hat sich auch die Bezeichnung B-Bindung etabliert. Sicher gebundene Kinder entwickeln aufgrund von elterlicher „Feinfühligkeit“ eine große Zuversicht in die Verfügbarkeit der Bindungsperson. Die Feinfühligkeit der Mütter ist durch die promte Wahrnehmung der kindlichen Signale, der richtigen Interpretation dieser eine angemessene Reaktion auf diese Signale, sowie eine prompte Reaktion, welche keine starke Frustration beim Kind hervorruft, gekennzeichnet. [6]
Diese Kinder weinen durchaus innerhalb der „fremden Situation“. Sie zeigen die Gefühle deutlich, akzeptieren den Trost einer fremden Frau (einer zum Test gehörenden Untersucherin) im Raum sogar zum Teil. Obwohl die Trennung bei solchen Kindern also mit negativen Gefühlen verbunden ist, vertrauen sie darauf, dass die Bindungsperson sie im Bedarfsfall nicht im Stich lassen oder in irgendeiner Weise falsch reagieren wird. Die Bindungsperson erfüllt in einer derartigen Bindung die Rolle eines „sicheren Hafens“, der immer Schutz bieten wird, wenn das Kind dessen bedarf. Die Kinder sind traurig, dass die Bindungsperson nicht bei ihnen ist - und gehen davon aus: sie kommt zurück. Erscheint die Bindungsperson im Raum, freuen sich die Kinder. Sie suchen Nähe und Kontakt, wenden sich kurz danach wieder der Exploration des Raumes zu.
Unsicher-vermeidende Bindung
Kinder vom Typ A-Bindung reagieren scheinbar unbeeindruckt, wenn ihre Bindungsperson hinausgeht. Sie spielen, erkunden den Raum und sind auf den ersten Blick weder ängstlich noch ärgerlich über das Fortgehen der Bindungsperson. Durch zusätzliche Untersuchung der physiologischen Reaktionen der Kinder während der Situation wurde jedoch festgestellt, dass ihr Cortisolspiegel im Speichel beim Fortgehen der Bindungsperson höher ansteigt als der sicher gebundener Kinder, welche ihrem Kummer Ausdruck verleihen - was auf Stress schließen lässt. Auch ihr Herzschlag beschleunigt sich. Kommt die Bindungsperson zurück, wird sie ignoriert. Die Kinder suchen eher die Nähe der fremden Person und meiden die ihrer Bindungsperson.
Unsicher-vermeidenden Kindern fehlt die Zuversicht bezüglich der Verfügbarkeit ihrer Bindungsperson. Sie entwickeln die Erwartungshaltung, dass ihre Wünsche grundsätzlich auf Ablehnung stoßen und ihnen kein Anspruch auf Liebe und Unterstützung zusteht. Ein solches Bindungsmuster ist bei Kindern zu beobachten, die häufig Zurückweisung erfahren haben. Die Kinder finden einen Ausweg aus der belastenden bedrohlichen Situation des immer wieder Zurückgewiesen-Seins nur durch Beziehungsvermeidung.
Unsicher-ambivalente Bindung
Diese Bindungsform wird auch ängstlich-widerstrebende, resistente, ambivalente Bindung oder auch C-Bindung genannt. Kinder, die hier beschrieben werden, zeigen sich ängstlich und abhängig von ihrer Bindungsperson. Geht die Bindungsperson, reagieren die Kinder extrem belastet. Eine fremde Frau wird ebenso gefürchtet wie der Raum selbst. Schon bevor die Bindungsperson hinausgeht, zeigen die Kinder Stress. Da sie die ungewohnte Situation fürchten, wird ihr Bindungsverhalten schon von Beginn an aktiviert. Die Kinder reagieren so auf das korrelierende Bindungsverhalten der Bezugsperson: Die Bindungsperson reagiert für das Kind nicht zuverlässig, nachvollziehbar und vorhersagbar. Der ständige Wechsel von einmal feinfühligem, dann wieder abweisendem Verhalten führt dazu, dass das Bindungssystem des Kindes ständig aktiviert sein muss. Es kann schwer einschätzen, wie die Bindungsperson in einer bestimmten Situation handeln oder reagieren wird. Das Kind ist somit permanent damit beschäftigt, herauszufinden, in welcher Stimmung sich die Bindungsperson gerade befindet, was sie will und was sie braucht, damit es sich entsprechend anpassen kann. Dies führt zu einer Einschränkung des Neugier- und Erkundungsverhaltens des Kindes, welches sich auch nicht auf die Exploration des Raumes konzentrieren kann. Die Kinder können keine positive Erwartungshaltung aufbauen, weil die Bindungsperson häufig nicht verfügbar ist - meist auch nicht, wenn sie in der Nähe ist. Dementsprechend erwarten sie keinen positiven Ausgang der Situation und reagieren extrem gestresst und ängstlich innerhalb der „fremden Situation“.
