Biographisch-narrative Gesprächsführung

Biographisch-narrative Gesprächsführung

Die Methode der biographisch-narrativen Gesprächsführung knüpft an die empirische Forschungsverfahren des narrativen Interviews bzw. des biografisch-narrativen Interviews an, das der deutsche Soziologe Fritz Schütze im Rahmen einer Studie über lokalpolitische Machtverhältnisse Mitte der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts an der Universität Bielefeld entwickelt hat. Die im Forschungskontext entwickelten Prinzipien werden aus dem wissenschaftlichen Kontext herausgelöst und u. a. auf die professionelle Praxis der Erwachsenenbildung, der Laufbahnberatung und der Sozialen Arbeit übertragen.

Inhaltsverzeichnis

Grundlage: Narrative Interviewtechnik

Die von Fritz Schütze vorgeschlagene Technik der Interviewführung gründet auf Erkenntnissen der Sprachsoziologie, der Linguistik, der Erzähltheorie, der Ethnographie und der Volkskunde. Im Zentrum seiner Überlegungen stand die zentrale Bedeutung des Narrativen in alltagsweltlicher Kommunikation und in empirischen Forschungsprozessen.

  • Interviewpartner werden zu einer umfassenden und detaillierten Stegreiferzählung persönlicher Erlebnisse in einem vorgegebenen Themenbereich aufgefordert und nicht mit standardisierten Fragen konfrontiert.
  • Im freien Erzählen über selbsterlebte Ereignisse schälen sich subjektive Bedeutungsstrukturen heraus, die sich einem systematischen Abfragen im Interview verschließen würden.
  • Auch im Alltag spielen Erzählungen eine herausragende Rolle. Erzählungen dienen der Verarbeitung, der Bilanzierung und Bewertung von Erfahrungen, übergreifende Handlungszusammenhänge und -verkettungen werden sichtbar, subjektiver Sinn re-konstruiert.

Biographisch narrative Gesprächsführung

Die Bezeichnung „biografisch-narrative“ Gesprächsführung geht zurück auf unabhängig voneinander entstandene Arbeiten von Gabriele Rosenthal und Mitarbeiterinnen sowie Reinhard Völzke. Beide Ansätze transferieren die Forschungsmethode des narrativen Interviews auf die Praxis der pädagogischen, beraterischen und sozialen Arbeit. Beiden Konzeptionen ist gemeinsam, dass den Adressaten pädagogischen Handelns die Gelegenheit gegeben wird, eigene Erlebnisse und Erfahrungen narrativ in möglichst selbstgesteuerter Form zu rekonstruieren und zu präsentieren. Lernende, Beratungssuchende und andere Klienten werden darin unterstützt, zu ihren eigenen Deutungen ihrer Erlebnisse zu finden, mögliche vorhandene Bewertungen zu überprüfen, ihr Selbstbild zu verflüssigen und aktuellen Gegebenheiten anzupassen. Narrative Kommunikation stellt sich insofern als eine spezifische, moderne Form der Selbstreflexion dar.

Biografisch-narrative Gesprächsführung begleitet den autobiografischen Erinnerungsprozess, um die erzählende Person in der Vergewisserung ihrer persönlichen und sozialen Identität zu unterstützen. Gleichzeitig zielt diese Art der Gesprächsführung auf die Erhöhung des Fremdverstehens durch die zuhörende Person.

Das Konzept nach Rosenthal

Die Konzeption von Gabriele Rosenthal orientiert sich eng am dreiphasigen Aufbau der narrativen Interviewtechnik nach Fritz Schütze.

