Biografiearbeit

Biografiearbeit

Biografiearbeit ist ein absichtsvoller, bewusster, zielgerichteter und aktiver Gestaltungsprozess, bei dem die Biografie im Mittelpunkt steht. Biografiearbeit meint zum einen die Beschäftigung mit der eigenen Lebensgeschichte im Sinne einer biografischen Selbstreflexion. Zum anderen umfasst der Begriff die Anleitung und Gestaltung des biografischen Arbeitens mit Individuen und Gruppen.[1]

Inhaltsverzeichnis

Ziele

Das vom US-Amerikaner Robert N. Butler entwickelte Konzept einer Lebensrückschau (life-review) besagt, dass viele Menschen mit zunehmendem Alter den Wunsch verspüren, dem vergangenen Leben einen Sinn zu geben. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit kann persönliche Sicherheit geben, das Selbstvertrauen stärken und dabei helfen, die schwierigen Situationen des Älterwerdens besser zu bewältigen. Eine Beurteilung der erlebten Vergangenheit aus nachträglicher Sicht kann zu einer Integration der Biografie führen. Jene Diskrepanz, welche sich aus einem damaligen Wollen und dem tatsächlichen Lebenslauf ergibt, wird aufgehoben oder zumindest geringer. Drei Ziele der Biografiearbeit sind erkennbar:

  • Stärkung autobiografischer Kompetenzen:
    • Fähigkeit erwerben, sich mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen;
    • Mut zum Erzählen vermitteln;
    • Gedächtnisinhalte der älteren Generationen als verborgene Schätze wahrnehmen.
  • Rekonstruktion der Lebensgeschichte des Einzelnen:
    • individuelle Geschichten wiederbeleben;
    • ganzheitliches Verständnis für die eigene Biografie erlangen.
  • Integration der Lebensgeschichte:

Methoden

Bei der Biografiearbeit werden die drei typischen Formen der Zeit einbezogen:

  • Erinnerung an die Vergangenheit als Lebensbilanz.
  • Begleitung in der Gegenwart als Lebensbewältigung.
  • Perspektive für die Zukunft als Lebensplanung.

In der Biografiearbeit geht es bezüglich der drei Zeitformen um eine Bilanzierung von Lebensleistungen, um eine Integration von Lebenserfahrungen in ein aktuelles Selbstbild und um eine Entscheidungsfindung zukünftiger Aktionen hinsichtlich einer Lebensplanung. Dieses zeitliche und methodische Paradigma verfolgt das Ziel, ein individuelles Kohärenzgefühl herauszubilden.[2] Kohärenz bedeutet in diesem Kontext, dass die persönliche Identität als eine in sich zusammenhängende Einheit empfunden wird.[3]

Es werden zwei Vorgehensweisen unterschieden:

  • Zur gesprächsorientierten Biografiearbeit zählen Einzel- und Gruppengespräche, welche zu vorgegebenen Themen angeboten werden. Es können Themen wie z. B. Feste, Feiertage, Schulzeit, Familienleben behandelt werden.
  • Die aktivitätsorientierte Biografiearbeit zeichnet sich durch eine aktive Tätigkeiten aus. Beispiele sind das Singen bekannter traditioneller Lieder mit anschließendem Gespräch, Museumsbesuche, handwerkliche Aktivitäten, Basteln. Auch das Ausführen alltäglicher Handlungen, z. B. Tisch decken, kann dazugehören.

In beiden Arbeitsweisen können Familienangehörige einbezogen und Techniken der systemischen Therapie eingesetzt werden wie klientenzentrierte Gesprächsführung, aktives Zuhören und Familienaufstellung. Eine alternative Technik ist die biographisch-narrative Gesprächsführung, die sich aus der qualitativen Forschungsmethode des narrativen Interviews entwickelt hat. Die in der Biografieforschung entwickelten kommunikativen Regeln werden auf diese Weise auf eine professionelle Biografiearbeit übertragen.