Desorganisiert/desorientierte Bindung
Bei diesem Bindungstyp hat sich die Bezeichnung Desorganisierte Bindung oder D-Bindung etabliert. Der desorganisierte Bindungstyp wurde erst wesentlich später festgestellt. Mary Main, die auch Erwachsene mit dem AAI (Adult Attachement Interview) untersuchte, führte die Klassifikation ein. Es gab immer auch Kinder, deren Verhalten sich nicht eindeutig in eine der drei Hauptreaktionsschemata einordnen ließen. Ainsworth und auch nachfolgende Kollegen stuften solche Kinder meist innerhalb der sicheren Kategorie, und einige wenige als vermeidend, ein. Nach Einführung des 4. Bindungstyps (der D-Bindung) wurden die „bisher forciert klassifizierten Fälle[…] erneut gesichtet“ [10]. Einen großen Anteil dieser Kinder klassifizierte man schließlich als desorganisiert/desorientierten Bindungstyp. Kinder, deren Verhalten diesem Bindungstyp zugeordnet wird, zeigen äußerst unerwartete, nicht zuzuordnende Verhaltensweisen. Dazu gehören Stereotypien und unvollendete oder unvollständige Bewegungsmuster. Desorganisiert gebundene Kinder erschrecken oft, wenn ihre Eltern den Raum nach kurzer Trennung wieder betreten, und zeigen eine Mischung von Strategien, wie unsicher-vermeidendes und unsicher-widersetzendes Verhalten. Einige der desorganisiert eingestuften Kinder schreien nach ihren Bindungspersonen nach der Trennung, entfernen sich aber bei der Wiedervereinigung von ihnen. Andere reagieren wie gelähmt mit einem benommenen Gesichtsausdruck für 30 Sekunden, und/oder drehen sich im Kreis und/oder lassen sich auf den Boden fallen, wenn sie sich an den jeweiligen Elternteil wenden. Wieder andere desorganisierte Kleinkinder erscheinen ängstlich in der „Fremden Situation“ mit geängstigtem Gesichtsausdruck, hochgezogenen Schultern und/oder einem Einfrieren aller Bewegungen. Die Bindungstheorie geht davon aus, dass ein Kind auf jeden Fall eine Bindung zu seiner Bindungsperson aufbauen muss. Die Bindungsverhaltensweisen werden aktiviert, sobald es Schutz und Unterstützung bedarf oder die Bindungsperson nicht in der Nähe ist. Allerdings konnte das Kind keine einheitliche Bindungsstrategie entwickeln, um Schutz und Trost zu bekommen: wenn die Bindungsperson – der Mensch der Schutz bieten soll – zugleich der Auslöser für das Bindungsverhalten ist, somit selbst die Bedrohung darstellt, gerät das Kind in eine so genannte Double Bind-Situation, aus der es für das Kind keinen Ausweg gibt.
Eine andere Ursache für dieses Bindungsverhalten zeigt sich bei Kindern, deren Bindungspersonen unter den Folgen eigener Psychotraumata leiden. Die traumatischen Erfahrungen zeigen sich den Kindern im verängstigten Verhalten ihrer Bindungspersonen. Die Angst, die sich im Gesicht einer Bindungsperson spiegelt, welche unter Intrusionen (hartnäckiges Eindringen von den traumatischen Bildern und Gefühlen in die Gedanken) leidet, ist für ein Kind erschreckend und aktiviert sein Bindungssystem. Die Quelle der Angst ist für das Kind nicht nachvollziehbar. Die Bindungsperson kann in einer solchen Situation zumeist nicht adäquat auf die Versorgungsbedürfnisse ihres Kindes eingehen. So zeigten manche Mütter beispielsweise das beinahe eine Minute lange Einfrieren aller Bewegungen, oder zeigten sich durch neutrale Verhaltensweisen ihrer Kinder in Angst versetzt. Das Kind erlebt schließlich die Welt ständig als einen bedrohlichen Ort, dessen Schrecken sich in der Bezugsperson widerspiegelt. [3] [10] Untersuchungen von Ainsworth und Crittenden legen eine ähnliche Klassifizierung nahe, die sie als ambivalent-vermeidend (A/C-Bindung) bzw. unstabil-vermeidend bezeichneten [10].
Auswirkungen von Bindungstypen auf die weitere Entwicklung des Kindes
Durch die Bindungstheorie konnten langfristige Effekte der frühen Bindungsperson-Kind-Beziehung nachgewiesen werden. Aus der Qualität der Bindung, die beim „Fremde-Situations“-Test bei den 18 - 24 Mon. alten Kindern festgestellt wurde, lassen sich einige zutreffende Vorhersagen ableiten:
Sicher gebundene Kinder zeigen später adäquateres Sozialverhalten im Kindergarten und in der Schule, mehr Phantasie und positive Affekte beim freien Spiel, größere und längere Aufmerksamkeit, höheres Selbstwertgefühl und weniger depressive Symptome. In anderen Studien zeigten sie sich offener und aufgeschlossener für neue Sozialkontakte mit Erwachsenen und Gleichaltrigen, als vermeidende und oder ambivalent gebundene Kinder. Sicher gebundene Jungen zeigten mit sechs Jahren weniger Psychopathologie als die unsicher gebundenen. [11]. Auch könnten frühe Bindungserfahrungen einen neurophysiologischen Einfluss ausüben. Hierbei konnte ein Einfluss von Bindungserfahrungen auf die Ausbildung der Rezeptoren des Hormons Oxytocin gefunden werden, welches wiederum das Bindungsverhalten beeinflusst.
Siehe auch:
Hochrisikogruppen
In Hochrisikogruppen, also Gruppen psychisch kranker, stark traumatisierter oder vernachlässigter Kinder, konnten verschiedene Forscher noch weitere Bindungstypen identifizieren. Dazu gehören Mischungen aus unsicher-vermeidenden und ambivalenten Bindungsverhalten. Darüber hinaus fanden sich Kinder mit zwanghaftem Pflegeverhalten sowie Überangepaßtheit bei den unsicher-vermeidenen sowie aggressives Drohverhalten und hilflose Verhaltensstrategien bei den unsicher-ambivalenten Bindungstypen. [6]
Bindungseinstellung älterer Kinder und Erwachsener
Das Bindungsverhalten konnte in verschiedene Bindungstypen des Kindes eingeteilt werden, wie in der „Fremde Situation“ erforscht werden konnte. Das Kind versucht, mit diesen unterschiedlichen Strategien die emotionalen Bedürfnisse, die auf seine Bezugspersonen gerichtet sind, zu regulieren.
Welche Reaktionen die Bezugspersonen dem Bindungsverhalten des Kindes gegenüber zeigen, welche Einstellung Erwachsene gegenüber Bindung haben, und wie sich die Ursache für diese Einstellung erklären lässt, ist ein weiteres Interesse der Bindungsforschung.
Obwohl bei 12 - 36 Monate alten Kindern das Bindungsverhalten leicht zu beobachten ist, ist dies bei älteren Kindern und Erwachsenen schwieriger. Das primäre Bindungsverhalten aus Annäherung und explorativem Verhalten kann dann nicht mehr beobachtet werden. Ab dem Vorschulalter sind aber zumeist Einstellungen gegenüber Bindungen zu finden oder es ist möglich, die Einbeziehung von vergangenen Bindungserfahrungen in die persönliche Lebensgeschichte zu erfragen.