  • Die zu beratende Person wird durch erzählgenerierende Eingangsimpulse zur narrativen Exploration einer biografischen Haupterzählung angeregt. Sie breitet in einer möglichst selbst gesteuerten Form die eigene Lebensgeschichte vor der zuhörenden Person aus. Gefördert wird der Erzählprozess durch eine äußerst zurückhaltende Haltung der zuhörenden Person, die durch keinerlei Interventionen Einfluss auf die präsentierten Inhalte, die Vollständigkeit oder Konsistenz der Erzählung nimmt.
  • In der zweiten Gesprächsphase werden durch die zuhörende Person gezielte Fragen nach in der Haupterzählung bereits erwähnten Themen oder Ereignissen gestellt. Die erzählende Person wird auf diese Weise aufgefordert, einzelne Aspekte der Lebensgeschichte ausführlicher zu erzählen.
  • In der dritten und letzten Phase werden von der zuhörenden Person gezielt Themen angesprochen, die bisher noch nicht erwähnt wurden, die aus Sicht der zuhörenden Person aber von Interesse sind.

Da ein in dieser Weise angeleiteter Erzählprozess mehrere Stunden dauern kann, besteht ein vollständiges biografisch-narratives Gespräch häufig aus zwei bis drei Treffen.

Das Konzept nach Völzke

Die zweite in der Fachliteratur dokumentierte Konzeption der biografisch-narrativen Gesprächsführung stammt von Reinhard Völzke, der sich auf entsprechende Vorarbeiten von Michael Schibilsky beruft. Dieser Ansatz schließt ebenfalls an das auf Fritz Schütze zurückgehende biographisch-narrative Interview an, überträgt die Interviewtechnik aber – dezidierter als beim Vorgehen von Gabriele Rosenthal – auf unterschiedliche pädagogische Settings, in denen teilweise nur wenig Zeit zur Verfügung steht.

Es werden

  • Tür-und-Angel-Situationen,
  • Kontexte von Veranstaltungen und
  • dezidiert narrative Settings

unterschieden, in denen die Techniken der narrativ-biografischen Gesprächsführung jeweils entsprechend der aktuellen Situationsdefinition angewandt werden.

Teilnehmende eines Weiterbildungsseminars, Klienten einer sozialen Beratung oder andere Adressaten pädagogischen Handelns werden durch erzählgenerierende Impulse animiert, das in der jeweiligen Situation bereits angesprochene Thema oder Ereignis in Form einer selbsterlebten Geschichte zu konkretisieren.

Zentrale Gesprächstechniken sind

  • das Absenken der Erzählschwelle,
  • Anknüpfendes Nachfragen,
  • Zurückhaltung mit eigenen Bewertungen oder Bewertungen hervorrufenden Fragestellungen.

Hinweise zu den Gesprächsregeln mit konkreten Beispielen: Arbeitsblatt von Michaela Köttig und Reinhard Völzke zur Biographisch-narrativen Gesprächsführung

Biographisch-narrative Gesprächsführung versteht sich nicht als Gesprächstechnik im engeren Sinne. Das Konzept realisiert sich nicht durch das exakte Befolgen von Gesprächsregeln und Fragetechniken, sondern in der grundlegenden Haltung gegenüber dem Adressaten professionellen Handelns, wo möglich und sinnvoll in der aktuellen Interaktion einen Erzählraum zur Verfügung zu stellen. Voraussetzung sind Neugierde und authentisches Interesse am Gegenüber.

Literatur

Zum narrativen Interview

  • Jakob, Gisela (1997): Das narrative Interview in der Biographieforschung. In: Friebertshäuser, Barbara/ Prengel, Annedore (Hg.): Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft. Weinheim/München (Juventa), S. 445-458
  • Mayring, Philipp (1996): Narratives Interview. In: Mayring, Philipp: Einführung in die qualitative Sozialforschung. Eine Anleitung zu qualitativem Denken, 3. überarbeitete Auflage, München (Beltz, Psychologie Verlags Union), S. 54-56
  • Schütze, Fritz (1976): Zur Hervorlockung und Analyse von Erzählungen thematisch relevanter Geschichten im Rahmen soziologischer Feldforschung – dargestellt an einem Projekt zur Erforschung von kommunalen Machtstrukturen. In: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen: Kommunikative Sozialforschung. München, S. 159-260.
  • Schütze, Fritz (1994): Ethnographie und sozialwissenschaftliche Methoden der Feldforschung. Eine mögliche methodische Orientierung in der Ausbildung und Praxis der Sozialen Arbeit? In: Groddeck, Norbert/Schumann, Michael: Modernisierung Sozialer Arbeit durch Methodenentwicklung und -reflexion. Freiburg i. B., S. 189-297.
  • Schütze, Fritz (1995): Verlaufskurven des Erleidens als Forschungsgegenstand in der interpretativen Soziologie. In: Krüger, Heinz-Hermann/Marotzki, Winfried (Hrsg.) (1986): Erziehungswissenschaftliche Biographieforschung. Opladen, S. 116-157.
  • Wiedemann, P. M. (1986): Erzählte Wirklichkeit. Zur Theorie und Auswertung narrativer Interviews, Weinheim (Psychologie Verlags Union).