Ein weiterer methodischer Ansatz ist die Entwicklung des jeweiligen Lebenslaufs in einer ganzheitlichen Betrachtungsweise. Hierzu können biografischen Daten aus einzelnen Lebensbereichen gesammelt werden:

  • Soziale Situation: Familienverhältnisse, wichtige Bezugspersonen, gesellschaftliche Beziehungen, Einkommen und Vermögen.
  • Kulturbiografie: kulturelle Herkunft; persönliche Traditionen; z. B. Ess-, Wohn-, Freizeitkultur
  • Körper- und Öko-Biografie: der eigene Körper; Wege zur Sexualität; Natur; Umwelt; Stadt/Land; Kindheit
  • Mytho-Biografie: mythologische Elemente; Religion; Spiritualität; Gottesbilder
  • Persönlichkeits-Biografie: Kognition; Emotion; Verhalten; Bewältigung
  • Bildungs- und Lern-Biografie: formal: Schule; Schulpflicht; Studium; funktional: z. B. angeeignetes Wissen; Techniken; Tanzkurse

Anwendungsfelder

Soziale Gerontologie

Im Bereich der sozialen Gerontologie ist die Biografiearbeite eine angewandte Methode, die mit Hilfe biografischer Elemente auf spielerisch-künstlerische Art und Weise eine Vielzahl von Erfahrungen, Begegnungen, Erfolgen, Misserfolgen, Trennungen, Krankheiten und anderen Ereignisse untersucht, um einen möglichen inneren Zusammenhang aller Ereignisse entdecken zu können.

Mit dem Alter, besonders bei Demenz, nimmt das Erinnerungsvermögen ab. Biografiearbeit ist dann ein Schlüssel zu noch vorhandenen Fähigkeiten, die es bewusst zu fördern gilt, um sie noch möglichst lange zu erhalten. In der Vergangenheit war die Altenhilfe nämlich auf das ausgerichtet, was ein alter Mensch nicht mehr kann. Dieser defizitäre Ansatz soll von einer aktivierenden Pflege abgelöst werden: Der Fokus wurde vermehrt darauf gerichtet, was der alte Mensch kann, welche Kompetenzen er noch hat. Es stellt sich die Frage: Wie wurde der Mensch zu dem was er ist? Um dieser Frage nachzugehen, müssen möglichst vielfältige Informationen aus der Biografie eines alten Menschen gesammelt werden, um methodisch einen Lebenslauf zu entwickeln.

In diesem Zusammenhang kann es förderlich sein, visuelle Anreize zu schaffen: Beispielsweise können sichtbare Erinnerungsecken mit vertrauten Objekten (Mobiliar, Familienbilder, bibliophile Bücher, Lebenskiste) die Erinnerungen wachhalten, zurückrufen und eine Verständigung erleichtern.

Weitere Anwendungsfelder

Biografiearbeit kann auch im Bereich der Arbeit mit psychisch kranken Menschen oder Menschen mit geistiger Behinderung wichtige Akzente zur Spurensuche und Stärkung des Identitäts-Gefühls des Betroffenen setzen. Es gibt außerdem Ansätze biografischen Arbeitens mit Menschen mit Migrationshintergrund. Auch junge Menschen können bereits Partner biografischen Arbeitens sein.

Eine Person, deren Tätigkeit bei den hier genannten Zielgruppen liegt, kann für sich selbst die Biografiearbeit anwenden, um speziell das eigene Helfermotiv oder allgemein die Motivation zur Berufswahl erkennen zu können. Gerade für den Wechsel von Nähe und Distanz in professionellen Beziehungen (Sozialpädagogik, Sozialarbeit, Pflege) bringt Biografiearbeit oftmals einen Erkenntnisgewinn, der die Sichtweise auf die eigene Tätigkeit positiv beeinflusst. So lassen sich emotionale Blockaden rational erkennen, beispielsweise eine Übertragung, die in diesem Satz zum Ausdruck kommt: Nun weiß ich, an wen der Klient mich erinnert. An meinen Onkel väterlicherseits, den ich nie so wirklich habe leiden können.

Spezielle Kritik

Kritik an dem Begriff Biografiearbeit wird aus zwei Richtungen vorgetragen: Berufsfeldbezogen die fehlende Konsequenz der Umsetzung und wissenschaftstheoretisch die mangelnde Fundierung oder scheinbare Therapiebezogenheit.

Anwendungsfeld Altenpflege

Eine vom Ansatz her richtigen Einbeziehung der Biografiearbeit in die Pflege wird nicht alternativ gesehen, sondern es werden einzelne Schritte für die Pflegeplanung benannt. Im Berufsalltag fehlt häufig eine stringente Begründung für die Notwendigkeit einer Biografiearbeit: Soll sich das Pflegepersonal mit Aufgaben befassen, die scheinbar zusätzlich als angenehm oder hilfreich angesehen werden, wenn bereits Grundbedürfnisse wie regelmäßige Nahrungsaufnahme, Sozialkontakte und Bewegung zu kurz kommen, weil Finanzierungen nicht gesichert sind. Diese Argumentation verlangt nach einer Handlungsanweisung bezogen auf einen definierten Nutzen, der im Rahmen der vorgeschriebenen Qualitätssicherung erforderlich ist.