Neben der von Ainsworth eingeführten „Fremde Situation“- Untersuchungsmethode wurden weitere Interviewverfahren und spezifische Testverfahren für Kinder und Erwachsene entwickelt, um die Bindung im Lebensverlauf beurteilen zu können.
Zu den Forschungsinstrumenten gehört vor allem das Adult Attachment Interview (AAI) (Erwachsenen – Bindungs – Interview) von Mary Main. Zur Untersuchung bei Erwachsenen. [13]
Für ältere Kinder zwischen dem achten und dreizehnten Lebensjahr wurde das „Child Attachment Interview“ (CAI) konzipiert.
Für Kinder im Vorschulalter und frühen Schulalter steht ein Test zur Verfügung, der mit Hilfe von vorgegebenen Geschichten, die im Spiel ergänzt werden, auf den Bindungstyp des Kindes schließt.[14]
Zur Forschung steht der Bindungstheorie auch die Beobachtung der Mutter-Kind-Interaktion als Mittel zur Verfügung, die ein genaues Bild vom Verhalten der Bindungspartner in der entsprechenden Situation geben kann.
Die hinter dem Verhalten liegende kognitive und emotionale Einstellung der Erwachsenen Interaktionspartner wird in der Bindungsforschung mit einem innovativen Testverfahren ausgewertet, dem „Adult Attachment Interview“ (AAI).
Das „Adult Attachment Interview“ ist ein halbstandardisiertes Interview, mit dem sowohl die kognitiven als auch die emotionalen Erfahrungen eines Erwachsenen mit seinen Bindungspersonen bewertet werden können. Das besondere des Testes ist, dass nicht die Beschreibungen der Erwachsenen über ihre frühen Kindheitserfahrungen ausgewertet werden, sondern die Kohärenz der Aussagen über diese Zeit und die heutige Einstellung gegenüber Bindung.
Es wird also bewertet, inwieweit Erwachsene logisch und zusammenhängend von ihrer damaligen und heutigen Situation berichten können. Hierbei spielt es keine Rolle, ob traumatische Erfahrungen tatsächlich gemacht wurden, sondern durch die Kohärenz der Erzählungen kann darauf geschlossen werden, inwieweit die Erfahrungen der Kindheit in der aktuellen Situation verarbeitet werden.
Hierbei gelten die kurze, zusammenhängende und logische Beschreibung der vergangenen Erfahrungen und der heutigen Einstellungen als kohärent.
Mit dem „Adult Attachement Interview“ lässt sich ein deutlicher Zusammenhang zwischen dem Bindungstyp des Kindes und der „Bindungseinstellung“ der Bezugsperson nachweisen. So gibt es Untersuchungen in denen, durch die Testung schwangerer Erstgebärender, ein Zusammenhang zwischen der Bindungseinstellung der Mütter und dem Bindungstyp des Kindes gefunden wurden. Es konnte eine Vorhersage von bis zu 80 Prozent zwischen den Aussagen der werdenden Mütter und deren Klassifikation der „Erwachsenen Bindungseinstellung“ und dem sich entwickelnden Bindungstyp des – zu diesem Zeitpunkt noch ungeborenen – Kindes gefunden werden. Hierfür wurden die Kinder zu einem späteren Zeitpunkt mit der „fremden Situation“ bewertet.
Aus dem Adult Attachement Interview konnten einige Klassifikationen von „Bindungseinstellungen“ erarbeitet werden. Diese wurden wiederum in Verbindung mit den Bindungsverhalten von Kindern in der Fremde Situation gesetzt. Dieser Forschungsgegenstand geht auf den von Bowlby eingeführten Begriff der „inner working models“ zurück, also den psychischen Auswirkungen der Bindungserfahrungen.
Siehe hierzu den Hauptartikel: Adult Attachment Interview
Bindung Erwachsener und die Auswirkungen auf die Bindungsqualität ihrer Kinder
Bestimmte Klassifikationen von Bindungsrepräsentanzen oder Bindungschemata, die bei der Durchführung des Adult Attachment Interviews gefunden wurden, konnten bestimmten Bindungstypen Ihrer Kinder zugeordnet werden, die ebenfalls in der „fremden Situation“ untersucht wurden:
Autonome Bindungseinstellung
Auch „free-autonomous“ oder mit „F“ abgekürzt. Diese Bindungspersonen werden als solche mit Selbstvertrauen, Frustrationstoleranz, Respekt und Empathiefähigkeit beschrieben. Sie sind sich der negativen wie positiven Affekte und Einstellungen gegenüber ihren eigenen Bindungspersonen bewusst und reflektieren diese in angemessener Weise und Distanz. Eine unbewusste Identifikation mit ihren Eltern zeigt sich kaum – die eigene Eltern-Kind-Beziehung wird realistisch betrachtet und nicht idealisiert. Diese Elternteile hatten zumeist selbst Bezugspersonen mit einer autonomen Bindungseinstellung oder haben ihre sichere Bindung im Laufe ihrer Biographie durch die Möglichkeit zu alternativen Beziehungserfahrungen mit anderen, nicht primären Bindungspersonen, durch einen Partner oder zum Beispiel mit Hilfe einer psychotherapeutischen Unterstützung erhalten.