Zum Ansatz von Gabriele Rosenthal

  • Köttig, Michaela/Rätz-Heinisch, Regina (2002): „Potenziale unterstützen, Selbstverstehen fördern“ – Dialogische Biografiearbeit in der Kinder- und Jugendhilfe. In: SOZIALEXTRA. Zeitschrift für Soziale Arbeit und Sozialpolitik, 29. Jg., November 2005, S. 16-20
  • Rosenthal, Gabriele (2002): Biographisch-narrative Gesprächsführung: Zu den Bedingungen heilsamen Erzählens im Forschungs- und Beratungskontext. In: Psychotherapie und Sozialwissenschaften, Heft 4, S. 204-227.
  • Rosenthal, Gabriele (1995): Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen. Frankfurt a. M./New York.
  • Rosenthal, Gabriele/Köttig, Michaela/Witte, Nicole/Blezinger, Anne (2006): Biographisch-narrative Gespräche mit Jugendlichen. Chancen für das Selbst- und Fremdverstehen. Leverkusen.

Zum Ansatz von Reinhard Völzke

  • Nittel, Dieter/Völzke, Reinhard (1993): Professionell angeleitete biographische Kommunikation. Ein Konzept pädagogischen Fremdverstehens, in: Karin Derichs-Kunstmann/ Christiane Schiersmann/Rudolf Tippelt (Hrsg.), Die Fremde – das Fremde – der Fremde, Dokumentation der Jahrestagung 1992 der Kommission Erwachsenenbildung der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, Beiheft zum Report, Frankfurt/M.: Pädagogische Arbeitsstelle des DVV, S. 123-135, Online verfügbar im Strukturnetz Blog.
  • Völzke, Reinhard (1995): Das biographische Gespräch in der Bildungsarbeit. Zum professionellen Umgang mit alltagssprachlichem Erzählen. In: Landesinstitut für Schule und Weiterbildung: Lebensgeschichte und Politik. Erinnern – Erzählen – Verstehen. Soest, S. 23-60, Online verfügbar im Strukturnetz Blog.
  • Völzke, Reinhard (1997): Biographisches Erzählen im beruflichen Alltag. Das sozialpädagogische Konzept der biographisch-narrativen Gesprächsführung. In: Jakob, Gisela/von Wensierski, Hans-Jürgen: Rekonstruktive Sozialpädagogik. Konzepte und Methoden sozialpädagogischen Verstehens in Forschung und Praxis. Weinheim/München, S. 271-286, Online verfügbar im Strukturnetz Blog.
  • Völzke, Reinhard (2005): Erzählen – Brückenschlag zwischen Leben und Lernen. Angeleitete biografisch-narrative Kommunikation in Ausbildung und Praxis Sozialer Arbeit. In: SOZIALEXTRA. Zeitschrift für Soziale Arbeit und Sozialpolitik, 29. Jg., November 2005, S. 12-15, Online verfügbar im Strukturnetz Blog.
  • Arbeitsblatt von Michaela Köttig und Reinhard Völzke zur Biographisch-narrativen Gesprächsführung (PDF-Datei; 76 kB)

Weblinks

Siehe auch


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