Evaluation

Der Begriff Biografiearbeit postuliert den greifbaren Nutzen einer Beschäftigung mit der Lebensgeschichte, welcher weder für pflegerisch/medizinisches Personal noch für die betroffenen Personen durch eine Evaluation nachgewiesen wurde. Die Kritik relativiert die Forderung nach einem erheblichen Zeitaufwand an einer Stelle, wo bereits wenige, einfach zu sammelnde Informationen für eine beiderseits befriedigende Kommunikation sorgen könnten. Damit akzeptiert diese Kritik das Prinzip einen aus der Lebensgeschichte her begründeten und unterschiedlich hohen Pflegeaufwand, der allerdings klarer definiert werden sollte.

Literatur

  • Herbert Gudjons, Marianne Pieper, Birgit Wagener-Gudjons: Auf meinen Spuren. Das Entdecken der eigenen Lebensgeschichte. Vorschläge und Übungen für pädagogische Arbeit und Selbsterfahrung. Völlig neu bearbeitete und aktualisierte Auflage. Klinkhardt, Bad Heilbrunn 2008 (Erstausgabe als rororo 8304, Reinbek bei Hamburg 1986, ISBN 978-3-7815-1600-7.
  • Christina Hölzle, Irma Jansen (Hrsg.): Ressourcenorientierte Biografiearbeit. Grundlagen - Zielgruppen - Kreative Methoden. VS Verlag, Wiesbaden 2009, ISBN 978-3-531-16377-2.
  • Hubert Klingenberger: Lebensmutig. Vergangenes erinnern, Gegenwärtiges entdecken, Künftiges entwerfen. Don Bosco, München 2003, ISBN 978-3-7698-1426-2.
  • Hubert Klingenberger: Lebenslauf. 365 Schritte für neue Perspektiven. Don Bosco, München 2007, ISBN 978-3-7698-1629-7
  • Birgit Lattschar, Irmela Wiemann: Mädchen und Jungen entdecken ihre Geschichte. Grundlagen und Praxis der Biografiearbeit. 3., korrigierte Auflage. Juventa, Weinheim / München 2008, ISBN 978-3-7799-1777-9.
  • Caroline Osborn, Pam Schweitzer, Angelika Trilling: Erinnern. Eine Anleitung zur Biographienarbeit mit alten Menschen. 2., revidierte Auflage, Lambertus, Freiburg im Breisgau (Juli) 2011, ISBN 978-3-7841-1963-2 (Erstausgabe 2010, ISBN 978-3-7841-0932-9)
  • Franziska Rieder, Klaus Schneider: myPROfile - Leitfaden zur biographischen Reflexion. Inter-Actions, Luxemburg 2011 ISBN 978-2959973383.
  • Stefan Rogal: Biographikum. Impulse zur pädagogisch-biografischen Reflexion. Diplomica, Hamburg 2009, ISBN 978-3836673310
  • Hans Georg Ruhe: Methoden der Biographiearbeit. Lebensspuren entdecken und verstehen. 4. Auflage. Beltz, Weinheim 2008, ISBN 3779920697
  • Tony Ryan, Rodger Walker: Wo gehöre ich hin. Biografiearbeit mit Kindern und Jugendlichen (Originaltitel: Life story work, übersetzt von Birgit Lattschar). 4. Auflage, Juventa, Weinheim / München 2007, ISBN 978-3-779-92031-1.
  • Beate Wolf, Thomas Haubold: Daran erinnere ich mich gern! Ein Bilder-Buch für die Biografiearbeit. 2009, ISBN 978-3-899932-02-7.

Weblinks

Quellen

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Christina Hölzle: Gegenstand und Funktion von Biografiearbeit im Kontext Sozialer Arbeit. In: Christina Hölzle u. Irma Jansen (Hrsg.): Ressourcenorientierte Biografiearbeit. VS, Wiesbaden 2009, S. 31.
  2. Christina Hölzle: Bedeutung von Ressourcen und Kreativität für die Bewältigung biografischer Herausforderungen. In: Christina Hölzle u. Irma Jansen (Hrsg.): Ressourcenorientierte Biografiearbeit. VS, Wiesbaden 2009, S. 71.
  3. Brockhaus: Philosophie. Mannheim u. Leipzig 2004, Lemma Kohärenz.

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