Diese Eltern reagieren vorhersehbar auf ihre Kinder und können angemessen auf das Bindungsverhalten ihrer Kinder eingehen. [10]
Distanziert-beziehungsabweisende Bindungseinstellung
Auch „dismissing“ oder mit „Ds“ abgekürzt. Erwachsene mit dieser Bindungsrepräsentanz können sich kaum an ihre eigene Kindheit erinnern, was bedeutet, dass sie viel verdrängt haben. Tendenziell idealisieren sie ihre Eltern und deren Erziehungsmethoden, wenngleich keine konkreten Situationen aufgezählt werden können, welche diese Idealisierung rechtfertigen. Berichtet wird hingegen von mangelnder elterlicher Unterstützung sowie von Zurückweisung (offen oder verdeckt) der kindlichen Bedürfnisse. Die Erwachsenen mit einer distanziert-beziehungsabweisenden Bindungseinstellung verleugnen die Bedeutung ihrer eigenen Erfahrungen mit den Eltern und deren Folgen für die Färbung ihrer jetzigen Affekte. Sie zeigen ein sehr großes Unabhängigkeitsbestreben und verlassen sich lieber auf die eigene Stärke. Sie formulieren, die fehlende Hilfe nicht vermisst zu haben und diesbezüglich auch keine Wut oder Trauer zu verspüren. Kinder dieser Erwachsenen können eher mit affektiver Unterstützung und Einstellung auf ihre Bedürfnisse rechnen, wenn sie versuchen, eine Aufgabe zu bewältigen. Die Kinder werden früh unter Leistungsdruck gesetzt. Den Ergebnissen des „Adult Attachment Interviews“ zufolge, gefällt es diesen Müttern, wenn die Kinder Anhänglichkeit zeigen. Allerdings neigen sie dann dazu, das Kind zu ignorieren, wenn es Beruhigung und Unterstützung braucht. [10]
Präokkupierte, verstrickte Bindungseinstellung
Auch „entangeld-enmeshed“ oder mit „E“ abgekürzt. Diese Einstellung haben häufig Menschen, welche von den Erinnerungen an die eigene Kindheit flutartig überschüttet und permanent belastet sind. Die Probleme und Schwierigkeiten innerhalb der Beziehung zur eigenen Bindungsperson konnten sie nicht verarbeiten; sie überbewerten sie und pendeln zwischen Gefühlen wie Wut und Idealisierung hin und her. Letztlich stehen sie noch immer in einer Abhängigkeitsbeziehung zu den eigenen Bindungspersonen und sehnen sich nach deren Zuwendung und Wiedergutmachung. Die Mütter von Menschen mit dieser Bindungsrepräsentanz waren in den häufigsten Fällen „schwach“ und „inkompetent“ und konnten dementsprechend in Bedrohungssituationen, in denen ihre Kinder das Bindungssystem aktivierten, weder Schutz noch Beruhigung bieten. Kann die Mutter (oder entsprechende Bindungsperson) die Angst ihres Kindes nicht beseitigen, kommt es zu vermehrtem Anklammern. Die Ablöseprozesse beim Kind werden auch deshalb als besonders erschwert gesehen, weil die „schwache“ Mutter das Kind häufig parentifiziert und es daher schließlich das Gefühl hat, die Mutter versorgen zu müssen. Kindern solcher Eltern wird durch Verwöhnung und/oder durch das Hervorrufen von Schuldgefühlen verwehrt, sich explorativ zu verhalten und Wut, Aggressionen, Trotz und Unabhängigkeitsbestreben zu zeigen. Dadurch ist die Identitätsentwicklung der Kinder erschwert. [10]
Von unverarbeitetem Objektverlust beeinflusste Bindungseinstellung
Auch „unresolved“ oder mit „U“ abgekürzt. Bindungspersonen, die unter einem unverarbeiteten Trauerprozess leiden oder nicht verarbeitete Erfahrungen von Misshandlung oder sexuellem Missbrauch erlebten, haben sehr häufig Kinder des desorganisierten Bindungstyps. Als Erklärung dient die Annahme, dass Bindungspersonen, welche unter Traumatisierungen leiden, keinen Schutz bieten können, bei ihren Kindern jedoch verhältnismäßig oft das Bindungsverhalten aktivieren, da sie ausgeprägte Furcht vor einem Grauen zeigen, welches für das Kind nicht greifbar ist. Wenn die traumatisierte Bindungsperson das Kind unter Umständen misshandelt, missbraucht, permanent beschämt etc., wird sie nicht zu einer vor Gefahren schützenden Instanz für das Kind, sondern selbst zu einer Quelle der Angst und Gefahr. Auch hier kommt es häufig zu einer Parentifizierung der Kinder durch ihre Eltern. Mütter mit einer Bindungsrepräsentanz dieses Typs überlassen ihren Kindern die Führung in der Beziehung in ungewöhnlichem Ausmaß. Generationsgrenzen werden überschritten und die Kinder fühlen sich in der Pflicht, ihre Eltern zu versorgen und ihr psychisches wie auch physisches Wohl zu sichern. [10]
Nicht klassifizierbarer Bindungstyp
Innerhalb der Untersuchungen zum AAI wird diskutiert, eine weitere Kategorie für nicht zuzuordnende Erwachsene zu schaffen. Diese wird zumeist als Cannot classify (CC) bezeichnet. Dieser ist gekennzeichnet durch:
- Der Proband wechselte im AAI zwischen distanziertem und präokkupiertem Bindungstyp, ohne dass eine klare Strategie zu erkennen war.
- Meist stellten die Untersuchten schwerwiegende traumatische Erfahrungen dar.
- Sie zeigten häufig zutiefst negative Einstellung gegenüber Bindung.
- Sie verfügten über unvereinbare Denk- und Verarbeitungsstrategien. [10]
Zusammenhänge zwischen der Bindung Erwachsener und kindlichen Bindungstypen
Wie zu erwarten zeigten sich bei der Untersuchung sowohl der Eltern als auch der Kinder statistische Zusammenhänge, welche die Bedeutung der Bindungsrepräsentanzen bei den Eltern für die Entwicklung von bestimmten Bindungstypen bei den Kindern haben.
- Autonom klassifizierte Eltern hatten häufiger sicher gebundene Kinder.
- Beziehungsabweisende (Distanzierte) eher vermeidend gebundene Kinder.
- Verstrickte Eltern eher ambivalente Kinder.
- Eltern, die unter einem unbewältigten Trauma leiden haben vermehrt desorganisierte gebundene Kinder.
Hierbei liegt die Übereinstimmung der Ergebnisse besonders hoch bei der sicher gebundenen Gruppe. Autonome Eltern haben mit 75 bis 82 Prozent sicher gebundene Kinder. Die anderen Gruppen liegen etwas darunter.[15]
Modifikation des Konzepts Bowlbys in der neueren Forschung
John Bowlby vertrat auf der Grundlage seiner empirischen Befunde strikt die These, dass für den Aufbau einer stabilen Bindung die Beziehung des Kindes zu einer zentralen Bindungsperson (normalerweise die Mutter) konstitutiv sei. Neuere Forschungen haben zu der Auffassung geführt, dass Kindern ein solcher Bindungsaufbau auch dann gelingt, wenn gleichzeitig Beziehungen zu mehreren Bindungspersonen bestehen. [16] [17] [18] [19]
Dies betrifft in erster Linie eine Aufwertung der Bedeutung des Vaters, ist aber auch in solchen Konstellationen von Bedeutung, wo im Falle berufstätiger Mütter neben die leibliche noch eine Pflegemutter tritt, zu der Kinder oft intensive Beziehungen aufbauen. Hierbei wird jedoch beobachtet, dass das Kind eine deutliche Unterscheidung zwischen den verschiedenen Bindungspersonen vornimmt, indem es ihnen unterschiedliche Funktionen zuordnet (z.B. bleibt die leibliche Mutter häufig die zentrale Bindungsperson, an die das Kind sich vorrangig wendet, wenn es sich schlecht fühlt). [10]
Interessanterweise scheinen selbst sehr kleine Kinder in der Lage zu sein, die Bindung zu einer Tagesmutter in einer Kindertagesstätte auf einen funktionalen Aspekt zu reduzieren, sofern sie zu ihren primären Bindungspersonen eine sichere Bindung aufgebaut haben. Als Indiz für diese Annahme dient die Beobachtung, dass sicher gebundene Kinder ihr Verhalten in der Kindertagesstätte nicht oder nur geringfügig ändern, wenn sie es mit einer anderen als der gewohnten Betreuungsperson zu tun haben. Gerade bei der Eingewöhnung der Kinder in die anfangs ungewohnte Situation in einer Kindertagesstätte zeigt sich zugleich die Richtigkeit von Bowlbys Konzept einer primären Bindungsperson: Die Eingewöhnung gelingt nachweislich besser, wenn das Kind in der Anfangsphase von der Mutter begleitet und somit schonend in die neue Situation eingeführt wird. [10]
Auch zeigte sich, dass nicht die Quantität der Beziehung zu einer oder mehreren Bezugspersonen ausschlaggebend für die Entwicklung einer bestimmten Bindung ist, sondern die Qualität. Bowlby nahm an, dass die ständige Verfügbarkeit der Bezugsperson in den ersten Lebensjahren unabdingbar ist, damit das Kind eine sichere Bindung entwickeln kann. Die Entwicklung der Bindung hängt aber nicht von der ständigen Anwesenheit der Bezugsperson ab, sondern von der entwickelten Qualität der Bindung. Diese Ergebnisse der Bindungsforschung hätten auch Auswirkungen auf die aktuelle Diskussion um den Besuch einer Kinderkrippe von Kleinkindern nach dem ersten Lebensjahr. [10]
Bindungsstörungen
Bowlby sah in der längeren Trennung von Kindern und ihren Bezugspersonen einen Ausgangspunkt für eine pathologische Entwicklung.
Kinder unter 3 Jahren behalten bleibende psychische Schäden, wenn die Trennung länger als 2-3 Monate anhält. Erfolgt die Wiedervereinigung mit der Bezugsperson früher, verschwinden die Störungen wieder und das Kind ist in der Lage die normale Entwicklung aufzuholen. Allerdings besteht die Gefahr von verborgenen Störungen, die vielleicht erst viel später im Leben des Kindes in Erscheinung treten wie z.B. eine erhöhte Depressionsanfälligkeit. Es gibt jedoch auch Kinder, die nach viel kürzerer Trennungszeit bleibende psychische Beeinträchtigungen behalten.
Er ging davon aus, dass länger dauernde Trennungen von einer Bindungsperson einen Trauerprozess auslösen, im Zuge dessen die Trennung mehr oder weniger gut verwunden wird und der in mehreren Phasen verläuft. Ziel des Trauerprozesses ist es, die Abwesenheit der Bindungsperson zu akzeptieren. Eine normale Auswirkung der Trauer sah er in der unrealistischen Suche nach der Bezugsperson sowie in der Aggression und Wut, die sich auch stark auf die verlorene Bezugsperson richtet.
Auf Bowlbys Bindungstheorie geht auch das heute in westlich orientierten Ländern zum Standard der Kindermedizin gehörende Rooming in zurück – also die Möglichkeit, dass die Mutter während des Krankenhausaufenthaltes bei ihrem Kind bleibt.
Bindungsstörungen unterscheiden sich von den unsicheren Bindungsstilen, die als eine ungünstige Anpassung, welche im Bereich der Norm liegt, verstanden werden können. Im Fall einer Bindungsstörung zeigen sich stabile Muster, die sowohl in der Kindheit als auch im Jugendalter angewendet werden können, aber auch für den erwachsenen Menschen eine Bedeutung haben.
Einer oder mehrere Beziehungsabbrüche können bei Kindern dazu führen, generell keine engere Beziehung mehr aufzunehmen oder ein stark ambivalentes Verhältnis zu nahen Beziehungen zu entwickeln. In einem solchen Fall fallen diese Kinder dadurch auf, dass sie gar kein Bindungsverhalten zeigen. [2] [6]
Neben dem völligen Fehlen von Bindungsverhalten ist das „undifferenzierte Bindungsverhalten“ auffällig. Dies wird auch als „soziale Promiskuität“ bezeichnet. Diese Kinder unterscheiden nicht zwischen den Bindungspersonen und zeigen keine Zurückhaltung gegenüber fremden Personen. Sie verhalten sich gegenüber unterschiedlichen Personen und fremden nahezu gleich, wenn ihr Bindungssystem aktiviert wird. Zu diesen Kindern wird auch der „Unfall-Risiko-Typ“ gezählt. Diese kinder verletzen sich oft durch ausgeprägtes Risikoverhalten selbst. Auffällig ist, dass sie sich häufig nicht durch Blicke bei ihren Bezugspersonen rückversichern, ob das Erkundungsverhalten von diesen erwünscht ist („Soziales Referenzieren“). Sie entwickeln kein Verständnis für riskante Handlungen.
Als „übersteigertes Bindungsverhalten“ bezeichnet man ein starkes Klammern von Kindern. Diese sind nur in der absoluten Nähe zu ihrer Bezugsperson emotional beruhigt. Es ähnelt dem unsicher-ambivalenten Bindungsstil, ist aber stark übersteigert.
Bei einem „gehemmten Bindungsverhalten“ zeigen die Kinder eine übermäßige Anpassung, welche sich zumeist bei der Abwesenheit der Bezugsperson etwas lockert. Die Kinder können nun ihre Gefühle freier und offener zum Ausdruck bringen. Durch Gewalt in der Erziehung, oder deren Androhung zeigen diese Kinder Bindungswünsche zurückhaltend gegenüber den Bezugspersonen.
Im „aggressiven Bindungsverhalten“ eröffnen Kinder ihre Bindungsbeziehungen durch körperliche oder verbale Aggression. Dies ist ein Form des Ausdrucks von Nähewünschen. Häufig nimmt das aggressive Verhalten nach dem Aufbau einer Bindung ab. Oftmals zeigen sich die Familienmitglieder untereinander körperlich oder verbal aggressiv.
Bei dem Bindungsverhalten mit „Rollenumkehr“ zeigt sich das Kind überfürsorglich gegenüber der Bindungsperson und übernimmt für diese Verantwortung, sobald diese das signalisiert. Das Erkundungsverhalten wird dadurch eingeschränkt. Diese Kinder fürchten oft um den realen Verlust der Eltern, etwa durch Krankheit, Trennung oder Scheidung.
Bindungsstörungen können sich auch in Form psychosomatischer Störungen zeigen. Hierbei zeigen sich in besonders heftigen Fällen von emotionaler Verwahrlosung Wachstumsstörungen. Bekannt geworden ist der Hospitalismus. Bei Störungen in der Eltern-Säuglingsbeziehung kann es beim Kind zu Es-, Schrei- und Schlafstörungen kommen. (siehe auch: Regulationsstörungen im Säuglingsalter). [6]
Bindungsstörungen, insbesondere die Desorganisiert/desorientierte Bindung scheinen einen Einfluss auf die Vulnerabilitätsschwelle zu besitzen, also die Schwelle ab der ein Mensch Belastungen nicht mehr verarbeiten kann und eine psychische Störung entwickelt. Dabei wird die Anfälligkeit für psychische Erkrankungen durch eine unsicher Bindung erhöht. Eine Zuordnung von unsicheren Bindungsstilen und einer bestimmten Psychopathologie konnte bisher nicht festgestellt werden. [6]
Entwicklungsrisiken und Psychopathologie
Nachdem Bowlby und Ainsworth zunächst nur das Bindungsverhalten von „normalen“ Kindern untersuchten, konzentrierte sich die Forschung seit Mitte der 1980er Jahre auch auf die Untersuchung von Risikogruppen. Dazu gehörten z.B. die Kinder von schizophrenen oder depressiven Müttern. Außerdem wurden Eltern-Kind-Paare untersucht, in denen es nachweislich zu Misshandlungen oder Vernachlässigungen gekommen war. „Sämtliche Arbeiten stimmen dahingehend überein, dass misshandelte Kinder wesentlich häufiger unsicher gebunden sind als Kinder einer vergleichbaren Kontrollgruppe.“ [10] Eine weitere Risikogruppe scheinen sehr kleine Frühgeborene zu sein. [6]
Darüber hinaus fand man Zusammenhänge zwischen psychopathologischen Störungen im Erwachsenenalter und Bindungsstörungen. Dies vor allem bei Borderline-Persönlichkeitsstörungen, Agoraphobie, nach sexuellem Missbrauchstrauma im Kindesalter, bei Adoleszenten mit suizidalem Agieren, Depression, bei Vulnerabilität für psychiatrische Erkrankungen, Schizophrenie sowie bei Patienten mit Torticollis spasticus. Darüber hinaus wird der Einfluss von Bindungsstörungen auf Psychosomatische Erkrankungen diskutiert. [6]
Nachdem die desorganisierte „D“- (nach Main) oder ambivalent-vermeidende „A/C“-Bindung (nach Ainsworth) als Klassifizierung eingeführt wurde, konnten noch deutlichere und genauere Vorhersagen über das Bindungsverhalten gemacht werden. Vor der Einführung der neuen Bindungsklassifizierung waren viel mehr Kinder, die merkwürdige Bindungsreaktionen zeigten als sicher gebunden klassifiziert worden.
Daraufhin konnte beispielsweise festgestellt werden, dass Jungen bei gleich schwerer Misshandlung häufiger in die stärker gestörte ambivalent-vermeidende (A/C)-Gruppe klassifiziert werden mussten als Mädchen.
Bindungsforscher fanden außerhalb der „Fremde-Situation“ in der Beobachtung alltäglicher Pflege- und Spielinteraktionen heraus, dass vernachlässigende Mütter ihre Kinder wenig stimulierten und wenig auf ihre Signale reagierten, d. h. sie traten nicht in eine „normale“ Beziehungsinteraktion mit ihnen. Misshandelnde Mütter hingegen gaben sich meist große Mühe, während sie zugleich die frustriertesten Kinder hatten. Das Interaktionsverhalten wirkte kontrollierend und gelegentlich irritierend auf die Kinder. Mütter die ihre Kinder adäquat versorgten und auch nicht wegen Vernachlässigung oder Misshandlung aufgefallen waren, wurden als überwiegend sensitiv und flexibel eingeschätzt.
Eine Forschungsgruppe fand heraus, dass als vernachlässigend eingeschätzte Mütter weniger variabel und weniger „echt“ interagierten als normale. Auch sprachen sie weniger in der Babysprache. Mütter, die als ablehnend eingeschätzt wurden, interagierten restriktiver und weniger zärtlich.
Dass die Säuglinge in den ersten drei Monaten noch als normal in ihrer Interaktion eingeschätzt wurden, widerspricht der Ansicht, dass insbesondere schwierige Säuglinge Opfer von Misshandlungen würden. Spätere Verhaltensauffälligkeiten müssten so als Folge und nicht als Ursache der Misshandlung betrachtet werden. Misshandelte Kinder werden so überwiegend zu schwierigen, vernachlässigte Kinder werden überwiegend zu schwierigen oder passiven Interaktionspartnern.
Die nachträglich geschaffene, besondere Klassifizierung der desorganisierten Bindung („D“- bzw. „A/C“-Bindung) bildet also häufig traumatisierende und/oder hochgradig inkonsistente Beziehungserfahrungen ab. In Normalpopulationen sind etwa 15 Prozent desorganisiert gebunden, in misshandelten etwa 82% oder mehr. Aber auch Kinder aus Multi-Problem-Familien oder von depressiven Müttern können einen dieser Bindungstypen entwickeln. Deshalb kann nicht regelhaft von einer desorganisierten „D“-Bindung auf das Vorkommen von Misshandlungen geschlossen werden.
Das Entwickeln einer nicht sicheren Bindung ist an sich noch keine Psychopathologie. Auch die vorhersehbaren Folgen einer unsicheren Bindung, wie weniger Phantasie im Spiel oder eine kürzere Aufmerksamkeitsspanne, gelten natürlich nicht als Psychopathologie. Allerdings gilt die unsichere Bindung als disponierender Faktor. Stammen unsicher gebundene Kinder aus Hoch-Risiko-Gruppen, zeigen sie sehr häufig große Schwierigkeiten in Sozialverhalten und Impulskontrolle.
Einige Diagnosemanuale wie die ICD-10 und das DSM-IV beziehen das Konzept der Bindung in einige Diagnosen ein. Bindungsstörung, wie sie in der Bindungstheorie beschreiben werden beschreiben diese Diagnosesysteme allerdings nicht. So besteht im ICD-10, dem Diagnoseklassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation zwei direkt auf die Bindung bezogene Diagnosen:
- Reaktive Bindungsstörung im Kindesalter (F94.1)
- Bindugsstörung des Kindesalter mit Enthemmung (F94.2)
Die Reaktive Bindungsstörung beschreibt ein gehemmte Bindungsbereitschaft gegenüber Erwachsenen die von Ambivalenz und Furchtsamkeit geprägt ist. Die Bindungsstörung mit Enthemmung beschreibt ein klinisches Bild mit enthemmter, distanzloser Kontaktfreudigkeit gegenüber verschiedensten Bezugspersonen. Beide Störungen werden auf auf extreme emotionale und/oder körperliche Vernachlässigung und Misshandlung zurückgeführt. Dabei umfassen die aufgeführten Diagnosen nicht dem übergeordneten Erklärungsmodell der Bindungstheorie, welches die am beobachtbaren Verhalten und eden sozialen Belastungsfaktoren orientierten Bindungsdiagnostik. [6]
In folgenden Diagnosen des ICD-10 können bindungstheoretische Konzepte zugrundegelegt werden:
- Störung des Sozialverhaltens bei fehlenden sozialen Bindungen (F91.1)
- Störungen mit Trennungsangst des Kindesalters (F93.0)
- Störungen mit sozialer Ängstlichkeit des Kindesalters (F91.2). [20]
Die Bindungsforschung hat sich u. a. mit der Gruppe misshandelter und vernachlässigter Kinder genau auseinandergesetzt. Hieraus resultierte, dass „es mittlerweile als einer der empirisch am besten gesicherten Befunde der Entwicklungspsychologie gelten [kann], dass misshandelte Kinder ein gestörteres, insbesondere aggressiveres Verhalten im Umgang mit Gleichaltrigen zeigen als nicht misshandelte“ [10]. Diese Befunde sind für die gesamte Kindheit gesichert. Auch kann gesagt werden, dass die Folgen schlimmer sind, je früher die Misshandlung beginnt und je länger sie dauert.
Fortwährend misshandelte oder vernachlässigte Kinder zeigen neben der unsicheren Bindung mehr Probleme mit Gleichaltrigen und dem Lehrpersonal. Jedoch sind vernachlässigte Kinder insgesamt weniger aggressiv. Sie sind oft eher passiv und zurückgezogen. Mit zwei bis sechs Jahren zeigen beide Gruppen u. a. weniger Einfühlsamkeit, reagieren auf den Kummer anderer mit Aggression, sind hypermotorisch, können sich nicht konzentrieren, sind unaufmerksam und geben schnell auf, sind distanzlos oder misstrauisch und zeigen weniger Neugier- und Explorationsverhalten und sind darum weniger intelligent. Am stärksten sind die vernachlässigten Kinder betroffen. Sie zeigen die wenigsten positiven Affekte und die geringste Impulskontrolle sowie die niedrigsten IQ-Werte.
Im Erwachsenenalter zeigen sich ähnliche Ergebnisse. Erwachsene mit unsicher/gestörten Bindungsbeziehungen fühlen sich weniger sozial akzeptiert und sind erheblich depressiver. Auch zeigen sich die Folgen von Misshandlung im Erwachsenenalter durch Gewalttätigkeit, Drogenmissbrauch, Alkoholismus, Suizidalität, Angst, Depression und die Neigung zur Somatisierung.
Bei der Befragung von Frauen beispielsweise, die in ihrer Kindheit Opfer von Inzest waren, schätzten sich nur 14 Prozent als sicher gebunden ein, wohingegen 49% der Frauen in einer Kontrollgruppe sich als unsicher gebunden einschätzten.
Aus den Ergebnissen der Bindungsforschung kann also gesagt werden, dass bestimmte Formen der Interaktion einen positiven wie negativen Einfluss auf die spätere Entwicklung haben können. So haben Missbrauch oder Vernachlässigung einen besonders negativen Einfluss, der häufig eine psychische Störung auslösen kann.
Hingegen gelten aus Sicht der vorhandenen Forschungsergebnisse der Bindungstheorie stabile längere Bindungen in der Vergangenheit als wichtiger Schutzfaktor vor psychischen Störungen. Eine solche Bindungsbeziehung kann offenbar auch die Folgen von traumatischen Erfahrungen, wie sexuellen Missbrauch oder Misshandlung mildern. In therapeutischen Beziehungen können durch nachholende Bindungserfahrungen individuelle Ressourcen genutzt werden. [21]
Bindungstheorie und Psychotherapie
Schon John Bowlby stellte Überlegungen an, wie seine Theorien in der klinischen Praxis angewendet werden können. Doch wurden diese Theorien bislang kaum in die Therapie umgesetzt. Die Bindungstheorie stellt vor allem eine Grundlage für die Forschung in der Entwicklungspsychologie dar. Bowlby vermutete u.a., dass seine Beobachtung von Verhalten zu behavioristisch waren, als das sie von Psychotherapeuten von Interesse wären. Parallel zur Bindungstheorie entwickelte sich aber auch die Psychoanalyse weiter. Sie wandelte sich von einer Ein-Personen-Therapie hin zu einer Therapie, welche eine Interaktivität (also ein soziale Wechselseitigkeit) sowohl in der Entwicklung als auch in der Therapie als bedeutsam ansah. Diese Sichtweise stützt sich auch auf die empirische Säuglings- und Kleinkindforschung sowie auf die Psychotherapieforschung, welche jeweils die Wechselseitigkeit in menschlichen Beziehungen untersuchen.
In einer Psychotherapie, welche die Erkenntnisse der Bindungstheorie einschließt, würde die therapeutische Beziehung eine neue Bindungserfahrung ermöglichen. Durch die Bearbeitung von Beziehung, Veränderung der Affekte, der Konginitionen und des Verhaltens können auch Objektbeziehungen verändert werden. [6]
Bowlbys therapeutischer Ansatz für Erwachsene, den er deutlich von der klassischen Psychoanalyse unterschied, bestand darin, diesen Trauerprozess mit den auftauchenden ambivalenten Gefühlen im Beisein eines verständnisvollen Psychotherapeuten zu durchleben. Bowlby sah auch den Therapeuten dabei als Bindungsperson. Bei Kindern sah er es als bedeutende präventive Maßnahme an, sie in der frühen bis mittleren Kindheit möglichst nicht lange von den Eltern zu trennen. Sollte eine solche Trennung unvermeidlich sein, sollte den Kindern ein möglichst stabiles Umfeld geboten werden. [2]
Rezeption
Die Bindungstheorie ist heute eine etablierte Disziplin in der Psychologie. Sie findet ebenso Beachtung in der Entwicklungspsychologie, der Psychoanalyse wie in der kognitiven Psychologie. Heute wird sie vor allem in Bezug auf die innerpsychischen Vorgänge hin erweitert. Sie ist auch die Grundlage für unterschiedliche moderne psychoanalytische Theorien. Sie gilt als wichtige Grundlage der modernen Selbstpsychologie, der modernen Objektbeziehungstheorie, der Relationalen und Intersubjektiven Psychoanalyse sowie des Konzeptes der Mentalisierung.
Die Erkenntnisse aus der Bindungstheorie haben sowohl die Verhaltenstherapie als auch die psychoanalytischen Therapien beeinflusst. Auf der Grundlage der Bindungstheorie wurden aber auch eigene Therapieverfahren entwickelt, wie die Bindungstherapie nach Karl Heinz Brisch. [6]
Die Kritik [22] an ihr betrifft im wesentlichen die unklare Rolle der Temperamentsfaktoren, die im Gegensatz zu dem Merkmal der mütterlichen „Feinfühligkeit“ als Grundlage für die Entwicklung des Bindungsstil wenig beachtet wird. Martin Dornes sieht die unterschiedlichen Ergebnisse der Forschung, ob „Feinfühligkeit“ oder Temperament die Ursachen des Bindungsstils darstellen, abhängig von der Qualität der Studien. Je genauer im Rahmen der Bindungsforschung die „Feinfühligkeit“ der Bezugsperson untersucht wird, um so eher stellt sich heraus, dass sie ein Übergewicht im Vergleich zum Temperament aufweist. [10]
Einige Autoren gehen davon aus, dass der Einfluss der Erfahrungen mit der Bezugsperson im ersten Lebensjahr auf die Entwicklung des Bindungsstils nicht nachgewiesen werden kann. Auch wird die Bedeutung der kulturellen Einflüsse zu wenig beachtet.
Die Annahme der Kontinuität des Bindungsstils sei ebenfalls nicht gerechtfertigt. Hier wird von Seiten der Bindungstheorie zu wenig auf die aktuellen, interaktionellen Einflüsse geachtet.
Auch die „Fremde Situation“, eine der wichtigsten Untersuchungsmethoden wird auf ihren Gehalt hinterfragt.
Siehe auch
- Bindungsfähigkeit
- Bonding (Psychotherapie)
- Hospitalismus
- Kontingenz (Psychologie)
- Urvertrauen
- Zdenek Matejcek, Langzeitstudien der Tschechischen Kinderpsychologischen Schule über die Auswirkungen von Kinderkrippen
Quellen
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- B.Strauss, A. Buchheim, H. Kächele (Hrsg.): Klinische Bindungsforschung: Methoden und Konzepte. Schattauer, Stuttgart 2002, ISBN 3-7945-2158-7.
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Weblinks
- Bindungstheorie und Psychotherapie Vorlesung SS 2005 ao.Univ.Prof. Dr. Alfons Reiter
- Bindungstheorie für Eltern
- Mauri Fries: Die Entwicklungsdynamik früher Interaktionen – Voraussetzungen und Chancen für den Aufbau einer Bindung, in: Frühe Hilfen für Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern, Psychologischen Beratungsstelle und des Psychosozialen Dienstes der Stadt Karlsruhe, Dokumentation der Fachtagung vom 29.–30. März 2001, S. 19–25
- Video - BR-alpha: Geist und Gehirn Folge 87, „Mutter-Kind-Beziehung“
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